Kaiser Karls Zug nach Spanien

Wer kennt nicht die Sage vom großen Kaiser Karl, der im Innern des mächtigen Untersberges bei Salzburg in tiefen Schlaf versunken ruht und erst, wenn seine Zeit gekommen ist, mit großem Gefolge und aller Pracht und Herrlichkeit aus dem Berg heraussteigen wird, um sein mächtiges Reich wieder zu errichten?

Von den Gestaden des Atlantischen Ozeans bis in die Waldgebirge Deutschlands, vom grünen Nordseestrand bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen erstreckte sich des Kaisers Reich. In ihm herrschte Friede zwischen den Völkern; der christliche Glaube und ein starker, gottesfürchtiger Sinn verbanden seine Bewohner. In Ehrfurcht sprechen die Menschen auch heute noch von ihm. Freilich hatte das Christentum auch außerhalb der Grenzen des Reiches seinen Siegeszug schon angetreten, doch lag es noch manchenorts in hartem Kampf mit dem Heidentum. Die Streiter Christi in aller Welt aber hatten ihre ganze Hoffnung auf Karl als den obersten Schirmherrn des rechten Glaubens gesetzt.

Sorgenvoll blickte der Herr des Abendlandes vor allem nach dem sonnigen Spanien, wo der Islam das Kreuz Christi schwer bedrängte. Wenn der Kaiser an die erbitterten Kämpfe dachte, die die Gläubigen in Spanien auszufechten hatten, senkten sich die Schatten der Trauer auf seine Stirn.

Die Mauren, die den Koran und die grüne Fahne des Propheten aus dem Morgenland nach Spanien gebracht hatten, hielten weite Gebiete der Iberischen Halbinsel besetzt; einer ihrer mächtigsten Könige hieß Marsilie. Zu Saragossa, im fruchtbaren Tal des Ebro, hatte er seinen Herrschersitz aufgeschlagen. Lange Zeit schien es, als hätten der wahre Glauben und die christlichen Bewohner des Landes nichts von ihm zu befürchten, ja, der Maurenkönig sandte sogar Zeichen seiner Ergebenheit an Kaiser Karl. Als aber seine Macht gewachsen war, zeigte er sein wahres Gesicht, ließ zuerst die christlichen Kirchen in der Stadt und ihrer Umgebung zerstören und suchte dann den Islam auch in entfernteren Gegenden mit Gewalt zu verankern. Da sich die Verfolgten tapfer zur Wehr setzten, rief Marsilie einen andern Maurenfürsten übers Meer herbei; furchtbar wüteten die Schwerter der Sarazenenfürsten unter den Christen. Sie bemächtigten sich der Stadt Tortosa am unteren Ebro und schwangen von da aus ihre harte Geißel weithin über die Lande.

In ihrer Not beschlossen die Christen, Kaiser Karl um Hilfe zu bitten.

An vielen Stellen des weiten Reiches erhoben sich die Burgen des Kaisers, die Pfalzen, von wo aus er sein Reich regierte; es gab Pfalzen am Rhein, an der Seine, an der Rhone und eine gar ferne in den südlichen Alpen auf dem Zollfeld in Kärnten, wo sie heute noch zu sehen ist. Am liebsten aber weilte der Herrscher in der Pfalz zu Aachen, und dorthin wandten sich die Boten aus dem Süden.

Als der Kaiser die schlimmen Nachrichten aus Spanien hörte, fuhr er in wildem Schmerz, rasend vor Grimm, von seinem Throne empor und rief: »Diese Schmach werde ich rächen, beim ewigen Gott! Die ganze Macht meines Reiches will ich nach Spanien werfen, Marsilie und die Heiden sollen mir ihre Untaten büßen.« Ungesäumt befahl er seine Paladine zu sich, die kampfbewährten Helden mit dem streitbaren Erzbischof Turpin an der Spitze. Fürwahr, da erschien die Blüte aller Ritterschaft; es kamen die jungen Helden Roland und Oliver, die kühnen Grafen Walther und Otto, der listige Ganelon und die andern Edlen aus dem Frankenland, vom Rhein, von der Donau.

Keiner aber war dem großen Herrscher so sehr ans Herz gewachsen wie seiner Schwester Sohn Roland. Dieser hatte sich trotz seiner Jugend schon in vielen Schlachten bewährt und Ruhm sondergleichen an seinen Namen geheftet. Wo Roland das Schwert für seinen kaiserlichen Herrn und den Christengott zog, da erzitterten die Widersacher in bleicher Furcht. Drei kostbare Schätze nannte der Heldenjüngling sein eigen. Zum ersten sein Schwert Durendart, was so viel bedeutet wie unzerbrechlicher Stahl. Ja, Durendart war eine herrliche Klinge, doch führte noch mancher Paladin ein Schwert von gleich erlesener Art. Unübertroffen aber war sein Horn Olifant. Stieß Roland mit Macht in die Silberdrommete, dann dröhnte ihr Ton meilenweit wie der Donner des Himmels. Das dritte köstliche Gut, das Roland besaß, diente nicht Kaiser und Reich, sondern war dem Herzen des Jünglings allein zu eigeri: Auda, seines Freundes Oliver liebliches Schwesterlein. Er gedachte, die Jungfrau bald als sein Ehegemahl heimzuführen.

Das Schicksal freilich hatte es anders beschlossen. Der heilige Krieg gegen die Mauren ward durch des Kaisers Mund verkündet, und begeistert fielen Roland und Oliver in den Ruf der andern Helden ein: »Wider die Ungläubigen, für unsere christlichen Brüder im Süden all unsern Mut, all unser Blut!«

An der Spitze eines großen Heeres zog Kaiser Karl gegen Spanien. Und es war höchste Zeit. Denn schon hatten große Scharen von Sarazenen die Pyrenäen überschritten und verbreiteten Furcht und Schrecken im benachbarten Frankenland. Als der Maurenfürst aber den gewaltigen Heerbann der Christenheit heranrücken sah, zog er sich wieder nach Spanien zurück. Doch der Herr des Abendlandes folgte ihm und führte seine Mannen auf den steinigen Boden der Halbinsel, grimmig entschlossen den Streitern Christi Hilfe und Erlösun von ihren Bedrängern zu bringen.

Ehe Karl sein Panier zu kriegerischen Taten entfaltete, wollte er noch einmal auf friedlichem Wege versuchen, die Mauren zur Duldung des christlichen Glaubens zu bewegen. Eingedenk seiner früheren Freundschaft mit Marsilie, schickte er eine Gesandtschaft nach Saragossa, um dem Sarazenenfürsten einen gütlichen Vergleich vorzuschlagen.

Doch Marsilie wollte von Verhandlungen nichts wissen, ließ die Boten auf grausame Weise töten und sandte dem Kaiser die höhnische Antwort: »Versuch es nur, den Ebro zu überschreiten! Zwei uneinnehmbare Bollwerke, die Pfeiler des Tores nach Spanien, bewachen den großen Strom, sie heißen Saragossa und Tortosa.«

Der tückische Mord, mit dem das urewig heilige, unverletzbare Recht der Gesandten gebrochen worden war, empörte Karl zutiefst. Voll Grimm warf er sich zuerst auf die Stadt Tortosa. Von Entsetzen gepackt, sah Marsilie das mächtige Heer herannahen, und noch mehr erschrak er, als er inmitten der Heerscharen am wehenden weißen Bart den Kaiser selbst erkannte. Als aber gar ein dröhnender Klang die Luft erschütterte, da umkrampfte zitternde Furcht das Herz des Maurenfürsten, und er schrie: »Web uns, ich höre Olifant, Rolands Horn, nun sind wir alle verloren!«

Weder Wälle noch Mauern und Palisaden vermochten dem Ansturm der Franken zu wehren, und so tapfer sich auch die Mauren schlugen, sie wurden bis auf den letzten Mann niedergemacht.

Marsilie war über den unerwarteten Fall von Tortosa aufs höchste bestürzt, glaubte aber, Karl werde sich nicht weiter nach Spanien vorwagen, denn viele maurische Festungen zogen sich wie eine unzerreißbare Kette bis weit nach Süden hinab.

In der Stadt Cordoba war die Kunst der Mauren zur höchsten Blüte gelangt, hier hatte sich maurisches Leben aufs glanzvollste entfaltet. Da standen Moscheen und Paläste, deren Mauerwerk so fein ziseliert war wie Spitzen; dort, von mächtigen Wällen geschützt, fühlte sich die maurische Herrschaft so sicher wie in ihrer Heimat Arabien.

Doch Stadt um Stadt fiel in die Hände der Franken, und zuletzt mußte sich auch das stolze Cordoba dem fremden Eroberer beugen.

Jetzt trotzte nur mehr Saragossa dem großen Herrn des Abendlandes.