6.4. Sternhaufen
Die meisten Sterne, die wir am Nachthimmel beobachten können, scheinen einzeln und für sich allein zu stehen. Dennoch gibt es viele Sterne, die sich in engen, sichtbaren Gruppen am Himmel anordnen. Man nennt diese Gruppen »Sternhaufen«, die neben den Zwerggalaxien ebenfalls den Halo bevölkern. Je nach Anzahl der enthaltenen Sterne unterscheidet man zwischen offenen Sternhaufen und Kugelsternhaufen. Ein prominentes Beispiel sind die Plejaden im Sternbild Stier, die auch Siebengestirn genannt werden. Sie sind ein junger offener Sternhaufen mit einem Alter von etwa 115 Millionen Jahren, dessen sechs bis neun Hauptsterne leicht mit bloßem Auge erkennbar sind und in Farbabbildung 6.F gezeigt sind. Ein offener Sternhaufen hat »nur« bis zu einigen hundert Mitglieder, während ein Kugelsternhaufen aus bis zu einer Million Sternen bestehen kann.
Abb. 6.F
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass sich offene Sternhaufen nur in der Scheibe der Milchstraße befinden, während Kugelsternhaufen großzügig im Halo verteilt sind. Da die Mitglieder eines Sternhaufens alle aus der gleichen Gaswolke entstanden sind, haben sie alle das gleiche Alter, die gleiche chemische Zusammensetzung, und sie sind alle gleich weit von uns entfernt.
Kugelsternhaufen gehören zu den ältesten Objekten im Universum. Abbildung 6.G zeigt M15, der etwa 12 Milliarden Jahre alt ist. Aber was kann man von diesen Greisen über die Entwicklungsgeschichte der Milchstraße lernen? Aus der Anordnung und dem Alter der offenen Sternhaufen und der Kugelsternhaufen in unserer Milchstraße konnte man schon vor Jahrzehnten auf die grobe Struktur der Galaxie schließen. Denn vereinfacht gesagt, kann man sich vorstellen, dass die Milchstraße aus einer riesigen Gaswolke entstand, in der gewaltige Gebiete langsam in sich zusammenfielen und die zentrale Region bildeten. Um stabil zu bleiben, begann sich das Gas in einer riesigen Scheibe anzusammeln und um deren Zentrum zu rotieren. Die alten Kugelsternhaufen deuten an, dass diese Prozesse wohl vor sehr langer Zeit stattgefunden haben müssen. Seitdem entstanden unzählige Sterne in offenen Sternhaufen in der Scheibe, die sich in den entstehenden gasreichen Spiralarmen anordneten.
Abb. 6.G
Da die offenen Sternhaufen relativ jung sind, ist anzunehmen, dass sie sich noch nahe an dem Ort befinden, an dem sie entstanden sind. Daraus kann man wiederum schließen, dass die Spiralarme Gebiete mit sehr vielen Vorräten an Gas und Staub sein müssen, so dass dort häufig neue Sterne geboren werden. Als man Entfernungen zu offenen Sternhaufen messen konnte, zeigte sich, dass sich die Sternhaufen in drei dickeren Reihen um das Milchstraßenzentrum anordneten. Diese leicht gekrümmten Reihen waren nichts anderes als Teilstücke der Spiralarme, in denen die Sternhaufen sitzen. Und so wurde die Spiralstruktur der Milchstraße historisch mittels solcher offenen Sternhaufen entdeckt und kartiert. Weiterhin lieferten die Entfernungen der Sternhaufen Auskunft über die Größe und Entfernung der einzelnen Spiralarme zueinander. Auf diese Weise kann letztendlich die gesamte Größe der Milchstraße abgeschätzt werden. Heutzutage wird die Kartographie mit Hilfe der Radioastronomie und der Vermessung des Wasserstoffgases in der Scheibe vorgenommen.
Sternhaufen spielen eine große Rolle in der Astrophysik. Da ihre Mitglieder praktisch alle gleich alt, gleich zusammengesetzt und gleich weit von der Sonne entfernt sind, eignen sie sich vorzüglich, um die ganze Bandbreite von Sterneigenschaften zu studieren. Es ist ein bisschen wie bei Menschen: Menschen sind sehr verschieden, schon rein äußerlich. In einer Schulklasse sieht man die Bandbreite menschlicher Eigenschaften in einer Stichprobe von etwa gleich alten Individuen. Verschiedene Schulklassen zeigen die Alterungseffekte beim Menschen. In diesem Sinne können wir Sternhaufen als die Schulklassen des Universums ansehen – sie zeigen uns die Fülle der Sterneigenschaften und Alterungseffekte, wenn wir verschiedene Sternhaufen miteinander vergleichen.
Jeder Stern nimmt gemäß seinem Entwicklungsstadium eine bestimmte Position im Hertzsprung-Russell-Diagramm ein. Die Details sind in Kapitel 4 beschrieben. Mit Hilfe einer Helligkeit (Leuchtkraftindikator) und einer Farbe (Temperaturindikator) kann ein solches Diagramm auch für einen Sternhaufen erstellt werden. Es wird dann Farben-Helligkeits-Diagramm genannt, hat aber die gleiche Aussagekraft wie ein Hertzsprung-Russell-Diagramm. Mit Vorwissen zur Sternentwicklung kann man anhand des Farben-Helligkeits-Diagramms eines Sternhaufens dessen momentanes Entwicklungsstadium ermitteln, denn alle Haufensterne ordnen sich in den uns bekannten Reihen und Gebieten an. Ein Stern befindet sich weiter links oben auf der Hauptreihe, wenn er massereicher und leuchtkräftiger ist, oder weiter rechts unten. Dort sitzen die masseärmeren, schwächer strahlenden Sterne. Weiterhin hängt die Lebensdauer eines Sterns von seiner Masse ab: Massereichere Sterne haben kürzere Lebenszeiten als masseärmere.
Das Farben-Helligkeits-Diagramm eines sehr jungen Sternhaufens, etwa der Plejaden, zeigt eine stark ausgeprägte Hauptreihe. Die 115 Millionen Jahre jungen Sterne haben noch keine wesentlichen Entwicklungsphasen durchlaufen, so dass sich noch kein Stern im Bereich des Riesenastes befindet. Dieses Verhalten kann in Abbildung 6.4 (oben) betrachtet werden.
Ein etwas älterer Sternhaufen, wie z.B. Praesepe mit 730 Millionen Jahren, zeigt in seinem Farben-Helligkeits-Diagramm schon einige Merkmale für Sternentwicklung. In Abbildung 6.4 (Mitte) ist deutlich zu sehen, dass der obere Teil der Hauptreihe nicht mehr ganz besetzt ist und sich die massereicheren Sterne mit ihrer kürzeren Lebensdauer stattdessen schon im Gebiet der Roten Riesen befinden. Auf dem unteren Abschnitt der Hauptreihe bleibt alles unverändert, da die masseärmeren Sterne die Hauptreihe noch nicht verlassen haben.
Ein alter Sternhaufen, wie z.B. der Kugelsternhaufen M15 mit 12 Milliarden Jahren, zeigt nur noch ein unteres Teilstück der Hauptreihe. Wie in Abbildung 6.4 (unten) gesehen werden kann, haben sich alle Sterne bis auf die masseärmsten schon zu Roten Riesen entwickelt. Deswegen erscheint der Riesenast sehr ausgeprägt. Weiterhin sind schon einige Sterne als Supernova explodiert und daher im Farben-Helligkeits-Diagramm nicht mehr anzutreffen.
Die Entfernung eines jüngeren offenen Sternhaufens ist am einfachsten im Vergleich zu einem Haufen schon bekannter Entfernung zu bestimmen. Durch Übereinanderschieben der stark ausgeprägten Hauptreihen gegeneinander in vertikaler Richtung erhält man eine Helligkeitsdifferenz zwischen dem Vergleichshaufen und dem zu vermessenden Sternhaufen. Diese Helligkeitsdifferenz der beiden Hauptreihen im Farben-Helligkeits-Diagramm ist ein Maß für die Entfernungsdifferenz der beiden Haufen.
Abb. 6.4: Farben-Helligkeits-Diagramme dreier verschiedener Sternhaufen. Oben: Der offene Sternhaufen der Plejaden ist erst 115 Millionen Jahre alt. Mitte: Der 730 Millionen Jahre alte offene Sternhaufen Praesepe. Unten: Mit 12 Milliarden Jahren ist der Kugelsternhaufen M15 eines der ältesten Objekte im Universum.
Die Entfernungsbestimmung von alten Kugelsternhaufen erfolgt über RR-Lyrae-Sterne. Wie die Cepheiden verändern auch diese Sterne periodisch ihre Helligkeit und werden daher oft als pulsierende Haufenveränderliche bezeichnet. Sie stehen im Farben-Helligkeits-Diagramm an einer charakteristischen Stelle auf dem Horizontalast. Die Existenz dieser Sterne im Farben-Helligkeits-Diagramm deutet auf ein schon fortgeschrittenes Alter hin, denn der Horizontalast wird erst in Spätstadien der Sternentwicklung erreicht. Sie sind besonders hilfreich bei der Bestimmung von Entfernungen, da über die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung ihre tatsächliche Leuchtkraft erhalten werden kann. Gleichzeitig kann die beobachtete Helligkeit der RR-Lyrae-Sterne im Farben-Helligkeits-Diagramm am Horizontalast abgelesen werden (siehe Abbildung 6.4, unten). Die Differenz zwischen der beobachteten Helligkeit und der Leuchtkraft der Sterne lässt auf ihre Entfernung schließen.
Für die Altersbestimmung von offenen Sternhaufen benötigt man den Farbenwert des Abknickpunktes (Turn-off-Punkt) von der Hauptreihe im Farben-Helligkeits-Diagramm, denn die Farbe des Abknickpunktes im Farben-Helligkeits-Diagramm ändert sich ja im Laufe der Entwicklung einer Sternhaufenpopulation. Sie wird mit zunehmendem Alter immer röter, weil sich immer masseärmere Sterne von der Hauptreihe weg in Richtung Riesenast entwickeln (siehe Abbildung 6.4). Somit wandert der Abknickpunkt nach rechts.
Das Alter eines Haufens wird mit Isochronen bestimmt. Isochronen sind die theoretischen Linien im Hertzsprung-Russell-Diagramm bzw. im Farben-Helligkeits-Diagramm, auf denen Sterne gleichen Alters, aber unterschiedlicher Masse liegen (siehe Abb. 4.8). Sie beruhen auf Sternentwicklungsrechnungen. Diese Art von Berechnungen verfolgen die zeitliche Entwicklung von Sternen. Ein Sternhaufen ist also nichts anderes als eine »beobachtete« Isochrone, da alle Sterne das gleiche Alter und auch die gleiche Metallizität haben. Die Lage und Form der Isochronen ist von der chemischen Zusammensetzung der Sterne abhängig. Junge Sterne sind metallreich, etwa so wie die Sonne. Der Vergleich der Position der Haufensterne im Farben-Helligkeits-Diagramm, insbesondere der Turn-off-Region, mit mehreren Isochronen von solarer Metallizität, aber mit verschiedenen Altern, führt direkt zu einer Altersbestimmung.
Für die Altersbestimmung der Kugelsternhaufen benötigt man nun verschiedene Sätze von Isochronen mit unterschiedlichen Metallizitäten und Altersstufen. Denn Kugelsternhaufen zeigen eine Vielfalt von Metallizitäten, und man muss die richtige auswählen. Auch die jeweilige Position des Turn-off im Farben-Helligkeits-Diagramm hängt von der Metallizität des Sternhaufens ab. Die im Farben-Helligkeits-Diagramm eines Kugelsternhaufens erkennbaren Positionen aus Hauptreihe, Riesenast und Horizontalast werden so lange gegen die Isochronen der zugehörigen Metallizität verschoben, bis eine Isochrone passt. Die »richtige« Isochrone repräsentiert wiederum sofort das Alter des Kugelsternhaufens.
Sternhaufen sind nach wie vor sehr beliebte Studienobjekte – für weitere Beobachtungen wie auch für theoretische Projekte, z.B. zur Bildung von Kugelsternhaufen. Denn viele neu entdeckte Details werfen ständig Fragen auf. Durch verbesserte Datenqualität konnten in den letzten zehn Jahren kleine, aber wichtige Unterschiede herausgekitzelt werden: So verfügen die Sterne in drei bestimmten Sternhaufen nämlich doch nicht alle über ganz genau dieselbe Metallizität, wie normalerweise für einen Sternhaufen angenommen wird. Dies könnte auf kleine Inhomogenitäten in der Gaswolke, aus der der Haufen entstand, zurückgehen. Weiterhin zeigen einige Haufen bis zu fünf verschiedene Untergruppen von Sternen mit unterschiedlichem Alter und verschiedenen Metallizitäten. Einige der massereichsten Kugelsternhaufen zeigen somit mehrere separate Hauptreihen in ihren Farben-Helligkeits-Diagrammen, wie z.B. Omega Centauri in Abbildung 6.5. Das entspricht jeder Menge sitzengebliebener Schüler, wenn wir uns wieder den Vergleich mit Schulklassen vornehmen. Wenn es aber mehr sitzengebliebene als eigentliche Schüler in der Klasse gibt, wird es für einen Beobachter schwierig festzustellen, um was für eine Klasse es sich denn eigentlich handelt. Die Gründe für diese verschiedenen Untergruppen sind auch nach vielen Jahren nach wie vor unzureichend geklärt.
Abb. 6.5 : Farben-Helligkeits-Diagramm von Omega Centauri. Die verschiedenen Populationen dieses ungewöhnlichen Sternhaufens manifestieren sich in den drei Hauptreihen.
Schließlich zeigt eine Reihe von Elementhäufigkeiten, dass Kugelhaufensterne ein ganz anderes chemisches Häufigkeitsmuster haben als typische Halosterne besitzen. Diese Unterschiede können nur verstanden werden, wenn eine Art »Schlammschlacht« im Haufen stattgefunden hat: eine Art von besonderer, haufeneigener chemischer Entwicklung, bei der frühe Sterngenerationen Metalle produzieren, die den Haufen aber nie verlassen haben. Weiterhin können Sternwinde, die aus neu synthetisierten Metallen bestehen, zur Verschmutzung des Haufengases beigetragen haben. Nachfolgende Generationen wurden somit aus chemisch verändertem Gas gebildet.
Kugelsternhaufen sind also so etwas wie Kleinstaaten, für die eigene Gesetze gelten. Sie sind äußerst kompliziert, so dass Astronomen weit davon entfernt sind, sie völlig zu verstehen. Alles in allem sind schon viele verschiedene Modelle zur Entstehung von Kugelsternhaufen postuliert worden, aber keine Idee kann alle Beobachtungen erklären. Weiterhin muss noch herausgefunden werden, welche kosmologische Rolle die Kugelsternhaufen spielen. Denn es ist auch unklar, aus was für Gaswolken und unter welchen Bedingungen diese riesigen Objekte im frühen Universum entstanden.