7.5. Mit drei Schritten zum Erfolg
Um Stellare Archäologie zu betreiben, muss man die Nadel im Heuhaufen finden. Der Heuhaufen ist in diesem Fall der gesamte Halo der Milchstraße, und die Nadeln sind die vereinzelten, wenigen metallarmen Sterne. Wir machen uns dabei wieder zunutze, dass die ältesten Sterne nur geringe Mengen von schweren Elementen in sich tragen und dass wir ihre chemische Zusammensetzung mit Hilfe von spektroskopischen Beobachtungen bestimmen können. Nur so können diese wenigen, chemisch primitiven Sterne im riesigen galaktischen Heuhaufen tatsächlich ausfindig gemacht werden.
Im Umkreis von 100 Lichtjahren um die Sonne sind die metallreichen Geschwister der Sonne etwa um den Faktor 1000 zahlreicher als die metallarmen Halosterne, die wir suchen. Vereinfachte Modelle für die chemische Entwicklung des Halos sagen vorher, dass die Anzahl der metallarmen Halosterne mit abnehmender Metallizität stark abnimmt. Sterne mit zehnfacher Eisenunterhäufigkeit im Vergleich zur Sonne sind dementsprechend etwa zehnmal seltener als Sterne mit solarer Eisenhäufigkeit. Das bedeutet, dass in der Umgebung der Sonne nur etwa ein Stern mit weniger als 1/3000stel des solaren Eisenwertes unter 200 000 metallreicheren Halosternen zu finden ist. Je weiter man in den Halo schaut, desto größer wird die Chance, mehr als einen metallarmen Stern in einer solchen Stichprobe zu finden.
Wenn man besonders metallarme Halosterne finden will, muss man also möglichst effizient Scheibensterne und metallreichere Halosterne von metallarmen Halosternen unterscheiden können. Ansonsten hat man keine Chance, diese extrem seltenen Objekte aus der Frühzeit des Universums zu finden. Für die systematische Suche benötigt man deswegen großangelegte Himmelsdurchmusterungen, damit möglichst weite Himmelsregionen abgesucht werden können.
Die Suche nach metallarmen Sternen verläuft dann in drei Schritten, in denen nach und nach alle uninteressanten Objekte aussortiert werden. Wie beim Goldwaschen hofft man, am Ende endlich mit etwas Wertvollem nach Hause, oder besser gesagt zum Großteleskop gehen zu können. Die drei Beobachtungsschritte und die dazugehörigen Spektren mit den jeweils messbaren Linien sind in Abbildung 7.6 dargestellt.
1. Schritt: Für eine riesige Sternenstichprobe werden im Rahmen einer Durchmusterung eines größeren Himmelsareals grobe Sternspektren aufgenommen. Kandidaten für metallarme Sterne verraten sich durch eine relativ schwach ausgeprägte Kalzium K-Linie.
2. Schritt: Für die im ersten Schritt ermittelten Kandidaten werden höher aufgelöste Spektren mit Teleskopen von 2 bis 4 m aufgenommen. Anhand der jetzt wesentlich besser erkennbaren Kalzium-K-Linie entscheidet sich, ob der Stern wirklich metallarm ist. Bei diesem Schritt verlassen wir uns darauf, dass die Kalziumhäufigkeit ein guter Indikator für die Eisenhäufigkeit ist.
3. Schritt: Die vielversprechendsten Kandidaten aus dem zweiten Schritt werden mit einem Großteleskop spektroskopiert. Diese hochaufgelösten Spektren erlauben eine detaillierte Häufigkeitsbestimmung vieler Elemente.
Abb. 7.6: Die drei Beobachtungsschritte, die zum Finden von metallarmen Sternen nötig sind. Oben: Durchmusterungsspektren von zwei metallarmen Beispielsternen. Mitte: Nachbeobachtungsspektren, die die Fraunhofer-Linien Kalzium-K- und -H bei 3933,6 und 3968,4 Å abdecken. Unten: Hochaufgelöste Spektren im Bereich von 3900–4000 Å. Im Fall von HE 1327–2326 sind aufgrund der großen Eisenarmut die Eisenlinien nicht mehr sichtbar. Dafür treten Linien von molekularem Kohlenstoff auf, da der Stern sehr kohlenstoffreich ist. Außer dem oberen Spektrum sind alle Spektren normalisiert und ggf. der Ansicht wegen versetzt. Die Ordinate des oberen Spektrums gibt die Photonen-Counts des Spektrums an.
Betrachten wir die drei Schritte noch etwas genauer: Die Kandidatenauswahl für den ersten Schritt dieser langwierigen Beobachtungsstrategie basiert oft auf weitwinkligen Sternfeldaufnahmen, bei denen das Licht zunächst durch ein großes Prisma vor dem eigentlichen Teleskop läuft. Bei dieser Technik erhält man anstatt punktförmiger Sterne auf dem Foto ein Bild mit kleinen, niedrig aufgelösten Spektren an jeder Sternposition. Solange es sich bei den beobachteten Feldern um nicht zu dicht besiedelte Himmelsgebiete handelt, kann die Objektivprismen-Spektroskopie angewendet werden, denn sonst überlappen sich die allzu zahlreichen Stern- oder Galaxienspektren. Diese Art von Spektroskopie ist relativ einfach auszuführen und kann auch von erfahrenen Amateurastronomen benutzt werden. Man braucht lediglich ein genügend großes Prisma, das die Öffnung abdeckt und vor dem Fernrohrobjektiv sitzt. Bei einem Reflektorteleskop würde das Prisma noch vor der Öffnung vor dem Sekundärspiegel sitzen.
Das Ergebnis einer solchen Durchmusterung sind Spektren mit geringer Auflösung aller Objekte bis zu einer gewissen Helligkeitsgrenze in der beobachteten Himmelsregion. Trotz ihrer geringen Qualität fungieren diese Daten als ein gutes Sprungbrett für die weitere Suche, da wenigstens eine Metalllinie vermessbar ist: die extrem starke Absorptionslinie des Kalziums, die Fraunhofer K-Linie bei der Wellenlänge von 3933,6 Å, welche sich gerade außerhalb des für uns sichtbaren Wellenlängenbereichs am blauen Ende befindet. Sie kann zum Glück auch in relativ verrauschten Durchmusterungs-Spektren noch detektiert werden, selbst wenn das Objekt einen relativ niedrigen Metallgehalt aufweist und die Linie somit verhältnismäßig schwach ausgeprägt ist. Zusammen mit der Farbe eines Sterns, die seine Temperatur widerspiegelt, kann so eine erste grobe Abschätzung der Metallizität erfolgen. Farbmessungen sind in vielen Fällen für die Durchmusterungssterne vorhanden oder können durch zusätzliche photometrische Beobachtungen erhalten werden.
Die sogenannte HK-Durchmusterung war die erste sehr großflächige und gezielte Suche nach metallarmen Sternen, die in den 1980er Jahren ausgeführt wurde. Sie wurde nach den Kalzium-H- und K-Linien benannt und machte von der Objektivprismen-Spektroskopie Gebrauch. Zu Zeiten der HK-Durchmusterung waren elektronische Ausleseverfahren und computergesteuerte Auswertungstechniken noch ein Zukunftstraum. Die fotografischen Platten mussten in kalten Nächten von Hand bei Rotlicht nach jeder Belichtung ausgewechselt und das Teleskop mühsam manuell fokussiert werden, um sicherzustellen, dass keine unscharfen Spektren produziert würden. Die Auswertungen erfolgten per Augenmaß mit einem kleinen Handmikroskop, mit dem jedes Spektrum einzeln begutachtet wurde. So wurde festgestellt, ob es sich um einen Stern mit einer besonders schwachen Kalzium-K-Linie handelte. Interessante Kandidaten wurden noch auf der Platte angestrichen. Meist gab es nur eine Handvoll solcher Sterne pro Platte. Nach der Rekonstruktion der Koordinaten dieser Objekte konnten sie dann einzeln nachbeobachtet werden.
Dennoch zahlte sich diese Kleinarbeit aus. Die HK-Durchmusterung lieferte sowohl den ersten alten Halostern, für den ein Alter mit Hilfe von radioaktivem Elementzerfall bestimmt werden konnte, als auch eine große Stichprobe von Sternen mit bis hin zu 1/10 000stel des solaren Eisenwertes und den verschiedensten Häufigkeitsmustern. Viele dieser Sterne werden bis heute aufgrund ihrer interessanten chemischen Signaturen studiert. Für heutige Teleskopverhältnisse sind sie vergleichsweise hell, so dass sehr gute Daten relativ schnell aufgenommen werden können. Weiterhin war vor allem eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Metallarme Sterne sind selten, aber viele von ihnen können durch systematisches Suchen gefunden werden.
Von diesem Wissen beflügelt, wurde die Hamburg/ESO-Durchmusterung gegen Ende der 1990er Jahre auf metallarme Sterne hin untersucht. Sie war unter der Leitung von Hamburger Astronomen mit dem 1,2 m-Schmidt-Teleskop der europäischen Südsternwarte auf dem Berg La Silla in der chilenischen Atacamawüste ausgeführt worden. Das ursprüngliche Ziel dieser Durchmusterung war die Untersuchung von weit entfernten leuchtkräftigen Galaxienzentren gewesen, sogenannte Quasare. Allerdings stellten sich die Spektren später als Fundgrube für die Arbeit mit verschiedenen Arten von Sternen heraus.
Auch bei der Hamburg/ESO-Durchmusterung wurden noch fotografische Platten für die Aufnahmen der Objektivprismen-Spektren benutzt. Die Platten selbst waren etwas größer als eine Schallplattenhülle, und jede einzelne erfasste ein Feld mit einer Fläche am Himmel von jeweils 5 × 5 Grad. Zum Vergleich: Der scheinbare Durchmesser des Mondes beträgt lediglich ein halbes Grad. Die rund 350 Felder der Hamburg/ESO-Durchmusterung enthalten insgesamt vier Millionen Spektren, also ca. 10 000 Objekte pro Platte. Die fotografischen Platten mit den Objektivprismen-Spektren wurden allerdings eingescannt, so dass sie nicht mehr mit dem Mikroskop, sondern mit Computeralgorithmen systematisch untersucht werden konnten. Zudem gab es für jeden Stern Farbinformationen, was die Suche nach metallarmen Sternen in den vier Millionen Spektren wesentlich präziser und einfacher machte.
In einer so riesigen Stichprobe wie die der Hamburg/ESO-Durchmusterung befinden sich neben Sternen aller Arten auch jede Menge Galaxien, Quasare und andere exotische Objekte. Die erste Auswahl metallarmer Kandidaten können Computer mit geeigneten Suchalgorithmen treffen. Das Ziel ist es, Sterne zu unterscheiden und grob zu erkennen, ob die Kalzium-K-Linie in Abhängigkeit von der Sterntemperatur vielleicht besonders schwach erscheint. Die niedrige Auflösung der Spektren ist aber für Computer ebenso eine Herausforderung wie für menschliche Experten. Die Liste ausgewählter Kandidaten umfasst daher sowohl tatsächlich metallarme Sterne als auch diverse Fehldiagnosen. Visuelle Inspektionen der langen Kandidatenlisten aus diesem ersten Schritt sind also unverzichtbar.
Für meine Doktorarbeit bekam ich also zunächst eine solche vorselektierte Stichprobe von 5500 helleren Kandidaten. Meine erste Aufgabe war es, jedes Spektrum einzeln anzuschauen, um festzustellen, ob es sich um einen guten metallarmen Kandidaten handelt. Die Kandidatenselektion meiner Stichprobe wird noch ausführlicher in Kapitel 10 beschrieben. Diese Arbeit führte in meinem Fall nämlich zu der Identifikation von ca. 3700 Fehldiagnosen.
Allerdings gab es einen weiteren großen Unterschied zwischen der Hamburg/ESO-Durchmusterung und der HK-Durchmusterung. Die Hamburg/ESO-Sterne waren alle wesentlich schwächer, was für die Nachbeobachtungen Konsequenzen hatte. Die Beobachtung von schwächeren Sternen dauert wesentlich länger, so dass die vorhandene Teleskopzeit oft nicht ausreicht, um alle Sterne nachzubeobachten. Zudem produzierte die Hamburg/ESO-Durchmusterung sehr viele Kandidaten. Von den mehr als 7000 Kandidaten, die mit Hilfe der Computeralgorithmen und der darauf folgenden visuellen Inspektion aus den Durchmusterungsspektren ausgewählt wurden, konnten bis heute nur rund 2500 Sterne für die genauere Kalzium-Linienvermessung nachbeobachtet werden. Die nichtbeobachteten Sterne sind hauptsächlich die schwächeren Sterne. Da sie relativ lange Belichtungszeit benötigen, werden sie wohl auch unbeobachtet bleiben. Zudem würden diese Sterne noch viel kostbarere Großteleskopzeit verbrauchen, sollten sie je mit hochauflösender Spektroskopie beobachtet werden. Das Hinterlassen von zu schwach leuchtenden Sternen ist daher oft ein Kompromiss, der eingegangen werden muss, auch wenn man nie wissen wird, ob man damit vielleicht interessante Erkenntnisse verpasst hat.
Die genauere Vermessung der Kalzium-K-Linie erfordert Spektren, die von Teleskopen mit einem Spiegeldurchmesser von zwei bis vier Metern aufgenommen werden müssen. Die Absorptionslinien von Eisen sind aufgrund atomphysikalischer Eigenschaften und unabhängig von der eigentlichen Elementhäufigkeit viel schwächer ausgeprägt als zum Beispiel die starke Resonanzlinie des Kalziums, die Kalzium-K-Linie. Dementsprechend bleiben die schwachen Eisenlinien beim zweiten Schritt noch im Rauschen verborgen. Dies ist besonders bei metallarmen Sternen mit ihren schwachen Eisenlinien der Fall.
Die hochaufgelösten Spektren des dritten und letzten Beobachtungsschritts ermöglichen dann endlich die Entscheidung, wie eisen- bzw. metallarm der Stern tatsächlich ist. Um diese Spektren zu erhalten, wird das Sternlicht extrem weit aufgespalten, so dass auch sehr schwache Linien im Spektrum messbar werden. Um bei jeder Wellenlänge genügend Photonen einzufangen, erfordern diese Beobachtungen die größten optischen Teleskope der Welt mit Spiegeldurchmessern von 6 bis 10 m. Wie schon erwähnt, ist Beobachtungszeit an diesen Teleskopen teuer und schwer zu bekommen – meist nur wenige Nächte pro Jahr. Deshalb können nie alle Kandidaten beobachtet werden, und nur die metallärmsten, vielversprechendsten Kandidaten schaffen es, auch in dieser letzten Runde spektroskopiert zu werden.
Nur mit solchen hochaufgelösten Spektren können umfassende chemische Analysen der Sterne angefertigt werden. Neben Eisenlinien sind jede Menge Linien weiterer Elemente wie z.B. die von Kohlenstoff, Natrium, Magnesium, Titan, Nickel, Strontium und Barium identifizierbar. Nachdem alle diese Absorptionslinien sorgfältig auf ihre Stärke hin vermessen wurden, können die entsprechenden Elementhäufigkeiten mit Hilfe von computersimulierten Sternatmosphären berechnet und dann vor dem Hintergrund der chemischen Entwicklung interpretiert werden.
Die hochaufgelösten spektroskopischen Beobachtungen der besten und mutmaßlich metallärmsten Hamburg/ESO-Sterne bescherten dem Arbeitsgebiet der Stellaren Archäologie ein wahres Feuerwerk. Der erste Stern mit einem rekordverdächtigen Eisenwert von nur 1/150 000stel wurde gefunden, was eine regelrechte Sensation war. Nach und nach gesellten sich viele extrem metallarme Sterne dazu, unter ihnen eine ganze Reihe von seltenen metallarmen Sternen, deren Alter mit radioaktivem Thorium bestimmt werden konnte. Gekrönt wurde der Erfolg dieser Durchmusterung mit meinen Entdeckungen des zweiten Rekord-Sterns mit 1/250 000stel des solaren Eisenwertes und eines Sterns, der mit radioaktivem Uran und Thorium auf ein Alter von 13 Milliarden Jahren datiert werden konnte.