Hagen versenkt den Nibelungenhort
Siegfried war begraben. Der unglückliche König Siegmund rüstete zur Heimkehr. Er forderte Kriemhild auf, mit ihm nach Xanten zu ziehen. »Du sollst alle Gewalt behalten, die Siegfried besessen hat«, versprach er ihr. »Königin über das Reich am Niederrhein wirst du sein, und alle Lehensmänner, die meinem Sohn gedient haben, werden dir den Eid erneuern.«
Doch des Nibelungen Weib lehnte ab: »Der Tote hat mir nicht den Auftrag hinterlassen, sein Land zu regieren, sondern den Mord an ihm zu rächen. Erzieht meinen Knaben im Geist seines herrlichen und unglücklichen Vaters, er soll dereinst die Krone tragen.«
Da Siegmund und seine Getreuen dies hörten, wurde ihnen weh ums Herz, vielen standen Tränen in den Augen, und mancher klagte: »Weh dieser Fahrt, nun haben wir König und Königin verloren.« Und Siegmund fügte voll des Schmerzes hinzu: »Und ich Sohn und Tochter.«
In aller Stille verließ der greise Herrscher Worms. Nur Gernot und Giselher geleiteten ihn bis zur Landesgrenze.
Auf Kriemhilds Wunsch wurden ihr und ihrem Gesinde Zimmer in dem Palast angewiesen, die ganz abseits lagen. Die Trauernde verließ ihre Gemächer nur, um in das Münster oder an ihres Gatten Grab zu gehen. Vier Jahre lang blieb sie so in völliger Abgeschiedenheit, und nur hin und wieder wechselte sie einige Worte mit ihrer Mutter Ute oder mit Giselher. Es verletzte Gunters Stolz sehr, daß Kriemhild seine mehrmalige Bitte um eine Unterredung schnöde abgewiesen hatte. Der König klagte Hagen seinen Kummer. Der grimme Recke versetzte lebhaft: »Ich rate dir zur Versöhnung. Deine Schwester ist die Besitzerin des Nibelungenschatzes, und läßt sie ihn nach Worms kommen, können wir teilhaben an dem Reichtum.«
Wieder wie immer verfiel Gunter dem gewaltigen und machtgierigen Willen des Tronjers. Gleißend stieg das Bild des unermeßlichen Hortes vor ihm auf. Mit brennender Begier versetzte er: »Wie aber soll ich Kriemhild gewinnen? Weißt du da einen Rat, Oheim?«
Hagen lachte höhnisch auf: »Nun, ich bin der Rechte nicht, um bei deiner Schwester den Vermittler zu spielen. Ich glaube, mich haßt sie mehr als die Sünde. Doch schick Giselher zu ihr, er ist der einzige, auf den sie hört.«
So ward getan, wie er vorgeschlagen hatte.
Kriemhild versagte sich lange Giselhers innigem Flehen. Doch eines Tages tauchte in ihr plötzlich der geheime Gedanke auf, daß sie niemals Siegfrieds Tod würde sühnen können, wenn sie sich einsam vom Hofe fernhalte. Nur wenn sie mitten im Leben stünde, würde eines Tages die Gelegenheit, auf die sie geduldig harrte, jäh und riesengroß vor ihr stehen. So gab sie schließlich Giselhers Drängen nach. Freilich ließ sie ihn nicht im unklaren, daß sie nur einen äußeren Frieden zu schließen gedächte. »Mit dem Munde will ich Gunter Verzeihung gewähren«, sagte sie, »mit dem Herzen niemals.«
Gunter war jedoch froh, daß Kriemhild wenigstens so weit nachgegeben hatte. Es währte auch nicht lange, da wußte er sie zu bewegen, von Alberich die Auslieferung des Hortes zu begehren. Gernot und Giselher wurden mit achttausend Recken ausgesandt, den Schatz nach Worms zu holen. Der Zwergenkönig weigerte sich nicht, ihn herauszugeben. »Wir haben kein Recht«, erklärte er seinen zornentbrannten Räten, »Siegfrieds Weib das Erbe zu verweigern. Das einzige, was dem Helden allein gehörte, ist mit ihm dahingegangen: der fluchbeladene Ring und die Tarnkappe, die mit dem Tod ihres Trägers ihren Zauber verlieren mußte und jetzt nicht mehr wert ist denn ein Stück Silber.«
Wahrlich nicht umsonst hatte Hagen den Schatz so dringend begehrt. Zwölf große Wagen fuhren ohne Pause vom Berg zum Rhein hin und wider und brauchten noch vier Tage und Nächte, um all das Gold, die Edelsteine und das Geschmeide auf ein starkes Schiff zu bringen.
Kriemhild war nun maßlos reich. Doch der Besitz schien sie gleichgültig zu lassen. Sie übersah geflissentlich auch die begehrlichen Blicke Gunters und begann die Armen mit fürstlichen Geschenken zu überhäufen. Mancher, der als Bettler durch das Land gezogen war, wurde über Nacht zu einem wohlhabenden Mann.
Hagen verdroß das sehr. »Sie wirbt sich damit Anhänger und Getreue«, flüsterte er Gunter ein, »eines Tages haben wir dann die Feinde mitten unter uns. Solch ein Reichtum gehört nicht in die Hände einer Frau.«
Gunter schwankte zwar, doch ließ er es geschehen, daß der Tronjer die Schlüssel zu den Kammern, die den Schatz bergen, an sich nahm. »Nun ist der Schatz unser«, rannte er zum König, »und von dieser Stund ab dürfen wir uns Nibelungen nennen.«
Giselher zürnte jedoch: »Wahrlich, genug des Leides hat unser Oheim über Kriemhild gebracht, nun müssen wir Einhalt gebieten.«
Des Tronjers Entschluß war jedoch gefaßt. Wenn man ihm Widerstände machte, den Hort zur Meinung der Macht des Burgundenhauses auszunutzen, dann sollte er verschwinden. Er verstand es, die Könige zu bewegen, die Einladung eines befreundeten Königs anzunehmen und selbst unter dem Vorwand, daß ein starker Recke auf der Wacht in Worms zurückbleiben müßte, der Fahrt femzubleiben.
Nur wenige Tage nach der Abreise der Brüder drang der Tronjer mit ein paar handfesten Gesellen in die Schatzgewölbe ein, bemächtigte sich der gefüllten Truhen und ließ sie auf ein Schiff bringen. Damit fuhr er den Rhein ein gutes Stück aufwärts und dort, in der Nähe seiner Stammburg, wo die andrängenden Berge das Strombett verengen und gleichermaßen ins Bodenlose vertiefen, senkte er, von keines Spähers Auge gesehen, den Hort der Nibelungen hinab auf den Grund der grünlich schimmernden Flut. Dort ruht er noch heute und wird bleiben bis zum Jüngsten Tag …
Kriemhild erhob bittere Klage über den Raub, und auch Gernot und Giselher mißbilligten Hagens Tat. Aber was half’s? Gunter ließ nicht von dem külmen Recken, und freien und trotzigen Hauptes schritt er nach wie vor durch die Hallen der Burg in Worms.
Die Witwe fürchtete schließlich sogar für die sterblichen Überreste ihres Gatten. Vielleicht könnte es dem Unerbittlichen gutdünken, so dachte sie, auch noch das Andenken an Siegfried auslöschen zu wollen und die Gebeine des Helden in die Winde zu streuen. Sie ließ den Leichnam aus der Erde holen und fern im Kloster Lorch beisetzen. Frau Ute nahm den Schleier, und den Rest ihres Lebens widmete sie der Pflege des Heldengrabes in der Kirche des Stifts.