4.6. Vorüberlegungen zur Arbeit mit metallarmen Sternen

Auch bei der Arbeit mit metallarmen Sternen benutzen wir das Hertzsprung-Russell-Diagramm, um Informationen zum Entwicklungsstadium jedes neu zu analysierenden Sterns gewinnen zu können. In Abbildung 4.8 werden deshalb die Positionen der 130 metallärmsten Sterne (Stand 2010) in einem theoretischen Hertzsprung-Russell-Diagramm gezeigt. In der theoretischen Version wird die Schwerebeschleunigung gegen die Temperatur aufgetragen. Diese beiden Messgrößen können mit Simulationen zur Sternentwicklung berechnet werden. Dementsprechend sind solche berechneten Entwicklungswege ebenfalls in der Abbildung eingezeichnet.

Abb. 4.8: Hertzsprung-Russell-Diagramm, in welches die ~130 metallärmsten bekannten Sterne zusammen mit fünf theoretischen Kurven der Sternentwicklung, basierend auf unterschiedlichen Metallizitäten, eingezeichnet ist. Die Roten Riesen haben Oberflächentemperaturen von 5500 bis 4000 Grad Kelvin, während die Hauptreihensterne mit 5800 bis 6600 Grad Kelvin etwas wärmer sind. Alle Sterne folgen der nach links verschobenen metallärmeren Entwicklungskurve, wenn auch einige Datenpunkte abweichen. Dementsprechend sind sogenannte Fehlerbalken rechts unten eingezeichnet, die angeben, was der minimale Messfehler ist. Innerhalb der Fehler stimmen alle Datenpunkte gut mit der theoretischen Kurve überein.

Diese theoretischen Kurven, sogenannte Isochronen (nach griechisch iso = gleich, chronos = Zeit), beziehen sich auf die Entwicklungswege von Sternen mit verschiedenen Massen, die alle das gleiche Alter haben. Weiterhin können unterschiedliche Metallizitäten für die künstlichen Sternpopulationen gewählt werden. In diesem Fall handelt es sich um 12 Milliarden Jahre alte Sterne mit Metallizitäten von einem Zehntel bis zu einem Tausendstel der solaren Eisenhäufigkeit.

Die Hauptreihe ist der unten, fast waagerecht verlaufende Satz von Linien. Der Turn-off-Abknickpunkt verläuft je nach Metallizität zwischen 6000 und 6700 Grad Kelvin (etwa 5700 und 6400 Grad C). Der Riesenast verläuft von dort schräg nach rechts oben. Der Effekt der Metallizität auf die Sterntemperatur kann aus den Unterschieden der Kurven deutlich abgelesen werden. Metallärmere Sterne sind heißer, also blauer als metallreichere. Denn der Turn-off-Punkt der metallärmsten Isochrone ist erheblich nach links zu höheren Temperaturen hin verschoben. Auf dem Riesenast sind diese Unterschiede mit abnehmender Metallizität aber zunehmend weniger stark ausgeprägt.

Wie weiterhin in der Abbildung gesehen werden kann, ordnen sich alle metallarmen Sterne um den Turn-off-Punkt herum an oder befinden sich auf dem Roten-Riesenast. Wie können wir jetzt mehr über die Massen dieser Sterne herausfinden? Die Sonne hat eine Lebenserwartung von »nur«10 Milliarden Jahren, d.h., sie würde sich nach 10 Milliarden Jahren nicht mehr auf der Hauptreihe, sondern im Gebiet der Weißen Zwerge befinden. Da sich die metallarmen Sterne aber nach geschätzten 12 Milliarden Jahren immer noch am Turn-off-Punkt und auf dem Riesenast befinden, müssen sie eine geringere Masse als die Sonne haben. So kann abgeleitet werden, dass die Turn-off-Sterne wahrscheinlich etwa 0,6 und die Roten Riesen etwa 0,8 Sonnenmassen besitzen.

Abbildung 4.8 zeigt die Vielfalt der bekannten metallarmen Hauptreihensterne, der Sterne, die schon von dort abgebogen sind, sowie die Roten Riesen. Da die Hauptreihe die bei weitem längste Entwicklungsphase eines Sterns ist, würde man dementsprechend erwarten, dass die meisten bekannten Sterne Hauptreihensterne sind. Dennoch zeigt sich ein anderes Bild. Es wurden mehr Rote Riesen als Hauptreihensterne mit hochauflösender Spektroskopie detailliert untersucht. Wie kann das sein?

Diese Tatsache spiegelt einen wichtigen Auswahleffekt wider. Rote Riesen leuchten heller als Hauptreihensterne, denn sie befinden sich weiter oben im Hertzsprung-Russell-Diagramm. Dieses Verhalten ist unabhängig davon, ob der Beobachter oder der Theoretiker das Hertzsprung-Russell-Diagramm erstellt. Diese höhere Leuchtkraft bedeutet, dass ein Riese, selbst wenn weit entfernt, im Vergleich zu einem Hauptreihenstern immer noch beobachtet werden kann. Und je weiter entfernte Sterne beobachtet werden können, desto größer ist die Chance, besonders metallarme Sterne zu finden. Und das ist ja genau das Ziel der Stellaren Archäologie. Deswegen werden also wesentlich mehr metallarme Rote Riesen als Hauptreihensterne beobachtet und dann analysiert. Diese Art der Analyse wird in Kapitel 7 beschrieben.

Die Roten Riesen haben noch einen anderen Vorteil. Bei der Suche nach metallarmen Sternen muss die Sterntemperatur berücksichtigt werden. Denn bei gleicher Metallizität sind die Absorptionslinien, die im Sternspektrum gemessen werden sollen, in kühlen Roten Riesen stärker ausgeprägt als in einem wärmeren Hauptreihenstern. Das ist besonders für die metallärmsten Sterne wichtig. Denn die sowieso schon schwachen Linien versinken schnell im Rauschen und werden somit als solche unkenntlich. In einem Roten Riesen geschieht dies aber erst bei wesentlich geringeren Metallizitäten, so dass sich die Spektren dieser Objekte oft als einfacher vermessbar erweisen. Somit ist es letztendlich vielversprechender und effizienter, sich aus seiner Kandidatenliste Rote Riesen für die nächste Beobachtung auszusuchen und die Hauptreihensterne auch mal links liegenzulassen.

Die Position der metallarmen Sterne im Hertzsprung-Russell-Diagramm gibt an, in welcher Entwicklungsphase sich jeder Stern befindet. Dieses Wissen ist wichtig, um abschätzen zu können, ob die Zusammensetzung der Sternoberfläche vom Stern selbst eventuell verändert worden ist. Denn das Ziel der Stellaren Archäologie ist es, die chemischen Zustände kurz nach dem Urknall zu untersuchen. Die metallarmen Sterne dienen dabei als langfristige Träger dieses frühen Materials, denn auch heute noch gleicht ihre Oberflächenzusammensetzung der Zusammensetzung der Gaswolke zur Zeit ihrer Sterngeburt im frühen Universum. Eine direkte Konsequenz dieser zentralen Voraussetzung ist, dass alle Prozesse, die die chemische Zusammensetzung der Sternoberfläche verändern, den jeweiligen Stern für die Stellare Archäologie unbrauchbar machen. Denn dann können keine korrekten Schlüsse auf die frühzeitlichen chemischen Bedingungen gezogen werden.

Auf dem oberen Ende des Riesenastes haben die Sterne schon angefangen, Material aus ihrem Inneren durch Mischungsprozesse an die Oberfläche zu spülen. Häufigkeitsanalysen solcher Sterne zeigen diese Veränderungen in der Tat meist sehr deutlich und sind wichtig für unser Verständnis der Sternentwicklung und der dazugehörenden Nukleosyntheseprozesse. Dies sind genau die Sterne, die wir in der Stellaren Archäologie vermeiden wollen.

Es ist also eine wichtige Aufgabe festzustellen, wie weit oben ein Roter Riese auf dem Riesenast denn nun sitzt. Die Position eines Sterns im Hertzsprung-Russell-Diagramm wie das in Abbildung 4.8 hilft dabei. Im Gegensatz zu noch kühleren Riesen sind alle dortigen Roten Riesen von dieser »Selbstanreicherung« der Oberfläche erst wenig betroffen. Aus diesem Grund sind Sterne, die in ihrer Entwicklung noch nicht so weit vorangeschritten sind, für die Stellare Archäologie am besten: Hauptreihensterne und nicht zu kühle Rote Riesen.

Neben dem internen Mechanismus der Oberflächenveränderung gibt es aber auch externe Möglichkeiten, die die Zusammensetzung einer Sternoberfläche verändern können. Sowohl Hauptreihensterne wie auch Riesen sind davon betroffen, und das Hertzsprung-Russell-Diagramm kann da nicht mehr weiterhelfen. Das Aufklauben kleinster Mengen von interstellarem Gas während der langen Lebensdauer eines Sterns ist durchaus möglich, würde seine Atmosphäre aber chemisch verunreinigen. Zum Glück haben metallarme Sterne im Halo der Milchstraße relativ hohe Geschwindigkeiten im Vergleich zum Gas, so dass das Aufsammeln von Materie extrem schwierig ist. Aus einem schnell fahrenden Auto heraus kann man wohl kaum etwas vom Straßenrand aufsammeln, während man z.B. beim Gehen einfach etwas mitnehmen könnte. Dementsprechend stellen diese beiden Überlegungen kein größeres Problem für die Stellare Archäologie dar.

Schließlich findet innerhalb jedes Sterns über die Jahrmilliarden seines Lebens hinweg eine gewisse Sedimentation statt. Atome aus der Oberfläche, besonders in der Hauptreihenphase, können durchaus – sehr langsam natürlich – herunter in Richtung Zentrum sinken. Auch dieser Prozess kann die chemische Zusammensetzung der Oberfläche ändern, da verschieden schwere Elemente verschieden schnell sinken. Zum Glück sind diese Effekte für alle Sterne ungefähr gleich und können theoretisch auch grob quantifiziert werden.

Obwohl ein weiterer Vorgang ebenfalls zu einer Veränderung der Oberflächenzusammensetzung führt, ist ein Massentransfer zwischen Sternen in einem Doppelsternsystem die einzige Ausnahme. Denn wie in Kapitel 5 ausgeführt wird, macht dieser Vorgang den Empfängerstern für die Stellare Archäologie dennoch nicht unbrauchbar.

Auf der Suche nach den ältesten Sternen
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