9.2. Die Familie der metallarmen Sterne

Um gezielte wissenschaftliche Fragestellungen zum Ursprung der Elemente, den dafür verantwortlichen Nukleosyntheseprozessen und der chemischen Entwicklung beantworten zu können, müssen detaillierte Häufigkeitsmuster vieler metallarmer Sterne erhältlich sein. Die Häufigkeitsmuster bestehen dabei aus den Verhältnissen der verschiedenen Elemente zueinander, die in einer Häufigkeitsanalyse ermittelt wurden.

Schauen wir uns also die Hauptgruppen der metallarmen Sterne mit ihren charakteristischen Häufigkeitsmustern etwas genauer an. Während die meisten der metallarmen Sterne ein für Halosterne typisches Häufigkeitsmuster besitzen, zeigen etwa 10% eher ungewöhnliche Muster. Es sind besonders diese Ausnahmen, die uns viele Details über das Leben der ersten Sterne und ihre Supernovaexplosionen lehren. So können z.B. die Masse und die Explosionsenergie der ersten Sterne eingegrenzt werden und Erkenntnisse zur Mischung der neu synthetisierten Elemente im interstellaren Medium gewonnen werden.

Aber letztlich erzählt jede dieser Gruppen ihre eigene Geschichte und lehrt uns ein anderes, neues Detail über die frühesten Phasen der Elementsynthese und den Ort, wo diese stattgefunden haben könnten. Erst dann können die Ergebnisse vor dem Hintergrund der chemischen Entwicklung mit verschiedenen Simulationen zum Aufbau und zur Entwicklung unserer Galaxie verglichen werden.

Gewöhnliche metallarme Sterne

Wie der Name schon andeutet, bilden »normale« metallarme Sterne mit etwa 90% die größte Gruppe. Bei diesen Objekten haben die Metalle ein Häufigkeitsmuster, das dem der Sonne sehr ähnlich ist. Der einzige Unterschied ist, dass die absoluten Häufigkeiten der einzelnen Elemente – entsprechend der Sternmetallizität – sehr viel niedriger als die der Sonne ausfallen. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen eines gewöhnlichen metallarmen Halosterns ist eine charakteristische Anreicherung von α-Elementen (Magnesium, Titan, Kalzium) im Vergleich zu Eisen von [α/Fe] ~ 0,4. Dieses Merkmal unterscheidet einen Halostern von anderen Sternen wie z.B. denen der galaktischen Scheibe.

Diese Gruppe von Sternen beschreibt den groben Verlauf der chemischen Entwicklung der Milchstraße am besten, da ihre Häufigkeiten die Hauptnukleosyntheseprozesse und deren jeweilige Beiträge dazu über längere Zeiträume hinweg widerspiegeln.

Kohlenstoffreiche Sterne

Kohlenstoffhäufigkeiten können in fast allen metallarmen Sternen gemessen werden. Die Kohlenstoffproduktion geschieht im Heliumbrennen, unabhängig von der der meisten anderen Elemente mit Ausnahme von Stickstoff und Sauerstoff.

Die Absorption des Kohlenstoffs wie auch die von Stickstoff und Sauerstoff kann in Spektren von metallarmen Sternen meist nur in Form von Hydriden detektiert werden. Dies sind die Moleküle CH, NH und OH. Anstatt einzelner Absorptionslinien manifestiert sich die Absorption durch Moleküle in einer ganzen Reihe von eng beieinanderliegenden und sich überlappenden Linien. So werden größere Absorptionsbänder gebildet, die manchmal über mehr als 10 Å verlaufen. Ein Beispiel ist das sogenannte G-Band des Kohlenstoffhydrids bei ~ 4300 Å. Es kann in Abbildung 9.1 in den Spektren mehrerer Sterne deutlich gesehen werden. Ist der Stern sehr kohlenstoffreich, können manchmal auch Signaturen von C2 bei 5200 Å oder CN um 3800 Å und in Sternen mit höheren Metallzititäten sogar atomarer Kohlenstoff um ~ 9070 Å herum gefunden werden.

Abb. 9.1: Spektren mit einer mittleren Auflösung von Sternen mit verschiedenen Kohlenstoffhäufigkeiten. Die Spektren wurden mit dem 2,3 m-Teleskop am Siding Spring-Observatorium aufgenommen. Die Ordinate gibt die Photonen-Counts des jeweiligen Spektrums an.

Bei der Arbeit mit metallarmen Sternen fällt deswegen eines schnell auf: Kohlenstoffüberhäufigkeiten tauchen in allen Untergruppen und in allen möglichen Kombinationen von Elementmustern auf. Etwa 20% der Sterne mit [Fe/H] < –2 haben zehnmal mehr Kohlenstoff als Eisen, also [C/Fe] > 1. Dies ist wesentlich höher als das, was die meisten normalen metallarmen Population-II-Sterne im Halo der Milchstraße zeigen. Darüber hinaus haben unzählige Sterne geringere Kohlenstoffüberhäufigkeiten von [C/Fe] = 0,5 bis 1,0. Weiterhin steigt der Anteil dieser kohlenstoffreichen Sterne mit absteigender Metallizität an: Die Chance, dass einer der metallärmsten Sterne kohlenstoffreich ist, ist dementsprechend groß. Drei der vier bekannten metallärmsten Sterne mit den niedrigsten Eisenwerten sind vergleichsweise extrem kohlenstoffreich.

Eine wichtige Frage bleibt aber, wo dieser Kohlenstoff denn nun herkommt. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wurde er der Gaswolke zugesetzt, bevor die metallarmen Sterne gebildet werden konnten, oder der Stern erhielt den Kohlenstoff zu einem späteren Zeitpunkt von einem Begleitstern in einem Doppelsternsystem durch Massentransfer. Wie in Kapitel 5 erläutert, erklärt die zweite Idee die Entstehung der kohlenstoffreichen s-Prozess-Sterne. Die Anreicherung der Geburtsgaswolke ist wahrscheinlich die beste Erklärung für die Gruppe von kohlenstoffreichen metallarmen Sternen, deren Elementhäufigkeitsmuster in allen Elementen außer Kohlenstoff dem eines ganz normalen Halomusters entspricht.

Im frühen Universum muss Kohlenstoff also viel in den Population-III-Sternen produziert worden sein. Der auffallende Kohlenstoffreichtum besonders unter den metallärmsten Sternen deutet auf eine spezielle Rolle des Kohlenstoffs im frühen Universum hin. Sicher ist, dass das Element mit seinen Kühlungseffekten einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der ersten massearmen Sterne im Universum geliefert hat. Wenn auch die Details noch nicht ausreichend verstanden sind, ermöglichen uns die kohlenstoffreichen Sterne doch, viele Aspekte der Anreicherungsprozesse des interstellaren Mediums und generell der Kohlenstoffnukleosynthese in massereichen Sternen der frühesten Generationen zu studieren.

Der Ursprung der Kohlenstoffüberhäufigkeiten in Sternen mit [Fe/H] < –3,0 ist nach wie vor ein aktuelles Forschungsthema. Im Jahr 2005 nahm ich deswegen an einer Konferenz teil, bei der während der gesamten Woche nur über die Rolle von Kohlenstoff im frühen Universum diskutiert wurde.

Sterne mit besonderen [α/Fe]-Überhäufigkeiten

Einige Sterne zeigen ungewöhnlich hohe Magnesium- und Siliziumhäufigkeiten, die die normalen Halowerte von [α/Fe] = 0,4 weit überschreiten. Bemerkenswerterweise tritt dieses Verhalten meist in Kombination mit einer Kohlenstoffüberhäufigkeit auf. Diese Tatsache hilft sowohl die Kohlenstoffproduktion im Verhältnis zu anderen Elementen als auch die der einzelnen α-Elemente untereinander besser zu verstehen.

Sterne mit Überhäufigkeiten von Neutroneneinfangelementen

Eine Reihe von metallarmen Sternen mit [Fe/H] < –2,0 zeigt riesige Überhäufigkeiten an Neutroneneinfangelementen, die im r-Prozess oder im s-Prozess erzeugt wurden und in Kapitel 5 genauer beschrieben wurden. Darüber hinaus gibt es Sterne, deren Neutroneneinfangelemente sowohl in einem r- als auch einem s-Prozess erzeugt wurden. Die Anreicherung, die diesen Sternen vorausging, ist dadurch besonders schwierig mit Modellrechnungen zu charakterisieren.

Einen Kohlenstoffreichtum gibt es gelegentlich auch bei diesen Sternen. Im Zusammenhang mit dem s-Prozess kann der Kohlenstoffreichtum einfach nachvollzogen werden: Wenn s-Prozess-Elemente in einem Riesenstern an die Oberfläche gespült werden, werden gleichzeitig auch größere Mengen an Kohlenstoff aus dem Inneren nach außen transportiert und dann an den Begleitstern übertragen. Taucht Kohlenstoff aber z.B. zusammen mit einer r-Prozess-Anreicherung auf, ist der Ursprung des Kohlenstoffs unklar und unerklärt. Die plausibelste Lösung ist, dass der Kohlenstoff von einem Stern der vorherigen Generation stammen muss, aber nicht unbedingt auch aus der Supernova, in der der r-Prozess ablief – ansonsten kann man die r-Prozess-Sterne ohne Kohlenstoffüberhäufigkeiten nicht erklären.

Sterne mit großen Bleihäufigkeiten

Eine Untergruppe der s-Prozess-Sterne hat als Merkmal besonders hohe Bleihäufigkeiten. In metallarmen Sternen läuft der s-Prozess direkt bis zu Blei durch, so dass dieses Endprodukt in ungewöhnlich großen Mengen von mehr als der hundertfachen Eisenhäufigkeit erzeugt wird (siehe auch Kapitel 5). Diese bleireichen Sterne müssen sich allerdings in engen Doppelsternsystemen befinden, denn das Blei muss im s-Prozess des etwas massereicheren Begleitsterns synthetisiert worden sein. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das s-prozessreiche Oberflächenmaterial dann an den anderen, masseärmeren Stern übertragen.


Diese Beispiele von Sterngruppen mit überhäufigen Elementen illustrieren die chemische Vielfalt des frühen Universums und das Zusammenspiel der vielen Nukleosyntheseprozesse. Bisher kennen wir meist nur wenige Exemplare jeder Gruppe, aber im Lauf der Zeit werden sicher noch weitere solcher Ausnahme-Sterne, aber auch neue chemische Gruppen entdeckt werden. Letztendlich helfen alle Sterne das riesige Puzzle zu lösen, wie die Nukleosynthese der chemischen Elemente und die Beobachtungen metallarmer Sterne miteinander in Einklang zu bringen sind. Diese Aufgabe wird die Astronomen noch eine ganze Weile beschäftigen. Hoffentlich können die Häufigkeitsmuster dann irgendwann alle genau ihren Nukleosyntheseprozessen und astrophysikalischen Entstehungsorten zugeordnet werden.

Auf der Suche nach den ältesten Sternen
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