2.3. Dem Kosmos auf der Spur
Während in Deutschland und Europa in erster Linie die Quantenmechanik entwickelt wurde, wandten sich die amerikanischen Astronomen der intensiven Erforschung des Universums zu. Unter strenger Leitung von Edward Charles Pickering begann Henrietta Leavitt 1893 am Harvard College-Observatorium als eine von mehreren Frauen, wissenschaftlich für ihn zu arbeiten. Diese Frauen wurden später die »Computer« genannt, da ihre Aufgabe darin bestand, verschiedenste Arten von Berechnungen und Messungen von Himmelsbeobachtungen auf fotografischen Platten durchzuführen.
Schon vor Leavitt hatten Williamina Fleming and Antonia Maury unter Pickering an der Erweiterung von Secchis Spektralklassifikationen gearbeitet. Um 1880 war Pickering so unzufrieden mit seinen männlichen Assistenten geworden, dass er verkündete, seine Haushaltshilfe könne bessere Arbeit abliefern. So stellte er Fleming tatsächlich als wissenschaftliche Hilfskraft an. Sie enttäuschte ihn nicht, da sie aus Respekt jede ihr aufgetragene Arbeit erledigte, egal wie viel oder wenig, ob frühmorgens oder spät nachts. Daraufhin stellte Pickering weitere Frauen an, jetzt mit abgeschlossenem Studium in Physik oder Astronomie, um seine Ambitionen auf großangelegte Spektralklassifikation effizient voranzutreiben. Wissenschaftlich ausgebildete weibliche Arbeitskräfte wie Maury und Leavitt waren zu jener Zeit extrem billig und bereit, länger und härter als männliche Assistenten zu arbeiten. So bewies Pickering auf eine etwas sonderbare Art und Weise, dass auch Frauen wissenschaftlich gute Arbeit leisten konnten.
Eine von Leavitts Aufgaben bestand darin, die Helligkeit von Sternen zu katalogisieren. Dabei fand sie Tausende von helligkeitsveränderlichen Sternen in den Magellan’schen Wolken, von denen die helleren Objekte die längsten Perioden zu haben schienen. 1912 bestätigte sie dieses Verhalten mit weiteren Beobachtungen, was seit dieser Zeit als Perioden-Leuchtkraft-Beziehung bekannt ist. Eine ganz besondere Folgerung ergab sich bald aus ihrer Entdeckung. Die intrinsische Strahlungsmenge konnte für diese veränderlichen Sterne berechnet werden, und man konnte natürlich auch deren beobachtete Helligkeit messen. Wenn die Entfernung wenigstens für einige Objekte bekannt wäre, könnte die gesamte Perioden-Leuchtkraft-Beziehung für Entfernungsbestimmungen anderer veränderlicher Sterne geeicht werden.
Nur ein Jahr später gelang dem dänischen Astronomen Ejnar Hertzsprung besagte Eichung mit Hilfe helligkeitsveränderlicher Sterne in der Milchstraße. Die Grundlagen zur galaktischen und extragalaktischen Entfernungsbestimmung waren gelegt. Da zu dieser Zeit noch nicht bekannt war, dass das Universum größer als nur die Milchstraße war, bot diese Methode auf einmal die Möglichkeit zu schauen, ob es vielleicht noch etwas außerhalb der Galaxie geben könnte.
So beobachtete der Amerikaner Edwin Hubble veränderliche Sterne in verschiedenen schwachen Nebeln Nacht für Nacht mit dem 2,5 m Hooker-Teleskop auf dem Mount Wilson in Südkalifornien. Teleskopbeobachtungen waren übrigens bis Mitte der 1960er Jahre nur für Männer zugelassen, damit sie sich dort ungestört ihrer Arbeit widmen konnten. Mit der Perioden-Leuchtkraft-Beziehung für veränderliche Sterne konnte Hubble jedenfalls um 1923 zeigen, dass diese Nebel viel zu weit entfernt waren, um Teil der Milchstraßengalaxie zu sein. Diese Nebel stellten sich nun plötzlich als eigenständige Galaxien heraus, die sich außerhalb der Milchstraße befanden.
Und wieder hatten neue Erkenntnisse das Weltbild wortwörtlich um Lichtjahre erweitert. Bis dahin waren kosmischen Objekten Entfernungen von bis zu etwa 100 Lichtjahren zugesprochen worden. Mit der Entdeckung von anderen Galaxien konnten nun viele Millionen Lichtjahre weit entfernte Objekte gefunden werden. Dadurch stellte sich schließlich heraus, dass die Milchstraße nur ein relativ kleines Objekt in einem viel größeren Universum ist. Das Universum bestand von nun an aus Tausenden oder noch mehr Galaxien und nicht nur einer einzigen. Natürlich stieß auch diese Entdeckung erst einmal auf Widerspruch von anderen führenden Astronomen, besonders von Harlow Shapley von der Harvard-Universität. Dennoch setzte sich das neue Wissen durch, und der Andromeda-Nebel wurde bald zur Andromeda-Galaxie, von der wir heute wissen, dass sie unsere Schwester-Galaxie ist.
Schon 1921 starb Leavitt mit nur 53 Jahren an Krebs. Zu Lebzeiten erhielt der »Computer« wenig Anerkennung für ihre fundamentale Arbeit, die unser Verständnis vom Universum so veränderte. Als »Computer« hatte sie mit 25 bis 30 Cents pro Stunde auch nur schlecht verdient, da dies weniger als das Gehalt einer Sekretärin war. In Unkenntnis ihres Todes wäre sie 1924 fast für einen Nobelpreis vorgeschlagen worden. Da dieser Preis aber nur an lebende Personen vergeben wird, wurde sie letztendlich nie dafür nominiert.
Zur gleichen Zeit war ein weiterer »Computer« dabei, Sternspektren in einer neuartigen Weise zu klassifizieren. Die Amerikanerin Annie Jump Cannon begann nach ihrem Physik- und Astronomiestudium 1896 für Pickering zu arbeiten. Ihre Aufgabe als Astronomin war es, den Draper-Katalog, eine riesige Ansammlung von Sternspektren, zu katalogisieren und ein Klassifikationssystem zu entwickeln.
Cannon war die Erste, die Spektren nach der Temperatur der Sterne einteilte, da sie die Temperaturabhängigkeit der Stärke der Spektrallinien erkannt hatte. Ihr neues System wurde später als das Harvard-Klassifikationsschema berühmt. Sie unterteilte die Spektren unter anderem in die noch heute benutzten O-, B-, A-, F-, G-, K- und M-Klassen, die man sich mit Hilfe des Spruchs »Oh Be a Fine Girl, Kiss Me« merken kann. Sie basieren auf der Stärke der Wasserstofflinien, eines der wichtigsten Merkmale in stellaren Absorptionsspektren. O-Sterne sind dabei die heißesten (mit Oberflächentemperaturen von bis zu 50 000 Grad Kelvin), wohingegen M die kühlsten Sterne (mit manchmal nur 2000 Grad Kelvin an ihrer Oberfläche) bezeichnet. Abbildung 2.3 zeigt Beispielspektren für die verschiedenen Spektralklassen in der Form, wie sie heute benutzt werden.
Abb. 2.3: Beispiele für Sternspektren, die die heutigen Spektralklassen illustrieren. Verschiedene Absorptionslinien sind markiert. Je nach Oberflächentemperatur sind nur bestimmte Linien im Spektrum detektierbar. Mit diesen aus den Roh-Spektren (wie z.B. in Abb. 2.1 ) extrahierten Spektren wird heutzutage gearbeitet.
Die riesige Sammlung von Cannons gebundenen Notizbüchern mit den Sternklassifikationen sowie die Originalfotoplatten mit den zu klassifizierenden Spektren können auch heute noch am Harvard College-Observatorium in Cambridge, MA, eingesehen werden. Ich habe selbst einige der mit »AJC« markierten Notizbücher in der Hand gehabt. Eines war mit 19. Juli 1915 datiert, und viele Seiten mit »Samstag« gekennzeichnet – nur am Sonntag wurde nicht gearbeitet. Diese Einträge sind in Abbildung 2.4 gezeigt.
Abb. 2.4: Annie Jump Cannons Notizbucheinträge zu Sternklassifikationen am Samstag, 8. November 1913. Ihre Notizbücher können im »Plate stack«-Archiv (fotografisches Plattenarchiv) am Harvard College-Observatorium in Cambridge, MA, USA , eingesehen werden.
Cannon wurde bald weltweit für ihre Klassifikationen von mehr als 200 000 Sternen bekannt. Ihre Kataloge wurden zu Standardwerken, und sie erhielt mehrere wichtige Preise und Auszeichnungen, die ein klares Zeichen setzten, dass Frauen genauso wie Männer wissenschaftliche Spitzenleistungen vollbringen können. Unter anderem erhielt sie 1925 als erste Frau einen Ehrendoktor der Oxford-Universität und 1931 die Henry-Draper-Medaille von der US National Academy of Sciences. Sogar Harvard erkannte ihre Leistungen 1938 als vollwertig an und machte sie 75-jährig zum »William Cranch Bond Astronomer«, was dem akademischen Grad einer Professorin entsprach. Außerdem war schon 1934 der Annie J. Cannon-Award zur Ehrung von Astronominnen von der Amerikanischen Astronomischen Gesellschaft eingeführt worden, den auch Antonia Maury 1943 erhielt. Cannon publizierte verschiedene Ausgaben ihres riesigen Katalogs und seiner Erweiterungen zwischen 1901 und 1937. Ihre Arbeit wurde auch nach ihrem Tod 1941 weitergeführt.
Auf der anderen Seite des Atlantiks war es für Frauen noch deutlich schwerer, in der Astronomie wissenschaftlich arbeiten zu können. Als junge Frau in England bekam Cecilia Payne-Gaposchkin trotz eines beendeten Studiums weder einen wissenschaftlichen Abschluss, noch konnte sie als Astronomin arbeiten. Auf Anraten Harlow Shapleys wanderte sie nach Amerika aus, um dort ebenfalls am Harvard College-Observatorium als zweite Frau überhaupt unter der ermutigenden Leitung von Shapley 1925 ihre Doktorarbeit abzuschließen. Shapley hatte 1921 die Leitung des Harvard College-Observatoriums übernommen und war der Idee von Frauen in der Wissenschaft eher zugeneigt als sein Vorgänger Pickering.
In ihrer Arbeit zeigte Payne-Gaposchkin, dass die Variationen der Absorptionslinien in Sternspektren darauf zurückgehen, welcher Anteil an Gas ionisiert ist. Zudem stellte sich heraus, dass dieser Ionisationsgrad hauptsächlich von der Gastemperatur im Stern abhängig ist. Die Stärke der Spektrallinien war also ein Maß für die Temperatur im Stern und nicht, wie zuvor angenommen, für die Häufigkeiten der entsprechenden Elemente. Diese Erkenntnis kam etwa zeitgleich mit Cannons Spektralklassifizierungen auf. Somit konnten von nun an die Spektraltypen quantitativ auf die verschiedenen Sterntemperaturen zurückgeführt werden. Daraus leitete Payne-Gaposchkin ab, dass Sterne hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium bestehen und nicht, wie bisher angenommen, die gleiche chemische Zusammensetzung wie die der Erde haben. Die Häufigkeiten schwererer Elemente wie Eisen und Silizium erwiesen sich dabei als wesentlich geringer: Sie berechnete, dass die Anzahl der Atome schwererer Elemente in einem Stern ca. eine Million Mal geringer als die der Wasserstoffatome sein müsste.
Was für eine überwältigende Erkenntnis! Heute wissen wir, dass ein Stern tatsächlich zu ~71% aus Wasserstoff, zu ~27% aus Helium und zu weniger als zwei Prozent aus schwereren Elementen besteht. Schon zu meiner Schulzeit war das eines der ersten Details, die ich über Sterne gelernt habe. Der amerikanische Astronom Otto Struve hat später zu Recht Payne-Gaposchkins Dissertation als die »zweifellos brillanteste jemals in der Astronomie geschriebene Doktorarbeit« bezeichnet. Struve war von 1939 bis 1950 Gründungsdirektor des McDonald-Observatoriums in Texas. Dort habe auch ich von 2006 bis 2008 gearbeitet, und dieses Zitat wird dort noch heute weitererzählt.
Mit Payne-Gaposchkins Erfolgen war nun der Weg für weitere Frauen in der Astronomie geschaffen worden. Für ihre Arbeiten erhielt sie als erste Preisträgerin 1934 den Annie J. Cannon-Award. Dieser Preis wird auch heute noch, inzwischen jährlich, an eine junge Astronomin vergeben – 2010 habe ich diesen Preis als 41. Preisträgerin für meine Untersuchungen der chemischen Zusammensetzung von alten Sternen mit nur winzigen Spuren von Elementen, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind, und der damit verbundenen Erforschung des frühen Universum erhalten.
Genau wie Maury, Cannon und Payne-Gaposchkin habe auch ich von 2009 bis Ende 2011 an ihrer heute als Havard-Smithsonian Center for Astrophysics bekannten Arbeitsstätte gearbeitet. Allerdings hatte ich dort einen elektronischen Computer, der in meinem Büro auf dem Schreibtisch stand und diverse Berechnungen für mich erledigte. Das Harvard College-Observatorium ist ein Teil des großen Center for Astrophysics, und Bilder aller dieser frühen Harvard-Astronominnen im Flur des alten Observatoriums-Gebäudes erinnern an ihre großartigen Leistungen von vor rund hundert Jahren.
Zur gleichen Zeit als die Spektralklassifikation der Sterne durch Cannon und Payne-Gaposchkin etabliert wurde, beobachtete Hubble in Kalifornien weit entfernte Nebel und Galaxien. Mit Hilfe der Spektroskopie untersuchte er deren Geschwindigkeiten. Objekte, die sich schnell bewegen, zeigen eine Verschiebung ihrer gesamten Spektrallinien im Vergleich zu den Wellenlängen eines statischen Objekts. Diese Verschiebung wird in der Astronomie auch Rotverschiebung genannt, da die Spektrallinien von Galaxien zu größeren, also zu röteren Wellenlängen verschoben werden. So entdeckte er 1929, dass sich fast alle Galaxien von der Erde wegbewegen. Darüber hinaus stellte er fest, dass sich eine Galaxie umso schneller von uns wegbewegt, je weiter sie von uns entfernt ist. Daraus konnte geschlossen werden, dass das Universum expandiert.
Wie wir später noch sehen werden, kam diese Entdeckung gerade zur richtigen Zeit, als sich viele Wissenschaftler mit den Anfängen der Kosmologie zu beschäftigten begannen. Die Geschwindigkeits-Entfernungs-Beziehung ist immer noch eine vielstudierte empirische Größe, denn ihre Proportionalitätskonstante bestimmt die Expansionsrate und somit das Alter des Universums. Seit der Entdeckung dieser Beziehung führten Arbeiten auf diesem Gebiet über Jahrzehnte hinweg zu großen Meinungsverschiedenheiten und vielen kontroversen Diskussionen. Heutzutage ergeben die verschiedenen Methoden aber alle sehr ähnliche Ergebnisse, die weder so niedrig noch so hoch wie die umstrittenen ersten Werte sind.
Bis 1930 hatte sich in der Astronomie also viel getan. Fundamentale Eigenschaften von Sternen sowie die Existenz von Galaxien waren entdeckt worden, die ganz wesentlich zu den physikalischen Erkenntnissen der Energiegewinnung von Sternen und der Kosmologie beitragen sollten.