Kriemhilds Racheplan
In Frieden und Eintracht gingen die Tage auf Etzels Burg dahin. In hohen Ehren lebte Kriemhild an der Seite ihres Cemahls, und groß war die Freude, als dem Paar nach einem Jahr ein Söhnchen geschenkt ward, das in der Taufe den Namen Ortlieb empfing. Es wuchs lieblich heran, war gesund und schön von Angesicht, nur sehr zart von Wuchs und feingliedrig fast wie ein Mädchen. Etzel liebte diesen spätgeborenen Sproß seines Stammes über alles, und auch die Mutter verzärtelte den Knaben. Freilich, so zufrieden sich die Königin ihrer Umgebung zeigte, in die Tiefe ihres Herzens drang kein Strahl der freundlichen Sonne, die über der Etzelburg leuchtete. Unablässig mahnten sie innere Stimmen, ihrer Pflicht eingedenk zu sein und mit härtester Strafe Siegfrieds Tod zu sühnen. Viele Pläne schmiedete sie in der Verborgenheit ihrer Brust, um sie wieder zu verwerfen. Erst als sie die Gewißheit empfand, daß ihr Etzel unlösbar verbunden sei und keinen Wunsch abschlagen werde, beschloß sie, zur Tat zu schreiten.
Das war genau sieben Jahre nach ihrer Ankunft im Hunnenland und am Abend eines Tages, da sich Etzel ihr besonders huldvoll gezeigt hatte. Angetan mit der ganzen Pracht eines Geschmeides, das vom König eben aus dem Tribut eines zinspflichtigen Volkes ausgewählt und seiner Gattin zu Füßen gelegt worden war, trat sie in noch immer berückender Schönheit vor den Gemahl hin und sagte: »Wie würden sich meine Brüder und Freunde in Burgund freuen, wenn sie sehen könnten, wie mich Etzels Liebe verwöhnt.«
Die schlau berechneten Worte taten ihre Wirkung. Lebhaft rügte sich der König also selbst: »Verzeih mir, Holde, daß du mich erst daran erinnern mußtest, wie sehr dich nach einem Wiedersehen mit deinen Anverwandten verlangt.«
»Es ist nicht Sehnsucht allein«, beteuerte Kriemhild, »die mich zu einer Begegnung mit den Burgunden drängt. Wahrlich, ich habe so viel liebreiche Freundlichkeit meines Gatten zu erwidern, daß für andere Gefühle nicht mehr viel Platz in meinem Busen bleibt. Es ist etwas, das mich bedrückt …«
»Sprich dich ohne Sorge und Rückhalt mit mir aus«, fiel Etzel seinem Weib zärtlich ins Wort, »du weißt, daß ich alles, was in meiner Macht steht, für dich tun werde.«
»Nun denn«, versetzte die Königin, »so will ich dir verraten, was mir schon lange auf der Seele brennt. Man hat mir zugetragen, dein Hof sei sehr verwundert, daß sich niemals Freunde von mir zeigten. Insgeheim soll man mich deshalb ein wenig geringschätzig ›die Fremde‹ nennen und an meiner hohen Abkunft zweifeln. Mir läge sehr am Herzen, wenn ich die Quelle solcher Schmähreden verstopfen könnte.«
»Und du glaubst«, ergänzte der Gemahl den Gedanken seiner Gattin, »das Auftreten deiner stolzen Geschwister und ihrer Mannen hier im Hunnenland würde den Schatten, der auf dein Ansehen gefallen ist, beseitigen?«
Darauf erwiderte Kriemhild: »Ja, Etzel, du hast mir das Wort aus dem Mund genommen. Genau das denke ich.«
»Nun, da kann dir geholfen werden«, rief der Herrscher gutmütig aus, »alsogleich will ich meine Spielleute Werbel und Schwemmel nach Worms schicken und deine Anverwandten und die kühnsten Burgunden— recken zum Fest der Sommersonnenwende auf meine Burg laden. Bist du damit zufrieden?«
Statt einer Antwort küßte Kriemhild ihren Gatten, indes ihr Busen fast zersprang im Andrang wilder Freude. Sie näherte sich nun endlich ihrem Ziel. Nur eine Sorge trug sie, der schlaue Hagen könnte versuchen, der Einladung auszuweichen, und ihre Brüder würden ohne den kommen, den der Rache schwerstes Gewicht zermalmen sollte. Sie ließ daher die Boten kurz vor der Stunde, die ihnen zur Abreise angegeben worden war, zu sich bescheiden und trug ihnen auf: »Grüßt mir innigst meine Brüder, und vor allem sagt Giselher, daß ich mich auf sein Kommen freue. Denn nie habe er mir ein Leid getan, immer sei er liebreich und gut zu mir gewesen. Sagt ihnen, wie schön ich es hier hätte in Etzelburg und daß mein Glück vollkommen wäre, wenn die Burgunden hier für meine hohe Abkunft zeugten. Wenn ihr alles richtig bestellt habt, und meine Brüder hier wohlbehalten eingetroffen sind, dann sollt ihr hohen Lohn empfangen.«
Einen Augenblick stockte die Königin jetzt, sammelte sich aber rasch und fuhr fort: »Es könnte leicht geschehen, daß sich als einziger Hagen von Tronje weigert, die Fahrt an die Donau mitzumachen. Solltet ihr solches hören, laßt nicht ab, in den Helden zu dringen, bis auch er sich zur Reise entschließt.«
Werbel und Schwemmel wunderten sich, daß die Königin so viel Wert darauf zu legen schien, gerade Hagen in Etzelburg zu sehen, versprachen aber auszuführen, was ihnen aufgetragen worden war. Mit der strengen Mahnung: »Vergeßt mir Hagen nicht!« wurden sie von Kriemhild entlassen.
Sich und die Pferde nicht schonend, ritten sie los. Etzels Macht schirmte sie auf den fernsten Pfaden, denn keinem Räuber schien es geraten, den Boten des mächtigen Hunnenkönigs aufzulauern, kein Fürst wehrte ihnen den Durchzug, keine Stadt schloß vor ihnen die Tore. Und so kamen sie dann schnell nach Worms.