Lanzelot und das Ende der Tafelrunde
Hic jacet arthurus, rex quondam rexque futurus
Hier ruht Artus, König der Vorzeit und Herrscher ferner Tage
Inschrift auf dem erdachten Grabstein König Artus’ im Märchenland Avalun.
Lanzelot vom See
Zwischen einem Maien und dem Herbst geschah es, daß die Blüte der Ritterschaft, sich in entsetzlichen Morden selbst zerfleischend, dahinsank. Ach, das Korn war überreif geworden und verlangte nach dem Schnitter.
Wir haben bisher viel von den berühmtesten Rittern der Tafelrunde gehört. Nur der Name eines Helden ist noch nicht gefallen, und seiner müssen wir jetzt Erwähnung tun. Denn neben Gawan, Parzival, Erek, Iwein, Tristan, Keye und den vielen anderen verbreitete noch ein Name hellen Ruhmesglanz: Lanzelot vom See.
Geheimnisvoll ist Lanzelots Abkunft. Man erzählte, er sei der Sohn einer Wassernixe, doch gewiß ist nur so viel, daß er in einem »Schloß am See« von der Fee Viviane erzogen wurde.
Es war um die Zeit, da König Artus aus Rom zurückkehrte, daß Lanzelot in Mooren und wilden Wäldern nach Abenteuern spähte. Einmal traf er einen Bitter an, der mit gezogenem Schwert eine Edelfrau verfolgte. Gerade, als er zum Todesstreich aushalte, warf sich Lanzelot zwischen die beiden.
»Mische dich nicht in meine Angelegenheiten ein!« schrie ärgerlich der Mann; »dieses Weib hat mich verraten, und ich vollziehe nur ein gerechtes Urteil an ihr.«
»Er lügt … er lügt«, jammerte die Frau, »vor Gott kann ich bezeugen, daß keine Sünde zwischen uns ist. Doch er ist über alle Maßen eifersüchtig und will nicht dulden, daß ich meinem Bruder zärtlich zugetan bin.«
Auf Lanzelots Drängen steckte der Ritter sein Schwert in die Scheide, und versprach, der Frau kein Leid zu tun. Dann ritten sie alle drei, die Dame in der Mitte, ihres Weges weiter.
Sie waren eine Weile dahingetrabt, als der Ritter sich an Lanzelot wandte und ihn umkehren hieß, da er Pferdegetrappel hinter sich höre. Dies war aber nur eine Finte, um den lästigen Begleiter loszuwerden. Denn kaum hatte sich Lanzelot ein Stück von den beiden entfernt, zog der Elende sein Schwert und hieb der Dame den Kopf ab. Rasend vor Wut sprengte Lanzelot auf den hinterlistigen Schurken zu, stach ihn im ersten Anritt vom Pferd und sprang dann auf den Gestrauchelten los, um ihn mit dem Schwert zu richten. Die Füße des Rächers umklammernd, winselte der Mörder um Gnade. Lanzelot wollte dem Mann die Vergünstigung gewähren, noch einmal in einem Tjost um sein Leben zu kämpfen, wobei sich der Ritter vom See noch verpflichtete, sein Kettenhemd abzulegen und im bloßen Lederwams seinem Gegner gegenüberzutreten. Doch der Feigling schlug dieses Anerbieten aus. »Tötet mich lieber gleich, edler Lanzelot«, wimmerte er; »denn niemand anderer seid Ihr, ich habe Euch jetzt erkannt. Und ein Lanzelot im Unterkleid wiegt ein Dutzend Männer in Helm, Halsberge und Ringpanzer auf!«
Lanzelot überlegte lange; schließlich‘erwiderte er: »Ich will meine Klinge mit dem Blut eines Elenden, wie Ihr einer seid, gar nicht beflecken; doch Recht muß Recht bleiben. Meldet Euch bei der Hüterin aller Frauenehre, bei der Königin Ginevra. Sagt ihr, Lanzelot vom See, der sie tief verehre, ohne sie zu kennen, schicke ihr seinen untertänigsten Gruß und lasse sie bitten, das Urteil über einen Mann zu vollziehen, der ihr Geschlecht durch so feigen Mord gesehändet hat.«
Der Ritter tat, wie ihm geheißen, und erhielt von Frau Ginevra den Auftrag, den Leichnam seines Weibes nach Rom zu tragen, ihn dort zu bestatten und an den heiligen Stätten um Gnade zu flehen.
Damals also war es geschehen, daß Lanzelot sich zum erstenmal dem Willen der Königin Ginevra unterstellte. Von da ab weihte er sein Leben dem Dienst der hohen Frau, lange Zeit nur als im Land umherziehender Ritter, der Abenteuer suchte, und später, nachdem sich sein Ruhm im Kampf gegen Drachen und böse Geister bewährt hatte, als Held der Tafelrunde.
Galahad
Mit der Aufnahme Lanzelots in die Gemeinschaft vom runden Tisch hatte sich der Ring der edelsten Helden auf Erden bis auf ein Glied geschlossen: denn ein Platz an der Tafelrunde war noch frei. Gar oft schlugen einzelne Ritter dem König vor, er möge sich noch einen Helden erwählen, auf daß sich seine Sendung erfülle und die Welt Vollendung erreiche. Denn nach Merlins Wort war der runde Tisch ein Gleichnis der Erdscheibe.
Doch Artus erwiderte stets ausweichend auf solche Bitten: »Ein Einsiedler im heiligen Wald des Gralsbezirkes hat mir einst verkündet, daß dieser letzte Platz an der Tafelrunde nicht meiner Macht unterliegt. Gott selbst wird den Mann nennen, der dazu berufen ist, den Kreis zu vollenden.«
Einmal, als das Drängen der Ritter immer heftiger wurde, erklärte der König geheimnisvoll: »Verlangt nicht allzusehr nach der Erfüllung! Vielleicht bedeutet sie auch das Ende. Ich will euch nunmehr etwas über den Stuhl verraten, den ihr so lange schon leer stehen seht. Vielleicht werdet ihr dann anders darüber denken und begreifen, daß es Dinge gibt, an die man nicht rühren soll, bis der Herr selbst den Auftrag dazu erteilt. Dieser Platz nämlich, wißt, heißt ›Der gefährliche Platz‹; er schwebt zwischen Nacht und Morgen, steht über einem Abgrund, der ausgespannt liegt zwischen Diesseits und Jenseits. Wenn ›Der gefährliche Platz‹ besetzt ist, sind wir in die allerletzte Entscheidung eingetreten.«
So sprach Artus, und. betroffen schwiegen die Helden der Tafelrunde. Vom gefährlichen Platz war nun nicht mehr weiter die Rede.
Mehrere Jahre danach geschah es — die Tafelrunde war wieder einmal vollzählig versammelt —, daß sich die Tür auftat und ein Einsiedler in den Saal trat. Auf der Stelle erkannte Artus den frommen Mann: es war der gleiche, der ihm einst die Bedeutung des gefährlichen Platzes verkündet hatte.
Der Klausner verneigte sich vor dem König und sprach: »Es ist nun Zeit, daß der ›Gefährliche Platz‹ einen Helden aufnimmt.«
Artus forderte: »Nenne uns den Namen des Helden, den du unter uns zu führen gedenkst. Sofern er draußen wartet, wollen wir ihn unverzüglich hereingeleiten; wenn wir ihn aber erst suchen müssen, so erteile uns den Auftrag.«
Ein himmlisches Lächeln verklärte das Anlitz des Greises; feierlich verkündete er: »Höre, König Artus, hört es, ihr Männer der Tafelrunde, der Held, der dazu berufen ist, euren Kreis zu schließen, ist noch gar nicht geboren.«
Erstaunen flog da über die Mienen der Ritter, doch wagte niemand zu fragen, und der Klausner fuhr fort: »Noch in diesem Jahr wird es geschehen, daß sich einer der Helden vom runden Tisch vermählt. Dem Bund wird ein Sohn entspringen, der in der Taufe den Namen Galahad empfangen wird. Galahad, der wahrhaft reine Jüngling, makellos und ohne Sünde, wird eine Zeitlang unter euch wohnen. Wenn er aber von euch geht, ist die Sendung der Tafelrunde erfüllt.«
Wieder folgte lautlose Stille den Worten des Greises. Endlich brach der König das Schweigen: »Soll Eure Weissagung bedeuten, daß wir uns nach Galahads Abschied selbst auf die Scheidestunde vorbereiten müssen?«
Ernst erwiderte der Klausner: »Wollt Ihr deshalb dem Herrn zürnen? Ihr habt länger gelebt als alle andern Menschen, ihr waret mehr als jeder, der zugleich mit euch über die Erde gewandelt ist, euer Leben und Wirken war das Sinnbild einer ganzen, langen Zeit. Es könnte dem Herrn gefallen, das Bild seiner Erde zu verwandeln.«
Mit diesen Worten schied der Einsiedler. Noch lange nach seinem Weggang saßen die Helden schweigend im Kreise; die inhaltsschwere Rede des Alten schlug ihre Zungen in Bann. Eine düstere Vorahnung vom nahen Ende der Ritterwelt senkte sich wie ein finsterer Schatten über die Edlen. Zum erstenmal wurde ihnen bewußt, daß auch sie wie alles Vergängliche in der Welt zum Untergang verurteilt seien …
Der Mensch weiß, daß er sterben muß, und lebt doch fröhlich dahin. Nicht anders hielten es jetzt die Helden des Königs Artus. Mit dem ersten Sonnenstrahl des nächsten Morgens war die trübe Stimmung wieder verflogen. Es kam die Kunde, daß in einem Schloß, zu dem eine Brücke über den Fluß Corbin führte, ein schönes Weib einer furchtbaren Marter unterworfen werde und nach Erlösung schreie. Doch ein so mächtiger Zauber verwehre den Zugang zum Schloß, daß nur ein Ritter der Tafelrunde Hoffnung hegen könne, sich den Eintritt zu erzwingen.
Als die trotzigen Helden diese Nachricht hörten, hei, da waren die Männer des Königs Artus wieder ganz die alten. Ein hilfreicher Kampf, ein kühnes Abenteuer … da mochte keiner zurückbleiben.
Gawan genoß die Ehre, jedes Abenteuer vor allen anderen zu bestehen, wenn ihn damach gelüstete. So zog er denn als erster aus, um der Dame in dem Schloß, das keiner der Helden kannte, Hilfe zu bringen.
Lange war der kühne Ritter unterwegs, und mit gewaltigen Taten häufte er neuen Ruhm auf seinen ehrumglänzten Namen. Doch so rastlos er auch suchte, so brennend sein Verlangen nach dem Abenteuer ging, das geheimnisvolle Schloß vermochte er nicht zu finden. Oh, er war schon einmal ausgezogen, nach einer Burg zu suchen, damals, als er sich danach sehnte, Montsalvatsch, den Berg des Heils, zu finden. Wie er zu jener Zeit seine blöden Augen verflucht hatte, die ihm das Wunder der vieltürmigen Gralsburg verwehrten, so zürnte er auch jetzt, daß seinem stumpfen Blick die Zauberburg entging. Doch alles Hadern mit sich selbst blieb vergeblich. Gawan mußte unverrichteter Dinge an die Tafelrunde zurückkehren.
Da spottete Keye, der Truchseß: »Wahrhaftig, der wird der kühnste Held auf Erden, den das Schicksal nur die Abenteuer finden läßt, die er zu meistern vermag.«
Lanzelot sprang auf: »Das Abenteuer ist ein Wunder wie die Gnade des Himmels, Herr Keye. Jeder besteht das Abenteuer, das ihm der Himmel zumißt.«
Ruhe gebietend, erhob sich der König. »Ritter Lanzelot«, sagte er, »hat ein schönes Wort vom Sinn des Abenteuers gesprochen. Möge er es also erproben!«
Nun ritt Lanzelot aus, um die Dame in dem geheimnisvollen Schloß zu erlösen. Damit aber begann die Kette der schicksalschweren Ereignisse abzulaufen, an deren Ende der Untergang stand.
Lanzelot vom See kam an den Fluß Corbin und brauchte nicht lang nach der Brücke und dem Schloß zu suchen. Denn er war noch nicht zwei Tage das Ufer stromabwärts geritten, als jenseits des Wassers auf einem sanft ansteigenden Hügel ein Schloß vor seinen Augen emporwuchs, das ihn schöner dünkte als jegliches Gebäude, das er bisher gesehen hatte. Seine breiten, mächtigen Mauern schienen mit dem Felsen verwurzelt, schier hundert goldgedeckte Türme blickten weit in die Landschaft hinaus. Lanzelot dachte, daß dergestalt wohl auch die Gralsburg sich goldschimmernd in die Lüfte emporheben müsse. Er fragte sich, wer so vermessen gewesen sei, sich dieses Ebenbild der Wunderburg zu erbauen.
Nachdem sich der Artusritter von seinem Erstaunen erholt hatte, spornte er sein Roß und sprengte über die Brücke. Noch ehe er die Burgpforte erreichte, lud ihn am Wegrand eine Kapelle zu kurzer Andacht ein. Lanzelot glaubte, sich diesem himmlischen Wink nicht versagen zu dürfen, und trat in den Andachtsraum ein. Vor einem mächtigen Holzkreuz kniete er nieder und flehte den Segen des Hengotts auf sein Beginnen herab. Sich wiedererhebend, gewahrte er in einer Nische des geweihten Raumes ein Grab, auf dessen Deckel er die rätselhafte Inschrift las: »Hebe den Stein und erschlage den, der aus der Gruft steigt, sonst ist es dir nicht vergönnt, deine Sendung zu erfüllen.«
Lanzelot beugte sich nieder und begann mit aller Kraft an den beiden bronzenen Ringen zu zerren, die auf dem Grabdeckel eingelassen waren. Sieh, die marmorne Platte hob sich von der Gruft.
Was sich aber nun ereignete, ließ den Ritter vom See schaudernd bis zur Pforte der Kapelle zurückweichen. Ein Drache, Feuer und Gift speiend, erschien aus der Tiefe des Grabes.
Doch nur einen Augenblick währte Lanzelots Schwäche. Mit festem Entschluß hatte er sein Schwert gezogen und war auf das Scheusal zugesprungen, das sich eben mit donnerndem Flügelschlag anschickte, auf den Ritter loszustürmen. Bis an das Herz drang dem Untier der Stahl des Helden, und röchelnd schlug es auf die Fliesen der Kapelle nieder. Doch kaum hatte der Lindwurm den Boden berührt, erhob er sich mit neuer Kraft, und abermals mußte sich Lanzelot kampfbereit machen.
Furchthar war dieses Ringen mit dem Drachen. Nie noch hatte der Held vom See Ähnliches erlebt. Schier ein dutzendmal zwang Lanzelot das Scheusal auf den Estrich nieder, doch sag es immer wieder neues Leben aus dem geweihten Boden. Allmählich begannen Lanzelots Kräfte zu erlahmen. Würgend legte sich der Giftbrodem, der aus Nüstern und Rachen des Lindwurms strömte, um seine Kehle, und es dünkte ihn, er müsse daran ersticken.
Endlich dämmerte in dem Helden der Gedanke auf, daß er den getöteten Drachen daran hindern müsse, sich durch das Wunder des Estrichs neu zu beleben. Gelänge ihm dies nicht, so müsse er in diesem ungleichen Ringen unterliegen. Lanzelots Blick fiel auf das Holzkreuz, und ein rettender Gedanke durchzuckte sein Hirn. Mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte rannte er dem wütend um sich schlagenden Lindwurm sein Schwert so tief in den Leib, daß der Stahl auf der anderen Seite wieder herausdrang. Und mit der Spitze der Klinge spießte Lanzelot vom See den Drachen an das Holz des Kreuzes, wo das Untier zuckend verendete.
Der furchtbare Kampf war vorüber, Aufatmend trat Lanzelot ins Freie. Hier hatte sich indessen manches verändert, Eine gewaltige Volksmenge staute sich vor der Kirchentür, brausender Jubelruf empfing den Helden: »Heil dem kühnen Kämpfer, der den Drachen erschlug und die Jungfrau im Schloß von schweren Leiden erlöst hat!«
Erstaunt blickte Lanzelot auf das versammelte Volk, und begierig zu erfahren, was die begeisterten Zurufe besagen sollten, winkte er einem Uralten in der Menge: »Komm zu mir, alter Vater, und künde mir, was mich in der hunderttürmigen Burg dort erwartet.«
Da begann der gebrechliche Alte mit zittriger Stimme: »Hört, Ritter Lanzelot — denn Ihr seid es, ich habe Euch an dem Wappenschild des schilfumkränzten Weihers erkannt —, hört die Geschichte der Jungfrau Elaine. Oben im Schloß liegt das Edelfräulein in einem Bad mit immerfort kochendem Wasser. Man weiß nicht, woher sie kommt, wes Stammes sie ist und wie lange ihre Qualen schon dauern. Niemand versteht, wie es möglich ist, daß ein Mensch solche Marter überhaupt aushalten kann; noch kein Sterblicher hat sie gesehen, keiner das Schloß betreten, denn nur dem öffnen sich Riegel und Pforten, der den Drachen im Grabe bezwang.«
Schaudernd unterbrach Lanzelot den Sprecher: »Was Ihr mir erzählt, ist fürwahr eine gräßliche Kunde. Noch niemals habe ich bisher von einer so furchtbaren Marter gehört. Nur der Teufel selbst kann sie erdacht haben.«
Der Uralte fuhr fort: »Ihr sprecht die Wahrheit, Ritter vom See. Nur der Satan kann seine Hand im Spiele haben. Hört, was sich vor kurzem begab. Es war damals, als Ritter Gawan auf der Suche nach dem hunderttürmigen Schloß nicht weit von hier durch die Wälder ritt. Wir glaubten schon, die Erlösung sei nahe. Aber am Kreuzweg diesseits des Flusses schlug der Held die falsche Richtung ein, und unsere Hoffnung sank wieder dahin. Gewiß hat ein Blendwerk des Teufels den Kühnsten aller Helden getäuscht.«
»So verwandelte sich Eure Hoffnung wieder in Not und Verzweiflung?« fragte Lanzelot.
»Ja, unsere Herzensnot wuchs und wurde immer größer«, antwortete der Greis und schloß dann seinen Bericht: »Doch da sie uns schier zu übermannen drohte, erschien ein frommer Klausner, der uns ermahnte, im Glauben niemals wankend zu werden, Auch das arme Weib oben im Schloß, so verkündete er, werde für die erlittenen Qualen dereinst hoch belohnt werden. Elaine sei nämlich vom Herrn ausersehen, der Welt den reinsten Helden zu schenken, der je gelebt habe. Denn selbst der Gralskönig Parzival, so hoch ihn auch der Himmel mit Gnade beschenkte, sei nicht sündenlos seinen Weg bis zum Berg Montsalvatsch gegangen. Der Name dieses Reinen aber würde sein — Galahad.«
So sprach der Uralte. Da schrillte ein gräßlicher Schrei durch die Luft und ließ Lanzelot die Antwort auf den Lippen erstarren. Eine Frau aus der Menge aber wimmerte: »Jetzt haben die Teufel wohl neues Glutwasser in das Recken gegossen.«
Lanzelot verabschiedete sich mit einem Neigen des Kopfes von der Menge und nahm dann mit hartem, entschlossenem Schritt seinen Weg in die Burg. Und es begab sich das Wunder, daß das große Tor aus Eichenbohlen von selbst aufsprang und dem Ritter den Eintritt in den riesigen Burghof freigab.
Ratlos stand der Ritter vom See in dem gewaltigen Geviert. Keines Menschen Seele war ringsum zu erblicken. Wohin sollte er sich nun wenden? Viele Dutzend Türen sah er in das Innere des Gebäudes gehen. Plötzlich hörte er das Knacken eines Schlosses, und gleich darauf tat sich vor ihm, wie durch Zauberkraft bewegt, abermals eine Pforte auf. Durch diese betrat er die Burg. Durch endlose Hallen und Gänge glitt er dahin, marmorne Säle und kleine Gemächer nahmen ihn auf, sein Fuß schritt über Treppen und Höfe, und immer wiesen ihm Türen den Weg, die ohne sein Zutun vor ihm aufsprangen.
Je weiter er kam, desto heißer, stickiger schien ihm die Luft. Der Schweiß brach ihm schließlich aus allen Poren. Aber all das war nichts gegen die Glutwelle, die ihm entgegenschlug, als er in einen marmorgetäfelten Saal gelangte, in dessen Mitte ein großes Wasserbecken eingebaut war. Dichte Dampfschwaden zogen durch den Raum, so daß er die Vorgänge im Becken nur undeutlich wahrnehmen konnte. Das Wasser kochte und zischte, manchmal hob sich sein dampfender Schwall hoch über den Rand des Reckens empor, und das Ganze war wie ein brodelnder Hexenkessel anzuschauen. Die Hitze griff mit solcher Gewalt nach Lanzelots Herzen, daß er umzusinken drohte. Er tastete sich nach dem Eingang zurück, indes er murmelte: »Nein, in diesem Glutbecken kann sich kein lebendiges Wesen befinden.«
Doch da geschah das Unfaßbare: in dem Augenblick, als sich eine schwarze Ohnmacht um seine Augen legte, sah er, wie eine Frau in weißem Gewand auf ihn zutrat, seine Hand nahm und flüsterte: »Habt Dank, daß Ihr gekommen seid, Lanzelot vom See. Nun bin ich von unendlicher Qual erlöst.«
Zugleich beruhigten sich die kochenden Wasser, die Dampfschwaden verflüchtigten sich, kühlender Lufthauch zog durch unsichtbare Schächte in den Raum, und Lanzelot wurde seiner Sinne so weit wieder mächtig, daß er bewundernd die Schönheit der Frau in sich aufnahm, die ihn ihren Retter nannte. Nie noch schien unserem Helden ein herrlicheres Weib begegnet zu sein, außer der Königin Ginevra.
»Edle Frau«, sprach er die Holde endlich an, »ist es möglich, daß Ihr in diesem kochenden Wasserstrudel gelebt habt? Welche teuflische Hand hat Euch da hineingestoßen, und wie lange seid Ihr darin gelegen? Eure Qualen müssen unvorstellbar gewesen sein.«
Um den Mund der Jungfrau flog ein liebliches Lächeln: »Fragt mich nicht, Lanzelot vom See; denn ich könnte Euch nicht antworten. Zu schwach ist die Sprache der Menschen, um meine Leiden zu schildern, und Eure stumpfen Sinne würden nie begreifen, was für Qualen ich erlitten habe. Doch nun ist alles vorbei.«
»So wißt Ihr also, wer ich bin?« fragte der Ritter erstaunt.
»Ich weiß es«, antwortete die Jungfrau, »und darum verlangt die Sitte, daß ich Euch auch meinen Namen nenne. Ich heiße Elaine und bin die Tochter des Königs Pelles. Folgt mir nun, ich werde Euch zu meinem Vater geleiten, er möge Euch verkünden, von welchem Geschlecht wir sind.«
Gerne gehorchte Lanzelot der Aufforderung der Jungfrau. Denn tief in seiner Brust wagte noch immer die große Erregung darüber, daß die zarte, liebliche Elaine so unvorstellbare Qualen hatte erleiden müssen. Er begehrte, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Freilich sollte er jetzt nur einen Teil der Wahrheit erfahren.
An der Seite Elaines verließ Lanzelot den Saal, in dessen Mitte das Wasserbecken stand. In grünlichem Schimmer lag der Raum jetzt friedlich da, und niemand hätte ihm angesehen, welch teuflische Gewalten hier noch vor kurzem entfesselt waren.
Das eben noch menschenleere Schloß schien jetzt wie mit einem Zauberschlag aus seiner Erstarrung gelöst. Diener und Mägde waren allerorts am Werk, und in den gleichen Sälen, die bei Lanzelots Eintritt verödet dagelegen hatten, standen nun Gruppen von Rittern, eilten Knappen geschäftig hin und wieder, klang Musik auf, und überall wurde getafelt, gescherzt und geplaudert.
Schließlich gelangte Lanzelot mit seiner Führerin in einen von Gold und Marmor glänzenden Thronsaal. Dort saß auf prunkendem Sitz König Pelles, der Lanzelot freundlich begrüßte: »Habt Dank, daß Ihr gekommen seid, edler Ritter, tausendfachen Dank für Eure kühne Tat, durch die Ihr meine Tochter von ihrem furchtbaren Leiden erlöst habt! Habt Ihr das Lachen und Singen gehört, das durch die Säle dringt? Kurz zuvor noch lagen sie stumm und traurig da, wie seit undenklichen Zeiten vorher.«
»Ihr könnt nicht glücklicher sein als ich«, entgegnete Lanzelot, und ein frohes Leuchten glänzte in seinen Augen, »glücklich, daß mir die Gnade zuteil wurde, Euch solche Freude zu bereiten.«
König Pelles aber fuhr fort: »Vernehmt nun, wer es ist, den Euer hilfreiches Werk aus unendlicher Not errettet hat. Ich führe meine Ahnenreihe auf Joseph von Arimathia zurück, jenen Mann, der das Blut Christi in einer goldenen Schüssel auffing. Engel bergen das Gefäß und brachten es später auf die Erde herab, wo wir die himmlische Schale heute als den heiligen Gral verehren. Es soll noch tiefes Geheimnis bleiben, wer mich und meine Tochter in so schreckliches Leid versetzt hat. Nur das mögt Ihr wissen, edler Ritter, daß wir nicht für eigene Schuld büßen mußten und daß für unser Opfer der herrlichste Lohn bereit steht. Aus unserem Stamm wird der reinste und vollkommenste Mensch auf Erden erblühen.«
So sprach der Herrscher. Lanzelot wurde von der Glut seiner Worte, der Pracht des Schlosses und nicht zuletzt von der Schönheit Elaines so sehr in Bann geschlagen, daß die Erinnerung an alles Gewesene in seinem Herzen immer farbloser wurde. Selbst das Bild der herrlichen Frau, zu der er in Demut und Ehrfurcht aufblickte, selbst Frau Ginevras Gestalt entschwand seinen Sinnen.
Monde vergingen, und Lanzelots Geist war noch immer allem Irdischen entrückt. Eines Tages rief der Herrscher den Ritter zu sich und fragte, wie er sich dessen langes Verweilen auf dem Schloß wohl deuten könne. Ob er es am Ende Elaine zu verdanken habe, daß er den Ritter vom See noch immer seinen Gast nennen dürfe.
Lanzelot hatte wohl verstanden, daß König Pelles ihn mit diesen Worten, so höflich sie gewählt waren, vor die Entscheidung stellte, um die Hand Elaines zu bitten oder seinen Besuch auf dem Schloß der hundert Türme zu beenden.
So sehr auch in dem jungen Helden die Erinnerung an Königin Ginevra verblaßt war, völlig abgefallen waren die Fesseln noch nicht, die ihn an seine Vergangenheit banden. Er zögerte, eine Antwort zu geben.
Da erhob sich König Pelles, und bittend, ja beschwörend klangen seine Worte: »Vollendet Euer Werk! Noch ist die Erlösungstat nicht zu Ende gebracht!«
Der dunkle Sinn dieser Rede traf Lanzelot mitten ins Herz. Seine Stimme bebte, als er erwiderte: »Wenn Jungfrau Elaine an einem Ritter Gefallen zu finden vermag, der nicht einmal seine Herkunft kennt, dann bitte ich sie, mein Weib zu werden.«
Der König schrie auf : »Lanzelot, hegt keine Zweifel an Eurer hohen Abkunftl Eure Heimat ist der See … sind die sturmgepeitschten, rauschenden Wasser … ist die erhabene Natur. Jeder weiß, daß Euch die gütige Fee Viviane erzogen hat. Lanzelot, Ihr seid von erhabenem Stamm, und es ist mein höchstes Glück, Euch als Gatten meiner Tochter zu begrüßen.«
Mit aller Pracht wurde bald darauf die Hochzeit gefeiert. Als die Festlichkeiten verrauscht waren, zog sich Lanzelot mit seiner jungen Gemahlin in ein Schlößchen zurück, das einsam im Walde lag, um hier eine Zeitlang, fernab vom Lärm der großen Welt, ungestört seinem Glück zu leben.
Seltsam, hier bei des Hifthorns tönendem Klang, bei Waldesrauschen und Vogelsang verflog der Zauber seiner Liebe zu Schön-Elaine, furchtbarer Kummer schlich sich in das Herz des unglücklichen Ritters. Hatte er nicht gelobt, sein ganzes Ritterdasein der schönsten Frau zu weihen? Verraten und vergessen hatte er seinen Schwur, ewig der Minnediener der Königin Ginevra zu bleiben! Tosend schlugen die Wellen der Verzweiflung über dem Haupt des Ritters ausammen‘ so daß er eines Morgens halb von Sinnen aus dem Fenster sprang.
In wilden Sätzen hetzte Lanzelot in den Wald hinein und achtete nicht der Jammerrufe seiner jungen Gemahlin, die noch lange hinter ihm her schollen. Sträucher und Dornen sperrten seinen Weg, rissen ihm tiefe Wunden, er spürte es nicht. Sein Sinn war wieder verdüstert wie damals, als er Elaine gefreit hatte. Brannte aber damals unnennhare Sehnsucht nach höchster Liebe in seiner Brust, so waren es jetzt die Schatten tiefer Schwermut, ja, des Wahnsinns fast, die sich auf ihn herniedersenkten. Er blieb weiter im Wald, nährte sich von Wurzeln und Kräutern, ward ein Tier unter Tieren …
Wie lange das währte, vermochte er nicht zu sagen. Jegliches Gefühl für die Zeit war in ihm erloschen.
Elaine erfaßte über des Gatten Flucht tiefe Betrübnis, doch verzweifelte sie nicht; denn sie wußte, daß ihr der Himmel zum Trost bald ein Kind bescheren werde.
Während Lanzelot wie ein Ausgestoßener, Aussatzbehafteter durch die Wälder schlich, in Erdhöhlen hauste, ward im Schloß der hundert Türme sein Sohn Galahad geboren — Galahad, dem vorherbestimmt war, der reinste Held im Lande zu werden.
Ritter des »Gefährlichen Platzes«
Jahre vergingen. Die Ritter der Tafelrunde zogen, wenn ein Hilferuf sie erreichte, zu Abenteuern in die Welt hinaus und kehrten ruhmbedeckt wieder an den runden Tisch zurück. Nur ein Ritter versagte sich jedem hilfreichen Werk und lebte bloß dem leichtsinnigen Vergnügen, der Jagd und den festlichen Turnieren. Das war Mordred, König Artus’ eigener Sohn.
Schon lange wunderten sich die Helden über Lanzelots Fernbleiben, aber sie meinten, gewaltige Abenteuer müßten es sein, die den Ritter in fernen Landen festhielten, und sie hofften, er werde in ihre Gemeinschaft zurückkehren, wenn seine Sendung erfüllt sei.
Unbesetzt war aber noch immer der »Gefährliche Platz«. Doch sollte dies nicht mehr lange so bleiben, denn die Zeit der Erfüllung nahte heran.
Am Vorabend des Pfingstfestes, das König Artus wie gewöhnlich in seiner Burg Karidol verbrachte, geschah es, daß vor der Tafelrunde unvermutet zwölf Nonnen erschienen, in deren Mitte ein strahlender Jüngling schritt. Die älteste der Frauen, eine Äbtissin, verneigte sich vor König Artus und sprach: »Nun tritt also Galahad unter euch. Galahad stammt in gerader Linie von Joseph von Arimathia ab und ist daher mit der Familie verwandt, die uns den Heiland geschenkt hat. Als Knäblein wurde Galahad zu uns gebracht; wir zogen ihn auf und übergeben ihn nun auf himmlische Weisung der Tafelrunde. Galahad ist der Beine und Makellose, dem König Artus aber wird aufgetragen, ihn noch heute zum Ritter zu schlagen. Galahad soll auf dem ›Gefährlichen Platz‹ sitzen. Solange er unter euch weilt, ist euch großes Heil beschieden. Wenn er von euch geht, kündigt sich damit das nahe Ende an. Darum wird sein Sitz auch der ›Gefährliche Platz‹ genannt.«
So sprach die fromme Mutter. Als sich die Nonnen entfernt hatten, tat Artus, wie ihm geheißen, und erteilte Galahad den Ritterschlag. — Nur einen Tag sollte der Ritter des »Gefährlichen Platzes« unter seinen Genossen weilen.
Es war um die Mittagsstunde des nächsten Tages, die Zeit, da das Fest des Heiligen Geistes seinen Höhepunkt erreicht. Die Ritter saßen schweigend in frommer Betrachtung an der Tafelrunde vereint. Da verfinsterte sich plötzlich der Himmel. Der Donner grollte, und ein Getöse hob an, als wolle die Erde aufbrechen und der Welt letztes Stündlein sich ankündigen. Die große Halle, in der die Helden versammelt waren, erbebte bis in ihre Grundfesten. Mit einemmal verebbte der Donner, das Gewölk zerriß, und ein Lichtschein drang durch die spitzbogigen Fenster, siebenmal heller als die Sonne. Der Strahl, von himmlischen Mächten entsandt, tauchte in die Herzen der Helden und erleuchtete sie für das wunderbare Geschehen, das sich nun vor ihren Augen begab.
Die Tür sprang auf, und von unsichtbaren Händen getragen, schwebte ein Schrein in den Saal, so wenigstens schien es nach den Umrissen, die sich in der golddurchwirkten Hülle ausprägten, von der das Wunderding umschlossen war. Langsam bewegte sich das Geheimnis heran und senkte sich schließlich vor Galahad auf dem runden Tisch nieder.
Galahad streckte die Hände aus und schlug die Umhüllung zurück; da zeigte sich den zutiefst ergrïffenen Rittern der Gral, das Himmelsgefäß.
Niemand außer Parzival hatte bisher den Gral gesehen. So kündete dieses Wunder die höchste Vollendung der Gemeinschaft vom runden Tisch, gleichzeitig freilich auch ihr Ende an. Denn unsterblich sind allein die Gralskönige.
Süßer Duft erfüllte den ganzen Raum. Galahad erhob sich und sprach: »So will ich euch nun speisen und tränken. Es kann jeder zu essen und zu trinken begehren, was ihm gefällt, denn jegliche Nahrung entströmt dem Wunderborn des Grals.«
Nach diesen Worten schritt der Jüngling von Ritter zu Ritter; jedem reichte er die Speise, die er sich wünschte. Als das Mahl beendet war, stellte Galahad die himmlische Schale wieder vor sich auf den runden Tisch und bedeckte sie mit der samtenen Hülle. Wie zuvor, von menschlichen Händen unberührt, erhob sich der Gral und entschwebte der Gemeinschaft der Helden.
Das Licht des Alltags kehrte wieder in die Halle zurück. Auch die Mienen der Helden entspannten sich, und fröhliche Männerworte flogen durch den Raum.
Nur der Jüngling auf dem »Gefährlichen Platz« verharrte in entrücktem Schweigen. Seine leicht erhobene Rechte gebot Ruhe, und feierliche Stille senkte sich wieder über die Versammlung. Galahad aber ließ seine Stimme ertönen: »Da der Strahl des Himmels über eure Gesichter hinweggegangen ist, habe ich darin das Geheimnis eurer Herzen lesen können. Kampf und Not, Anfechtung und Ringen habe ich in jedem erkannt, in allen aber auch ein Übermaß von Tugend, wie es nur wenigen Irdischen zuteil wird.« Der Jüngling stockte, sein Blick blieb auf Mordred haften, und erst nach einer Weile fuhr er fort: »Einer aber unter euch ist so voll Sünde, daß niemand ihn zu entsühnen vermag. An ihm werdet ihr zugrunde gehen. Da ich euch nicht mehr helfen kann, muß ich von euch ziehen. Fragt nicht wohin.«
»Galahad«, schrie Artus schmerzzerrissen auf, »muß es denn wirklich sein? Bleib doch, bleib, auf daß die edelste und schönste Gemeinschaft auf Erden nicht elend zerbreche. Oh, ich habe diese Gemeinschaft meiner Ritter über alles geliebt.«
Doch Galahads Mund blieb stumm, schweigend schritt er von dannen. Aller Augen-füllten sich mit Tränen — nur Mordred, des Königs Artus Sohn, vergoß keine Zähre.
Die geheimnisvolle Opferschale
Mit tiefer Betrübnis im Herzen zog Galahad allein seines Weges dahin. Vier Tage waren verflossen, seit der Jüngling die Burg Kardiol verlassen hatte. Ein dichter Wald nahm ihn auf. Todmüde von der langen Reise in der Wildnis, bat er einen Einsiedler um Quartier. Er wurde in der Klause freundlich aufgenommen und mit einfacher Speise bewirtet.
Als sich der Ritter eine Nacht lang ausgeruht hatte, fragte ihn der fromme Mann, woher er komme und wer er sei.
Der Jüngling antwortete: »Ich bin der Ritter des ›Gefährlichen Platzes‹.«
»Galahad bist du?« rief der Einsiedler überrascht aus, »Galahad, der nur einen Tag lang am runden Tisch sitzen durfte. Galahad, für dich ist ein Abenteuer vorgesehen, so seltsam es vor dir noch keinem zuteil wurde. Nicht fern von hier am jenseitigen Ufer des Flusses Corbin steht ein Schloß mit hundert Türmen. Dorthin wende dich, aber habe wohl acht, die Jungfrau zu beschützen, die sich dir unterwegs zugesellen wird. Denn auf dem Schloß würde ihr Böses widerfahren.«
Noch einen Tag weilte Galahad in der Klause, um sich durch fromme Andacht für die Gefahren seiner weiteren Reise zu stärken. Dann brach er auf und erreichte bald den Fluß Corbin gerade an der Stelle, wo einst sein Vater Lanzelot übergesetzt hatte. So wie dieser sah auch er jetzt auf ragender Höhe die hunderttürmige Burg. Galahad hatte zwar den Namen seines Vaters von den frommen Frauen erfahren, doch von all den andern Abenteuern des Ritters vom See und von dem Erlebnis, das ihm in der Burg der hundert Türme begegnet war, wußte der Sohn nichts.
Galahad setzte über den Strom. Bevor er die Burgpforte erreichte, sah er am Wegrand eine Kapelle stehen. Er betrat sie, um ein kurzes Gebet zu verrichten. Auf dem Stein der Gruft aber, aus der einst der geflügelte Drache entwichen war, stand nun in Flammenschrift zu lesen: »Hebe den Stein!«
Galahad zog an den zwei schweren bronzenen Ringen, der Deckel hob sich und aus der Tiefe der Gruft zogen weiße, wallende Schleier. Sie schwebten hin und wieder und nahmen allmählich die Gestalt einer lieblichen Jungfrau an.
Errötend verneigte sich der Jüngste, den je eines Königs Schwert zum Ritter geschlagen hatte, und fragte: »Holdes Mädchen, wer hat Euch an meine Seite befohlen?«
Die Jungfrau erwiderte: »Ich habe mich freiwillig erbeten, mit Euch zu jenem Schloß der hundert Türme zu gehen.«
Als die beiden vor die Kapellentür traten, sahen sie, daß sich zu Galahads Schimmel ein schneeweißer Zelter gesellt hatte. Diesen bestieg die Jungfrau, und miteinander ritten sie auf das Schloß zu.
Ehe sie aber an ihrem Ziel anlangten, gewahrten sie zur Rechten der Straße einen Friedhof. »Man soll die Toten vor den Lebendigen ehren, haben mich die frommen Mütter gelehrt«, sagte Galahad und lenkte sein Roß an die geweihte Stätte heran. Vom Sattel aus vermochte der Jüngling den ganzen Platz zu übersehen. Sechzig Grabsteine zählte er, die sich in zwei Reihen nebeneinander über den kleinen Erdhügeln erhoben. Verwundert bemerkte der Held, daß ein Stein völlig dem andern glich. Er musterte die Inschriften, und es zeigte sich, daß in jedem dieser Gräber ein junges Mädchen ruhte, also sechzig Jungfrauen hier ihren ewigen Schlaf schliefen.
Galahads Antlitz erbleichte, unwillig entfuhr es seinem Munde: »Was soll das bedeuten … welches Geheimnis verbirgt dieser Ort? … Es dünkt mich, hier ward eine ungeheure Schandtat vollbracht, und das Schicksal hat mich dazu ausersehen, dem Verbrechen auf die Spur zu kommen.«
Während er zornbebend diese Worte hervorstieß, näherte sich ein alter Mann, den man zum Wächter dieses grausigen Friedhofes eingesetzt hatte. Ehrerbietig entblößte der Greis sein Haupt und sagte, zu Galahads Begleiterin gewendet: »Ach, seid Ihr gekommen, edle Jungfrau, um Euch den Ort anzusehen, auf dem Ihr morgen ruhen werdet? Es ist schön hier, glaubt mir, nur zur Nachtzeit, wenn die Nebel vom Fluß heraufziehen, wird’s ein wenig kühl.«
Galahads Hand fuhr zum Schwert: »Laß das Gefasel …!«
Doch unbeirrt fuhr der Grabwächter fort: »Wenn ich Euch so ansehe, junge Maid, dann muß ich sagen, Ihr seid wohl die Schönste von allen, die ich hier hüten muß. Ich will Euéh gewiß auch die schönsten Kränze und Blumen auf das Bett legen. Seid ohne Sorge, weil ihr die einundsechzigste Grube noch nicht seht. Bis morgen habe ich sie gewiß schon geschaufelt, und ich denke, dann wird es gerade recht an der Zeit sein.«
Unwirsch unterbrach Galahad das weitschweifige Geplapper des Alten: »Nun sagt mir doch endlich, was dies alles bedeutet.«
Der Greis entgegnete: »Ei, da wollt Ihr von einem alten, unbedeutenden Mann schier zu viel wissen. Ich kann Euch nur das eine sagen, daß jede Jungfrau, die hier an dem Schloß vorbeikommt, gefangengenommen wird. Am nächsten Tag sehe ich sie erst wieder, wenn man sie mir tot auf den Gottesacker bringt. Wohl hatte manche Jungfrau einen ebenso kühnen Begleiter, wie Ihr mir einer zu sein scheint, doch hat es den Armen nie geholfen.«
Nun wandte sich Galahad an das Mädchen und fragte: »Wollt Ihr nicht lieber mit mir umkehren und Euch jenseits des Flusses in Sicherheit bringen? Ich weiß eine Klause im Wald …«
Jäh wurde Galahads Rede durch das Kreischen des Burgtors, durch Stimmengewirr und Pferdegetrappel unterbrochen. Zehn Geharnischte brachen aus den Mauern des Schlosses hervor und sprengten in vollem Galopp auf den Jüngling und die Jungfrau zu. Erst als des jungen Ritters abwehrend vorgereckte Lanze den Helm des vordersten Reiters streifte, machte der Trupp halt. Drohend rief der Anführer: »Herr Ritter, geht uns die Magd heraus, denn jede Jungfrau, die hier vorbeikommt, sei es eines Bettlers oder eines Königs Kind, ist uns verfallen!«
»Ha«, gab Galahad zurück, »holt sie euch doch! Die Jungfrau steht unter meinem Schutz, und freiwing überlasse ich sie euch nicht als Beute.«
Die Geharnischten spornten ihre Gäule und titten wider den Jüngling an, der hier nun seinen ersten männermordenden Kampf austrug. Doch es lag eine göttliche Kraft in dem schlanken Leib des jungen Helden. Zehn Speere stießen mit Macht auf den Schild des einsamen Streiters, und sie alle vereint waren nicht imstande, den Ritter des »Gefährliohen Platzes« aus dem Sattel zu heben. Schnell ging Galahad zum Angriff über. Bald stürzte der erste der Gepanzerten mit dumpfem Fall vom Roß, so daß selbst die edle Jungfrau mit fröhlichem Lächeln ausrief: »Es scheint, als föchten da zehn Bauerntölpel und nicht zehn Ritter.«
Als sich die ganze Kumpanei, aus dem Sattel gestochen, auf dem Boden wälzte, öffnete sich das Burgtor ein zweitesmal, und heraus sprengten fünfzig Ritter.
»Fünfzig Ritter um ein armes Jungfräulein!« schrie Galahad empört; »wer sind die Tapferen, die glauben, mit solcher Heldentat ihren Ruhm zu mehren?«
Da tobte der Vorderste der Rotte: »Halt uns nicht auf, Knabe, und gib uns die Jungfrau heraus! Sie ist uns verfallen, weil sie in den Bezirk des hunderttürmigen Schlosses trat.«
Doch der Jüngling richtete sich im Bügel hoch auf und rief mit machtvoller Stimme: »Nun denn, reitet an!« Rasch zog er vom Leder, denn verstochen lag sein Speer im Gras, und nur das Schwert war ihm als Wehr verblieben.
Der Vormann der Gepanzerten brauste heran. Seine Lanze zerspellte an Galahads Schild. Nun riß auch er das Schwert von der Seite und trieb sein Roß dicht an des Jünglings Schimmel heran, damit sich die Klingen im Fechtkampf zu kreuzen vermöchten.
Heiß und kurz war der Gang. Dreimal versuchte der Gegner, die Deckung des jungen Helden zu zerschlagen, dreimal wies dieser den Angriff zurück, dann traf ein wuchtiger Hieb des Jünglings den stürmisch andrängenden Feind. Genau auf die Schulter kam der Schlag zu sitzen, zerriß den Panzer und trennte den rechten Arm des Ritters vom Leibe. Mit wildem Aufschrei sank der Getroffene unter Strömen von Blut auf die Erde.
Die übrigen Männer der Rotte erschraken über den Fall ihres Anführers so sehr, daß sie entsetzt aufschrien und zu Galahads Überraschung fluchtartig in die Burg zurückwichen.
Der Jüngling saß ab und schaute ratlos auf den ächzenden, todwunden Ritter. Sollte er helfen, oder war es besser, zu wenden und die Jungfrau in Sicherheit zu bringen? Wie lautete sein Auftrag: nur bis an das Schloß zu reiten oder in die Burg einzudringen?
Wie er so stand und den Himmel inständig um Erleuchtung oder doch wenigstens nur um das geringste Zeichen anflehte, an dem er den göttlichen Willen zu erkennen vermöchte, sich, da schwankte eine seltsame Gestalt des Weges daher. Das verschlissene Gewand, der derbe Knotenstock schienen auf einen Landstreicher zu deuten. In den Haaren trug der Mann einen Kranz von Feldblumen, ununterbrochen leierte sein Mund einen unverständlichen Sang. Sobald der Wanderer dicht herangekommen war, musterte er zuerst den Jüngling, hierauf die Jungfrau; als aber dann sein Blick auf den Schwerverletzten fiel, schrie er jammernd auf »Menschen … Tod … fort … fort!« Damit schickte er sich an, querfeldein zu rennen. Doch stöhnend rang es sich jetzt von den Lippen des Sterbenden: »Bleib!«
Kaum hatte der Waldläufer den Klang dieser Stimme gehört, da stockte sein Fuß. Der Knotenstock entfiel seiner Hand, verwirrt strich er sich über die Stirn. »Wer ruft mich?« murmelte er, »wo war ich …? Ist es lange her, oder war es erst gestern, daß ich diese Stimme vernahm? Tausend Jahre sind wie ein Tag, und ein Tag ist wie tausend Jahre, wenn es dem Höchsten gefällt.«
Damit beugte er sich nieder und hob mit zitternden Händen den Helm vom Haupt des Mannes, der zu Tode verwundet im Gras lag. Ein Blick in das bleiche Antütz des Ritters, und ein wilder Schrei brach aus dem Munde des Fremden: »König Pelles!«
»Bleib«, ächzte der zu Tod Getroffene, »bleib, Lanzelot vom See!«
Durch den Tränenschleier seiner Augen sah der Landstreicher nicht, daß nun der Jüngling dicht an seine Seite trat. Aber er fühlte, wie sich ein Arm um seine Schultern legte, hörte eine Stimme an seinem Ohr: »Die frommen Frauen, die den elternlosen Knaben aufzogen, kündeten ihm, sein Vater heiße Lanzelot vom See und seine Mutter Elaine.«
Am ganzen Leibe bebend, erwiderte der Waldmensch: »Dann bist du Galahad, der reine, makellose Jüngling. Dann bist du mein Sohn.«
Da straffte sich die Gestalt des verlotterten Gesellen, und wie er nun so stand, hoch aufgerichtet, mit blitzenden Augen, war nicht zu verkennen, daß ritterlicher Geist noch immer hinter dieser armseligen Ge— wandung sich berge.
Als wären innere Fesseln gesprengt, strömte es nun befreiend aus Lanzelots Mund: »Die Zeit meines Wahnes ist um. Während mein Geist betäubt im Grabe lag, ist ein anderer gekommen, stärker und reiner als ich. Doch er ist von meinem Fleisch und Blut, und darum ist sein Ruhm der meine. So laß uns denn miteinander durch die Welt ziehn, mein Sohn Galahad, und nie wird ein Ritter auf Erden deine Taten neidloser bewundern, als ich es tun will.«
Da hob sich der vom Schatten des Todes gezeichnete König mühsam empor, hob beschwörend den unverletzt gebliebenen Arm und stieß mit letzter Kraft die Worte hervor: »Erst rette deine Mutter, Galahad, rette meine Tochter Elaine! Hört mich an, was sich begeben hat. Als du, Jüngling, nach der Flucht deines Vaters geboren wurdest, kamen fromme Frauen im Auftrag des Höchsten, um dich nach einem fernen Kloster zu bringen. Vom Schloß aber nahm mit der Stunde, da du geschieden warst, wieder der Satan Besitz. Elaine fiel in eine schreckliche Krankheit, und eine Botschaft verkündete uns, sie könne nur dann gerettet werden, wenn eine Jungfrau ihr Blut für sie spende. Eine geheimnisvolle Hand brachte uns eine goldene Schüssel ins Haus, zugleich wurde uns bedeutet, daß sie bis an den Rand mit dem Blut des Opfers gefüllt werden müsse. Fehle nur ein Tropfen, so bliebe der Zauber unwirksam und Elaine müsse weiter leiden. Damals war es, daß ich und meine Ritter ein furchtbares Handwerk begannen. Jede Jungfrau, die in den Bannkreis des Schlosses mit den hundert Türmen geriet, brachten wir in unsere Gewalt und zwangen sie mit grausamer Hand, ihr Blut für die Kranke zu gehen. Dort auf dem Friedhof sind die sechzig Armen begraben, die wir nutzlos hinopferten. Nun hat sich in deiner Begleitung, Galahad, wieder eine Jungfrau dem Schlosse genaht. Schenk sie deiner Mutter, o Jüngling, denn ich bin gewiß, dieses Opfer wird nicht vergeblich bleiben.«
Galahad fuhr auf: »Ihr verlangt zu viel … Diese Jungfrau hat mir der Himmel nicht geschickt, damit ich sie zur Schlachtbank geleite.«
»Rette deine Mutter!« stöhnte der König.
»Oh, vor welch grausame Wahl bin ich gestellt!« rief klagend der Jüngling. »Ich glaube, der Satan hat sich solchen Zwiespalt ausgedacht.«
Schweigend hatte die Jungfrau bisher alles Geschehen verfolgt. Jetzt endlich öffneten sich ihre Lippen, und indes ein Schein überirdischer Verklärung ihren goldenen Scheitel umschwebte, sprach sie die erlösenden Worte: »Laßt mich in das Schloß gehen, Ritter des ›Gefährlichen Platzes‹! Es ist meine Sendung, Eure Mutter zu retten. Männer leisten hilfreiche Tat durch das Blut, das sie anderen im Kampf abnehmen, Frauen, indem sie das eigene opfern.«
Die Jungfrau zögerte nicht länger, sondern ritt geradewegs auf das Tor des Schlosses zu, das sich augenblicklich vor ihr öffnete und krachend hinter der Maid zuschlug.
Ein Tag qualvollen Wartens verstrich. Es kamen Ritter aus der Burg, um König Pelles zu holen, damit er dort seine Seele aushauche. Aber sie verrieten nicht, was sich hinter den Mauern des Schlosses zutrug. Lanzelot und sein Sohn verbrachten die Nacht auf dem Feldrain sitzend. Als die ersten Strahlen der Morgensonne die beiden Männer aus leichtem Schlummer erweckten, konnten sie zu ihrem Erstaunen das Schloß der hundert Türme nicht mehr erblicken. Es schien, als wäre es im Dunkel der Nacht an einen andern Ort entrückt werden.
Aber noch ein anderes Wunder begab sich: aus dem glitzernden Sonnenlicht heraus kam eine Frau geschritten. Als sie näher heran war, erkannten sie Lanzelots Augen: es war Elaine, sein Weib und Galahads Mutter.
Stumm umarmte die Frau ihren Gatten, Tränen der Freude flossen über ihre Wangen, als sie ihren Sohn in die Arme schloß. Mit leuchtendem Blick rief der Ritter vom See: »Wie glücklich bin ich, dich wiederzusehen, Elaine, du Liebe! Verzeih, was ich dir angetan habe!«
Die edle Frau erwiderte: »Auch mein Herz ist voll überquellenden Glücks. Nun sind wir für kurze Zeit wieder vereint.«
Erschreckt zuckte Lanzelot zusammen. »Soll das bedeuten«, fragte er mit bangender Stimme, »daß wir uns bald wieder trennen müssen? Zürnst du mir noch, Elaine?«
»Ich zürne dir nicht, Lanzelot«, hauchte die schmerzenreiche und mit so schwerem Opfer erlöste Frau, »doch höre, wie alles zusammenhängt. Wir lagen alle gefangen in den Banden der Hölle. Denn der Satan hat sich dieses Schloß der hundert Türme erbaut als Ebenbild der Heilsburg auf dem Berg Montsalvatsch. Er glaubte, der falsche Glanz seiner trügerischen Mauern würde die Menschen betören‘ so daß sie am Ende verwirrt statt des Heilands die Macht der Hölle anbeteten.
Ach, der satanische Plan des Herrschers der Finsternis drohte, furchtbare Gefahr über die ganze Menschheit heraufzubeschwören. Wehe, wenn der Betrug gelungen wäre! Ihn zu vereiteln, war nur die himmlische Kraft des heiligen Grals selbst imstande. Er hat eine makellose, zur Selbstaufopferung bereite Jungfrau vom heiligen Berg entsandt und sie durch einen reinen Helden an das Tor der Finsternis geleiten lassen. Nun hat das Licht gesiegt! Kaum war der letzte Blutstropfen den Adern der Jungfrau entströmt, sie selbst aber bleich neben die Bahre hingesunken, auf welcher der tote König Pelles lag, da erschütterte eine gewaltiges Beben die trügerische Burg, nachtschwarzes Grauen legte sich über meine Augen, und als ich meiner Sinne wieder mächtig wurde, war der teuflische Spuk verflogen. Ich stand im Frühschein der Sonne allein auf weitem Feld. Nun bin ich zu euch hierhergekommen.«
Schweigend hatte Lanzelot dem Bericht seiner Gattin gelauscht. Es rührte ihn in tiefster Seele, daß er das Werkzeug des göttlichen Willen hatte sein dürfen. Nun sagte er leise: »Laßt uns heimwärts wandern!«
»Heimwärts? Wohin?« fragte Elaine. »Soll meine Heimat der Hof des Königs Artus sein, wo du der Diener der Königin Ginevra bist?«
Lanzelot erschrak. Er wußte keinen Ausweg. »Laß uns wandern, immer; weiter wandern; gewiß wird uns Gott einmal den Ort zeigen, der unsere Heimat sein soll«, flüsterte er mit zuckenden Lippen.
Doch der Himmel hatte es anders beschlossen. Als sie das Ufer des Flusses erreichten, sahen sie eine Barke über den Strom dahertreiben. Es war gewiß das seltsamste Fahrzeug, das Lanzelot je erblickt hatte. Ohne daß jemand Ruder und Steuer bediente, strebte der Kahn sicher dem Ufer zu und legte an.
»Ach, unser Nachen ist gekommen«, rief Frau Elaine. »Komm, mein Sohn Galahad, wir wollen dem König Artus und Lanzelot voraus nach Avalun fahren, dem schönen Zauberland jenseits der großen See.«
»Avalun … herrliches Traumreich, Land der erfüllten Sehnsucht«, flüsterte Lanzelot, »wann bist du bereit, auch mich harten Kämpfer aufzunehmen? Lebt wohl, Elaine und Galahad, zu kurz war unser Beisammensein hier; könnte ich euch bald nach Avalun folgen!«
Elaine und Galahad bestiegen den Kahn. Sogleich löste sich dieser vom Wiesengestade und zog schwankend in die Mitte des Flusses hinaus. Langsam trieb er stromabwärts. Sinnend blickte Lanzelot den Davonziehenden nach. Als sie seinen Augen entschwunden waren, verebhte die große Traurigkeit in seinem Herzen. »Sie sind glücklich«, sagte er zu sich, »ich aber muß noch auf Erden kämpfen.«
Das unheilvolle Gastmahl
Lanzelot, der Vielgeprüfte, machte sich auf, wieder in die Welt zu ziehen. Nach langem Suchen fand er am Ufer ein Boot, mit dem er über den Fluß Corbin ruderte. Bald erreichte er den Kreuzweg, bei dem sich Gawan einst verirrt, er selbst aber den richtigen Steig nach der Burg mit den hundert Türmen gefunden hatte. Von dort führte ein Pfad durch weite Wälder geradewegs nach Karidol, wo König Artus zu eben dieser Zeit Hof hielt. Jetzt erst wurde sich Lanzelot bewußt, daß er noch immer die Lumpen am Leibe trug, in denen er jahrelang durch die Wälder geirrt war. »So kann ich nicht unter meine Gefährten vom runden Tisch treten«, rief er aus, »ich brauche Rüstung und Schwert.«
Während der Held noch darüber nachsann, wie diesem Mangel abzuhelfen sei, kam ein glänzend gerüsteter Ritter durch den Tann dahergetrabt. Lanzelot erkannte das Wappen: es war Mordred, König Artus’ Sohn.
Aus der Deckung eines Baumes hervorspringend, jauchzte der Ritter vom See: »Hei, das trifit sich gut, Ritter Mordred. Ich bin Lanzelot, Euer Gefährte vom runden Tisch. Wie Ihr seht, benötige ich einen Harnisch und eine gute Wehr; wollt Ihr mir nicht um unserer Freundschaft willen dazu verhelfen?«
Lanzelot sah finstere Augen hinter den Sehschlitzen des Topfhelmes funkeln. Eine giftige Stimme zischte: »Wenn Ihr wirklich Lanzelot seid, dann bleibt dort, wo Ihr Euch so lange herumgetrieben habt. Wart Ihr imstande, schier zwanzig Jahre auf uns zu verzichten, so werden wir Euch im einundzwanzigsten nicht vermissen.«
»Was redet Ihr da?«
»Ich sage nur, daß ein Ritter, der seine Waffen verloren hat, sie nur im Kampf wiedergewinnen kann.«
»Ich bin niemals besiegt werden; meine Waffen gingen nicht im Kampf verloren. Freiwillig ließ ich sie in einer Burg zurück, die heute nicht mehr steht.«
»Aus dem Weg!« schrie Mordred jetzt, da Lanzelots Hand herausfordernd in den Zaum des Rosses griff.
»Warum so aufgebracht?« versetzte Lanzelot ruhig; »plaudern wir lieber noch ein wenig; ich bin begierig, Neues von meinen Freunden vom runden Tisch zu hören.«
Wütend zog Mordred sein Schwert. Aber Lanzelot ließ sich nicht überraschen; mit gewaltigem Satz sprang der Ritter vom See auf das Pferd gerade hinter den Rücken seines tückischen Gegners. Mit kräftiger Faust griff er nach den Stahlschienen des Armschutzes und riß sie mit unvorstellbarer Kraft aus den Scharnieren, mit denen sie an den Achselplatten des Panzers hafteten.
Da überfiel Mordred eine zitternde Angst, es könne unter dem unheimlichen Würgegriff Lanzelots um sein Leben geschehen sein. Am besten wäre es, schoß ihm durch den Kopf, der ganzen Sache eine heitere Wendung zugeben, und also stieß er ein gepreßtes Lachen hervor: »Ho, Ihr seid mir ein rechter Spaßmacher, Lanzelot; es freut mich, daß Ihr auch als Waldläufer Euren heiteren Sinn nicht verloren habt. Laßt aber jetzt ab von mir, ich will Euch einen feinen Harnisch verschaffen.«
»Ha, Mordred«, lachte Lanzelot auf, ohne die eiserne Klammer seiner Hände zu lockern, »ich denke, Ihr braucht Euch nicht mehr weiter zu bemühen. Am einfachsten ist es, wir teilen die Rüstung, die Ihr am Leib habt. Die Armschienen habe ich Euch schon abgenommen, gebt mir nun noch die Beinschienen, den Helm und den Schild, damit ich den Rest meines Leibes decken kann. Ihr aber mögt das Mittelstück Eures guten Panzers behalten. Also wollen wir einziehen in Karidol.«
»Man wird mich verhöhnen, wenn ich berichten muß, wie ich um die Hälfte meiner Rüstung kam«, knirschte Mordred.
»Ach, laßt doch unsere Freunde ihren Spaß haben!« wies Lanzelot den Einwand lächelnd zurück und entwand jetzt mit unbarmherzigem Druck dem wehrlos vor ihm sitzenden Mann auch das Schwert.
Da der Artussohn einsah, daß er den Kampfplatz nicht lebend mehr verlassen würde, wenn er sich auf einen Kampf einließe, und daß er in Wahrheit von einem unbewaffneten Helden schon besiegt sei, willigte er in den Vorschlag ein. Innerlich aber schwor er furchtbare Rache für die Schmach, in dem lächerlichen Aufzug der halben Rüstung an den Hof seines Vaters zurückkehren zu müssen.
Stürmischer Jubel empfing Lanzelot, als er Schloß Karidol betrat. Mit heiteren Mienen nahmen die Helden den Bericht des Ritters vom See entgegen, wie er sich eine halbe Rüstung beschafft habe, um nicht als Waldläufer seinen Einzug halten zu müssen. Von all den andern Geschehnissen, die ihm in der langen Zeit seiner Abwesenheit begegnet waren, schwieg er vorerst, zu heilig schien ihm die Erinnerung daran, als daß er sie hätte preisgeben mögen.
Kurze Zeit nur verging, als Lanzelot merkte, daß mit den Helden der Tafelrunde eine große Veränderung vorgegangen sei. Der Zug unbekümmerten Frohsinns, lächelnden Mutes war aus den Mienen der Tapferen gewichen, ein Schatten trüher Schwermut lag über der edlen Gemeinschaft. Keiner der Helden brauchte sich den andern zu entdecken. Jeder wußte, wie alles zusammenhing, hatte das lähmende Gefühl, grauer, später Herbst sei über die Gemeinschaft vom runden Tisch hereingebrochen, seit der »Gefährliche Platz« wieder leer stand.
Es erfüllte sich das Wort der Offenbarung, daß das Reich des Vaters durch den Sohn zugrunde gehen sollte.
Ritter Mordred hatte nicht gezögert, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen. Dazu erschien ihm kein Mittel zu schlecht. Nicht einmal die Ehrfurcht vor der eigenen Mutter schreckte den haßerfüllten Gesellen von scheußlicher Verleumdung ab. Um Lanzelot zu Fall zu bringen, verdächtigte er den Helden und seine Mutter Ginevra, sträfliche Neigung zueinander zu hegen. Freilich hielt Gawan, der in Ehren grau gewordene Held, lange den Schild seiner hilfsbereiten Freundschaft schützend über Ginevras und Lanzelots Haupt. Artus gab auf Gawans Wort und Rat mehr als auf die Einflüsterungen seines Sohnes.
Da stellte schließlich das Schicksal eine heimtückische Falle, um das Verhängnis zu vollziehen. Frau Ginevra hatte ein großes Gastmahl für alle Ritter der Tafelrunde veranstaltet. Sie wollte mit diesem Fest die bösen Mäuler stopfen und vor allem Volk dartun, daß ihr alle Helden gleich lieb und wert seien, wie es auch der Wahrheit entsprach.
Nun liebte Gawan die Früchte der Bäume. Er pflegte sie zum Mittag- und Abendbrot stets in großen Mengen zu genießen, vor allem Äpfel und Birnen. So hatte Frau Ginevra, um besonders Gawan zu erfreuen, die edelsten Sorten dieser Früchte auf den Tisch bringen lassen. Es hat sich niemals erwiesen, wer es war, der einen vergifteten Apfel in Frau Ginevras Obstkörbe schmuggelte. Doch glaubten später viele, Ritter Pinel habe diese Untat begangen, weil er Gawan seinen Ruhm neidete und ihn auf diese Weise aus dem Weg räumen wollte.
Es ging gegen das Ende der Mahlzeit, und das Mißgeschick wollte es, daß einem weithin geachteten Edelmann namens Patrise die vergiftete Frucht in die Hände fiel. Kaum hatte der Ritter davon genossen, verfärbte sich sein Gesicht in greulicher Schwärze, der Leib schwoll auf, und der Unglückliche sank tot auf den Estrich hin. Die Ritter sprengen voll Entsetzen auf, doch wagte vorerst niemand, irgendeinen der Gesellschaft der grauenvollen Mordtat zu beziehtigen.
Mordred aber schlich heimlich zu seinem Vater und versuchte ihm einzuflüstern, daß niemand anderer als die Königin im Einverständnis mit Lanzelot die Urheberin der Schandtat sei. Ihm aber, Mordred, habe der heimtückische Pfeilschuß aus dem Hinterhalt gegolten, weil das ehrlose Paar gemerkt habe, daß sein wachsames Auge ihrer verbotenen Neigung auf der Spur sei.
Der ewigen Verleumdung müde, geriet König Artus in großen Zorn und schrie: »Mordred, der Ärger über deine Verdächtigungen wird mich noch ins Grab bringen. Laß endlich davon ab, sage ich dir! Wage nimmer, heimlich zu mir zu kommen! Hast du einen schlüssigen Beweis, dann tritt vor die Tafelrunde! Dort berichte, was du zu sagen hast!«
Über Mordreds Gesicht glitt ein tückisches Lächeln. Dann antwortete er: »Vater, ein solcher Grünschnabel ist Lanzelot nicht, daß du ihn fangen könntest wie einen halbflüggen Sperber. Doch wenn Ihr mir zusagt, Vater, mich im Stellen der Netze ein wenig zu unterstützen, dann mag ich Euch wohl versprechen, daß mir der Ritter vom See ins Garn geht.«
»Wie soll ich das verstehn?« fragte müde und traurig der König.
»So hört denn: Ihr braucht nicht mehr zu tun, als dem Ritter Lanzelot, wenn er Euch fragt, zu bestätigen, daß Ihr in der Tat den Verdacht hegt, die Königin habe den vergifteten Apfel auf die Festtafel gelegt. Deshalb wäret Ihr entschlossen, die Königin über glühendee Eisen schreiten zu lassen, um die Wahrheit zu erforschen.«
»Weh!« schrie Artus auf, »soll ich die Frau der Qual der Folterung unterwerfen?«
»Vater, einer Unschuldigen sengt die Glut nicht die zarteste Haut der Sohle! Aber das verlange ich gar nicht; ich begehre nur, daß Ihr dem Ritter Lanzelot jene Auskunft gebt, um die ich Euch bat. Das andere überlaßt getrost dem Schicksal und mir!«
»Ich habe nie gelogen und werde es nie tun«, brauste Artus auf, »und wenn ich mein unschuldiges Weib in der Folterkammer zerreißen müßte. Da der Hof voll Geflüster ist und ich endlich Klarheit haben will, so soll die Königin über den Feuerrost schreiten. Bist du nun zufrieden?«
Gawans Trotz
Als Lanzelot vom Entschluß des Königs hörte, fiel er in bittere Seelennot. Alle Fasern seines Herzens verlangten danach, die Königin zu warnen und sie seines Schutzes zu versichern. Er wollte Ginevra sprechen, um jeden Preis, selbst wenn er so weit gehen müßte, das strenge Gebot der Sitte frevelnd zu verletzen, das jedem fremden Mann den Zutritt zur Kemenate der hohen Frau verbietet.
Damit hatte Mordred gerechnet, und deshalb ließ er die Gemächer der Königin sorgsam überwachen. Um Mitternacht schlich sich Lanzelot wirklich in die Kemenate Frau Ginevras. Kaum war die Botschaft der Späher zu Mordreds Ohren gelangt, stürzte er vor die Tafelrunde. Dort erhob er die Anklage: »Großer König und ihr edle Ritter im Kreis. ihr könnt Frau Ginevra den Weg über das glühende Eisen ersparen und euer Urteil auf der Stelle sprechen. Wäre sie nicht schuldig und wollte Lanzelot die Frau nicht dem Zugriff ihrer Richter entziehen, niemals hätte der Ritter vom See es gewagt, die geheiligte Schwelle zum Gemach der Königin zu überschreiten. Also geschah es, und ich bezeuge es vor meinnem Gott.«
Erregt sprengen die Ritter von ihren Sitzen: »Was sagt Ihr da …? Lanzelot weilt in der Kemenate der Königin?! Noch nie ward so Ungeheuerliches ausgesprochen!«
Der König versuchte, die Wagen der Empörung zu glätten: »Ich bekenne, daß ich gegen die bösen Stimmen der Verleumdung nicht völlig taub geblieben bin. Aber mir sind Traumbilder erschienen, die mir kündeten, daß Ginevra und Lanzelot unschuldig sind. Der Herr im Himmel verzeihe mir mein Mißtrauen. Und wer würde es Lanzelot verargen, wenn er eine Unschuldige vor unverdienter Nachstellung und Qual erretten wollte?«
Als die Ritter vemahmen, daß überirdische Erscheinungen Artus’ wankenden Glauben an die Treue seiner Gattin wieder aufgerichtet hätten, verstummten sie und nahmen wieder Platz am runden Tisch. Mordred erbleichte, denn er hielt sein Spiel für verloren. Doch da entstand ihm ein unfreiwilliger, gewaltiger Helfer. Gawan erhob sich und sprach: »Ich meinesteils habe den bösen Verdächtigungen nie geglaubt. Jedoch bedenkt, mein Herr und König, daß nichts auf Erden dem Ritter vom See das Recht gab, die Kemenate der Königin zu betreten. Nur dafür, meine ich, müßte er uns Rede stehen. Und darum schlage ich vor, sendet mit Mordred zwölf Ritter in die Gemächer der Königin und fordert Lanzelot auf, vor der Tafelrunde zu erscheinen.«
Zögernd meinte der König: »Das bedeutet soviel wie die Erhebung der Klage!«
Gawan nickte ernst: »Beinahe schon ein Urteil! Denn unerhört hat Lanzelot gefrevelt.«
Wenn einer fragt, warum sich Artus Gawans Willen beugte, so muß ihm geantwortet werden: niemand ist frei auf Erden, auch ein so großer König wie Artus nicht. Auch er ist ein Gefangener seiner Zeit und ihrer Sitten, und auch ihm gebietet ein erhabenes Gesetz zutiefst in der Brust, einem so edlen Mann wie Gawan bei seinem wohlbegründeten Begehren zu willfahren.
Unter Mordreds Führung begaben sich also zwölf Ritter der Tafelrunde zur Kemenate der Königin. Sie waren so schwer gerüstet, als ginge es in eine Schlacht. Vor den Gemächern der hohen Frau angekommen, schrie Mordred: »Heraus, verräterischer Mann, und stellt Euch Euren Richtern!«
Als Ginevra den Lärm vor ihrem Gemach hörte, klagte sie: »Weh, Lanzelot, daß Ihr bei mir eingedrungen seid. Es wäre besser gewesen, Ihr hättet dem Schicksal seinen Lauf gelassen, und ich wäre über das glühende Eisen geschritten.«
Lanzelot erwiderte ehrerbietig, doch voll wilder Entschlossenheit: »Edle Frau, ich nahm Euch unter meinem Schutz, und ich allein habe zu verantworten, was sich nun ereignen wird. So leicht überwältigt man den Ritter vom See nicht.«
»Aber Ihr seid unbewaffnet«, warf die Königin ein.
Lanzelot lächelte: »Aber die draußen sind gerüstet, wie es scheint, und das zählt bei mir so viel, als hätte ich selbst ein Kettenhemd am Leib. Gebt acht, wie sich mein Wort erfüllt!«
Draußen aber polterte es weiter: »Heraus mit Euch, Verräter!« Da schob Lanzelot den Riegel zurück und öffnete die Türe einen Spalt. Schon drängte sich Ritter Colgrevance von Gove herein, ein Riese von Gestalt und an Kraft. Kaum hatte Colgrevance den Raum betreten, schlug Lanzelot die Tür wieder zu und zog den zolldicken Sperrbolzen vor die eichenen Bohlen. Mit einem Satz sprang er dann den Hünen an und entwand ihm mit ehemem Griff das gezückte Schwert. »Ich werde dich lehren, ein Frauengemach mit blankem Stahl zu betreten«, schrie er dem Ritter mit dröhnender Stimme entgegen und fällte den Riesen mit einem einzigen Streich. In fliegender Hast half hierauf die Königin ihrem Beschützer‘ den Toten den Harnisch vom Leib zu ziehen, den sich Lanzelot dann selbst umschnallte.
Draußen pochten die Schwertknäufe wie wütend gegen die Eichentür, und drohende Worte erklangen: »Elender Verräter, komm hervor, oder wir brechen das Holz auf!«
Die Tür aufreißend, sprang Lanzelot unter sie und schleuderte ihnen die Worte entgegen: »Erspart euch die Mühe und wehrt euch!«
Ungeheuer war der Zorn des Helden, zu riesenhaftem Maß wuchs seine Kraft. Wenn einer je daran gezweifelt hätte, jetzt wurde es Gewißheit: das Blut überirdischer Ahnen floß in den Adern des geheimnisvollen Mannes! Denn wer auf Erden hätte es vermocht, zwölf Ritter der Tafelrunde, Auslese der Besten auf der Welt, niederzumachen wie tölpische Bauern? Nur einer entkam, der feige Mordred, der entartete Sohn einer absterbenden Zeit, das Kind, das seine eigenen Eltern verriet.
Während Lanzelot Frau Ginevra in den Schutz seines Schlosses »Freudengarten« jenseits des Meeres hinwegführte, erschien Mordred vor der Tafelrunde, um von dem Entsetzlichen zu berichten, das sich vor der Kemenate der Königin abgespielt hatte.
Schmerzerfüllt wandte Artus sein Haupt zur Seite und mahnte tief aufseufzend: »Nun aber genug, Friede herrsche wieder an der Tafelrunde!«
Da fuhr Gawan von seinem Sitz auf, und ein düsterer Blitz schoß aus seinen Augen, als er in den Saal schrie: »Nein! Das läßt unsere Ehre nicht zu. Wir haben keine andere Wahl, als das Meer zu kreuzen und Lanzelots Fluchtnest auszuräuchern. Zu schwer ist der Frevel, mit dem er sich belastet hat.«
Murmeln der Zustimmung erhob sich in der Runde.
Der König stand auf. Ein düsterer Glanz brach aus seinen Augen, als spiegle sich darin das Grauen künftiger Ereignisse. Langsam, wie ein Seher, sprach er die prophetischen Worte: »O Himmel, mich dünkt, das Ende naht heran. Mit Tristan schied der erste meiner Ritter aus dem Leben, und nun sind ihm zwölf meiner Freunde gefolgt. Das Schicksal will uns beweisen, daß auch wir dem Gesetz alles Irdischen untertan sind, auch wir Männer des runden Tisches sind sterblich. Ich sehe feurige Zeichen am Himmel, mir bangt um die Zukunft.«
Gawans Ende
Von vielen Knappen und Reisigen begleitet, zogen nun die Helden der Tafelrunde unter der Führung ihres Königs über das Meer. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte Artus seinen Sohn Mordred beauftragt, die Herrschaft über sein Reich auszuüben.
»Freudengarten« war ein starker Platz, von hohen Wällen, spitzen Palisaden und klafterdicken Mauern geschützt. Da die Feste von einem so kühnen Herzen wie Lanzelot verteidigt wurde, schien sie beinahe uneinnehmbar. Wohl umschloß Artus mit seinen Rittern »Freudengarten« von allen Seiten. Sturmwelle auf Sturmwelle führte der große König selbst gegen die Mauern des Schlosses heran. »Verräter«, brandete das Feldgeschrei zu den Zinnen der Burg empor. Doch mit blutigen Köpfen wurden die Helden der Tafelrunde jedesmal abgewiesen. Viele sanken vor dem Schloß »Freudengarten« sterbend ins Gras, und seufzend klagte der König: »O du herrlicher Palast, wie trügerisch ist dein Name! Du sollst in Hinkunft ›Garten der Schmerzen‹ heißen.«
Der Sommer verging, es nahte der Herbst. Da geschah es, daß Lanzelot über die Wälle blickte und Gawan erspähte, den ein Erkundungsritt nahe an die Mauern des Schlosses herangeführt hatte.
Auch Gawan schleuderte dem einstigen Kampfgefährten den Ruf »Verräter« entgegen.
»Hört mich an«, gab der Held vom See zurück, »wenn Ihr mich einen Verräter nennt, beschuldigt Ihr zugleich die Königin. Ich schwöre Euch aber bei allen Heiligen, daß ich ihr mein Leben lang nicht unziemlich nahe getreten hin und daß sie hier auf dem Schloß abgeschieden wie in einem Kloster lebt.«
Gawan aber schrie: »Laß dein Geschwätz, verräterischer Bube! Niemand zeiht die Königin einer Sünde, aber es ist wahr, und du kannst es nicht leugnen, daß mit deinem frevelhaften Fuß zum erstenmal, seit Merlin die Tafelrunde eingesetzt hat, ein fremder Mann die Gemächer der hohen Frau betrat. Geschändet ist die heilige Ordnung, die von der Tafelrunde gehütet wird. Dafür fordern wir Sühne, nichts weiter …«
»Laßt ab, so zu rasen«, drang Lanzelot in den früheren Freund, »laßt ab, edler Gawan! Maß ist das Ziel aller Dinge, Übermaß aber ist Verderben. Zu viele schon sind für einen Wahnwitz gefallen. Besinnt Euch!«
Gawan erbot sich: »Wahrhaftig, viel Blut ist geflossen, nur zu wenig von dem Euren. Ich bin bereit, Euch zur Ader zu lassen. Reitet im Tjost wider mich an.«
So trat das Unfaßbare ein: zwei der größten Helden des Abendlandes, einst Freunde, maßen ihre Kräfte mit Speer und Schwert bis zur Vernichtung. Zu spät sprengte Artus heran, um das Unglück zu verhüten. Die Helden hatten ihre Speere schon verstochen und waren zum Schwertkampf geschritten. »Ritter des Verrats«, gellte es von Gawans Lippen, und ein wuchtiger Hieb splitterte das Wappenbild des schilfumkränzten Sees aus dem Schild seines Gegners. Aber, o weh, Lanzelots Gegenhieb traf schwerer. Der gewaltige Schlag riß das Schulterstück an Gawans Panzerhemd auf und hinterließ eine klaffende Wunde. Mit ungeheurer Willensanstrengung verbiß der Getroffene den Schmerz. Doch was vermag der Wille des Menschen gegen die übermächtige Kraft der Natur! Der Schwertarm, von Blut überronnen, erlahmte, die alte Stärke war dahin. Gawan, der Unbesieghare, der ruhmbekränzte Held, erwartete den tödlichen Streich.
Doch er blieb aus. Lanzelot ließ seine Waffe sinken und brach den Kampf ab. »Ihr seid kein weidwund getroffener Hirsch«, sagte er, »dem man den Fangstoß gibt. Pflegt Eure Wunden, und wenn sie geheilt sind, wollen Wir einander wieder begegnen.« Damit zog er sich hinter die festen Mauern der Burg zurück.
Mit zitternden Gliedern, bestürzt, gebrochen blieb Gawan auf dem Feld zurück. Der Gegner hatte ihn geschaut, wie alt, wie müde war er geworden!
Als Artus und Gawan wieder im Lager anlangten, erwartete sie schlimme Botschaft. Mordred hatte sich zum Herrscher ausgerufen und war mit einem Heer an die Küste gezogen, um die Heimkehr seines Vaters mit Gewalt zu verhindern. Als Artus diese üble Kunde vemahm, reckte er sich hoch auf in königlichem Zorn: »Ich sehe das furchtbare Ende nahen! Die Hälfte meiner Ritter ist im Schmerzensgarten im brudermordenden Kampf hingesunken, möge nun auch der Rest sein Schicksal erleiden und mit mir den Tod finden; aber ich muß die Landung ertrotzen!«
Auf der Stelle hob der König die Belagerung auf und kreuzte mit wildem Ruderschlag die See.
Wenige Tage später traf Artus mit einer großen Flotte von Seglern und Galeeren vor der Küste seines Reiches ein. Da stand aber schon Mordred mit einem wohlgerüsteten Heer. Artus ließ Boote aussetzen und befahl seinen Rittern und Knappen, damit das Ufer zu gewinnen. Doch Mordreds Männer stürzten ihren Gegnern schon im seichten Wasser entgegen, und mancher fand sein Grab in den Wellen, ehe er den Strand erreichte. Artus jedoch und Gawan, von den tapfersten Helden begleitet, betraten nach blutigem Kampf festen Boden. Als der Tag zu Ende ging, säumten Tausende von Toten das Ufer, Mordred hatte die Landung nicht verhindern können und sich ein kleines Stück landeinwärts zurückziehen müssen.
Der edle Gawan war zu Tode getroffen. Ein Hieb hatte seine alte Wunde an der Schulter aufgerissen, und nun vermochte nichts mehr den Blutstrom zu stillen. Man hatte den Helden auf ein Lager in einem Zelt gebettet. Gawan rief nach einem Schreiber.
Zu ihm sprach er mit ersterbender Stimme: »Nimm die Feder, Schreiber, und zeichne auf, was ich dir sage. Schreibe einen Brief an den edlen Lanzelot, den Ritter vom See. So setze es auf das Pergament: Ich sterbe an der Wunde, die ich von Euch empfangen habe, aber mein Tod entspringt nicht Eurer Schuld. Mit Absicht und Willen warf ich mein Leben hin. Edler Lanzelot, es hat sich enthüllt, daß Mordred, der Verruchte, alle Verleumdungen nur deshalb ausgestreut hat, um selbst auf den Thron zu gelangen. Verwirrung und Drangsal sollten den König, seinen Vater, umstürmen, damit der entartete Sohn das Ziel seiner frechen Wünsche um so leichter erreiche. Kommt schnell, Ritter vom See, wenn Ihr den König noch retten wollt. Eile tut not, die Ordnung der Welt ist gefährdet!«
»Die Unterschrift?« fragte der Schreiber.
»Gebt her Eure Feder, ich will sie in meine Wunde tauchen und mit meinem eigenen Blut das Schreiben bekräftigen.«
So tat Gawan, und mit dem flammenden Rot, aus der Tiefe seiner Herzader geschöpft, nahm er Abschied von einer Welt, die schön war, solange er lebte, und die mit ihm und seinem königlichen Herrn ins Grab sank.
Gawans Haupt fiel kraftlos in die Kissen — der große Held war tot.
Artus’ Entrückung ins Märchenland Avalun
In später Nachtstunde meldeten sich Boten Mordreds bei König Artus. Der rebellische Sohn ließ seinem Vater sagen, er wolle auf die Austragung der Schlacht verzichten, wenn er wenigstens einen Teil der Länder erhielte, die Artus sein eigen nenne. Artus möge sich also mit vierzehn Rittern bei Sonnenaufgang zwischen den Linien der beiden Heere einfinden, wo man über den Pakt beraten wolle.
Artus schrie auf: »Vierzehn Männer, wo nehme ich die her? Nur mehr einige Knappen sind mir geblieben, tot ist die ganze Tafelrunde, tot sind die besten Ritter der Welt! Sagt Mordred, daß ich der letzte bin. Er sei es nicht wert, daß ich mit ihm verhandle, nur die Vaterpflicht mache mich dazu bereit.«
Die Stunden rückten vor, und Artus warf sich zu kurzem Schlummer auf sein Lager hin. Schreckliche Bilder marterten sein Gehirn, ein wüster Traum gaukelte ihm vor, er sei in eine Schlangengrube geraten, wo sich giftige Vipern um seine Glieder ringelten und sie Stück um Stück abfraßen. Erwachend starrte er eine Zeitlang gepreßten Herzens in das Dunkel, und da schien es ihm, als schwebten Schatten durch den Zelteingang. Sie fluteten auf und ab und verdichteten sich endlich zu einer Gestalt, in der er bald den getreuen Gawan erkannte.
»Artus, mein gütiger König«, rannte der Geist, »der Herr des Himmels hat mir Urlaub gegeben aus dem Reich des Todes, damit ich Euch warne, morgen das Lager zu verlassen. Schlimme Zeiten stehen in den Sternen, und am Firmament flammt es rot wie Blut.«
»Ich werde also sterben, Gawan«, rief Artus.
»Ihr werdet sterben, Herr, wenn Ihr das Lager verlaßt. Verschiebt, was Ihr mit Mordred zu reden habt, auf einen andern Tag.«
»Edler Gawan«, antwortete Artus, »es muß sich vollenden, was uns gesetzt ist. Wir entrinnen unserem Schicksal nicht.«
Da seufzte der Geist tief auf, der Schatten verblaßte und entschwand.
Am nächsten Morgen ließ Artus sein Heer in Schlachtreihe aufstellen. Nur mehr Knappen und Knechte sammelten sich unter dem Geschmetter der Trompeten. Erzklirrend zogen, Artus gegenüber, die Truppen Mordreds auf. Zwischen den beiden Heeren trafen sich Vater und Sohn. Artus verlor kein Wort des Zorns. Das Übermaß seines Schmerzes ging weit über irdischen Groll hinaus.
Es wurde vereinbart, daß der Sohn zwei Länder des Vaters regieren solle, nach dessen Tod aber würde ihm die ganze Herrschaft zufallen. Nachdem diese Abmachung getroffen war, brachte man Tisch und Stühle. Auf der einen Seite ließ sich Artus’ nieder, die andere nahm Mordred mit vierzehn Rittern ein. Mundschenke füllten die Becher, die zum Zeichen des Friedensschlusses kreisen sollten. Artus winkte vierzehn Knappen heran, daß sie neben ihm Platz nähmen. »Kommt her zu mir«, rief er, »denn ich bin der letzte der Tafelrunde, und nun sollen die Knechte den Wein austrinken, der von dem großen Festmahl übrig geblieben ist.« Bei diesen Worten entrang sich ein verzweifeltes Lachen seiner Brust.
Die Knappen traten heran, Artus aber hob seinen Becher: »Ich gedenke der Toten vom runden Tisch. Er war nach Merlins Worten ein Gleichnis der Welt. Geht nun die Erdscheibe in Trümmer, da die Tafelrunde zerhauen im Feld liegt?«
»Die Welt geht nicht unter«, lachte Mordred. »Nur die Geschlechter vergehen, aber es wachsen neue heran.«
»Die Erde ist toter Stein, mein Sohn«, belehrte ihn der König, »und die Geschlechter stellen eben die Welt dar. Leb’ wohl, Tafelrunde, leb’ wohl, schöne Welt! Ritterstand, Ehre und hohe Zucht, seid ein letztesmal gegrüßt!« Damit leerte er seinen Becher auf einen Zug.
Da geschah es, daß sich eine Natter unter dem Tisch hervorringelte und am Bein eines der Männer Mordreds emporkroch. »Weh, mein Traum!« fuhr Artus auf.
Der Ritter, von des Königs Aufschrei erschreckt, griff nach dem Schwert, um die Schlange zu zerhauen. Auch die Knappen des Königs zogen die Klingen, um dem Ritter beizuspringen. Als die beiden Heersäulen dies von der Ferne sahen, glaubten sie, die Unterhändler seien in Streit geraten und die Schlacht entbrenne aufs neue. Trompetengeschmetter und Hornstöße gaben das Zeichen zum Kampf, und von schicksalhaftem Mißverstehen angestachelt, warfen sich die Streiter in wildem Grimm aufeinander. Ein entsetzliches Morden hob an.
Als Lanzelot am Abend dieses heißen Tages auf dem Schlachtfeld eintraf, fand er Mordred tot und seinen König schwer verwundet. Sie hatten einander im Zweikampf dahingerafft, der Vater den Sohn mit der Lanze durchbohrt, der Sohn aber im Fallen den Vater niedergeschlagen. Artus gebot Lanzelot, das Schwert Excalibur samt der wundertätigen Scheide in einem nahen Tümpel zu versenken. Lanzelot tat, wie ihm geheißen,und schleuderte Schneidestahl weit hinaus in die moorige Flut. Da reckte sich ein Arm aus dem Wasser, griff nach dem Schwert, schüttelte es drohend dreimal und verschwand mit ihm in der Tiefe.
Nachdem dies vollbracht war, hat der König den Ritter vom See, er möge ihn auf den Rücken nehmen und ans Meer tragen. Als sie an den Strand kamen, wartete dort bereits eine schwarze Barke. Darin saßen viele schwarzgekleidete Frauen, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen.
Nur eine bot ihr Antlitz fremdem Blick, und diese eine war die Königin eines fernen Reiches, das niemand kannte und das nur Artus mit begnadetem Blick in seinen Träumen erschaut hatte. Von Lanzelot gestützt, bestieg der König wankend den Nachen und bettete sein Haupt in den Schoß der erhabenen Frau. Diese streichelte die bleiche Stirn des Verwundeten und flüsterte: »Ach, deine Wunde ist schon kalt geworden; warum bist du so spät gekommen?«
Lanzelot schauderte, denn er verstand das alles nicht. Die Frauen griffen nach den Rudern, legten sie aus, und schnell entfernte sich die Barke vom Ufer. Ein leises, verklärtes Lächeln zog jetzt über das müde Antlitz des todwunden Königs.
Angstvoll rief Lanzelot: »Mein König, wohin geht Ihr?«
Dies aber waren des großen Königs Artus letzte Warte auf Erden: »Ich fahre nach Avalun. Das ist ein gar wundersames Land. Dort werde ich von meinen Wunden genesen.«
Langsam verschwand das Schiff in der unendlichen Weite des Ozeans. Lanzelot aber nahm von da ab keine Speise mehr zu sich, wurde matter und matter, bis der Tod sich seiner erbarmte. Frau Ginevra hat in einem fernen Kloster noch einige Jahre gelebt. Auch sie begrüßte den Tod als Erlöser von dieser irdischen Pilgerfahrt.
Die Leute aber sagen, König Artus sei nicht gestorben, sondern lebe nach dem Willen des Herrn im Märchenland Avalun, von wo er einst wiederkommen werde, wenn die Zeit dafür reif sei.