Hagen und Hilde

In Irland herrschte ein mächtiger König, der hieß Siegband. Er hatte ein schönes junges Weib, das hieß Ute; und als sie drei Jahre miteinander vermählt waren, da brachte die Königin ein edles Kind zur Welt, das wurde Hagen genannt.

Einst geschah es, daß König Sieghand ein großes Fest feierte; glänzende Turniere und andere Lustbarkeiten wurden gehalten. Am zehnten Morgen des Festes saß der König frohgemut in seinem Saal, von allen seinen Freunden und Gästen umgeben. Sie lauschten dem heitern Gesang eines Spielmanns, der oft durch schallendes Gelächter unterbrochen wurde.

Inzwischen weilte der kleine Hagen im Garten vor dem Palast, nur von einer Dienerin begleitet. Da wurde es plötzlich schattig auf der Erde, als ob eine schwarze Wolke am Himmel aufzöge; ein ungeheurer Greif kam über den Palast geflogen. Die Dienerin floh erschreckt davon und ließ das Kind allein vor dem Hause stehen. Der Greif aber schwang sich herab, packte den schreienden Knaben mit den Krallen und führte ihn hoch durch die Wolken davon zu seinem fernen Neste. Als das der Irenkönig erfuhr, da war mit einem Schlag alle Fröhlichkeit zu Ende.

Nun kam der wilde Vogel zu seiner Brut zurück und ließ das Kind aus seinen Klauen mitten unter die jungen Greifen fallen. Dann flog er wieder davon, um neue Beute zu suchen. Die Jungen hätten den armen kleinen Hagen am liebsten zerrissen, doch der stärkste von ihnen packte ihn und flatterte mit ihm aus dem Neste auf einen Baum des dichten Waldes. Wie er sich aber auf einen Ast setzen wollte, brach dieser entzwei, der Vogel erschrak und ließ das Kind fallen, das sich eiligst in Gras und Gebüsch versteckte, während der junge Greif mühsam in das Nest zurückflatterte. So wurde der Königssohn gerettet.

In dem Walde wohnten damals drei schöne Königstöchter, die der Greif früher dahingetragen hatte und die auf gleiche Weise dem Tod entgangen waren. In einer Felsenhöhle hielten sie sich verborgen. Die sahen nun das Kind durch das Dickicht einherschleichen und meinten, da käme ein tückischer Zwerg. daher oder ein Meerwunder, das ans Land gestiegen. Darum wichen sie angstvoll in ihre Höhle zurück. Da sprach das edle Kind: »Ach, ihr schönen Jungfrauen, laßt mich bei euch wohnen! Ich bin kein schlimmer Unhold, sondern auf Christi Namen getauft. Der wilde Greif hat mich hierher verschleppt.«

Da nahmen sie ihn freundlich auf. Er aber sprach: »Ich habe Hunger.« Und sie suchten sogleich Wurzeln und Kräuter und gaben sie dem kleinen Königssohn; das war die einzige Speise, die sie hatten. So wohnte er manches Jahr in der Wildnis und wuchs rasch zu einem kräftigen Jüngling heran.

Eines Morgens sah Hagen am Ufer des Meeres allerlei Gerät von Schiffsleuten liegen, denn es war dort ein Schiff gestrandet. Leise schlich er sich ans Gestade, um von dem Greifen nicht bemerkt zu werden, und fand da einen toten Mann in voller Rüstung liegen. Sogleich zog er ihm den Panzer ab und bekleidete sich damit, dazu nahm er des Ertrunkenen Bogen und Schwert. Kaum hatte er sich so gewappnet, da hörte er’s über sich in der Luft rauschen: der Greif kam dahergeflogen. Es war zu spät, um zur Höhle zu fliehen. Der grimmige Vogel schwang sich nieder, um seinen alten Nestgenossen zu packen; der aber stand bereit, sich zu wehren. So jung er war, so setzte er ihm doch gewaltig zu und hieb ihm einen Flügel- und ein Bein ab, so daß der Greif sein Leben lassen mußte.

Nach dieser kühnen Tat rief Hagen die drei Jungfrauen aus der Felsenhöhle und hieß sie in Gottes freier Luft ergehen. Da konnten sie nun ohne Furcht umherwandeln, wohin ihr Herz begehrte; denn die jungen Greifen waren vor Schrecken weggeflogen und kamen nicht wieder nach dem Eiland.

Seitdem lernte Hagen gar trefflich schießen und erlegte Vögel und anderes Wild. Doch konnten sie das Fleisch nicht genießen, weil sie kein Feuer auf der Insel hatten. Bald aber fand er ein Mittel: mit seinem Schwert schlug er Funken aus dem Felsen; die sprengen in das dürfe Laub, das die Mägdlein zusammengehäuft hatten. Und schnell flackerte ein lustiges Feuer in die Höhe. Nun hatten sie, was sie so lange entbehrten, und die edlen Frauen wendeten mit eigner Hand die Braten am Spieß. Durch das Fleisch, das sie aßen, gewannen sie frische Kraft für Leib und Seele. SChön und lieblich waren die Jungfrauen anzusehen, der wilde Hagen aber bekam Zwölfmännerkraft und wurde ein gewaltiger Recke.

Die Mägdlein und der junge Hagen schauten alltäglich über die Flut hinaus, ob sich nicht ein Schiff zeigte, das sie mitnehmen könnte. Endlich eines Morgens früh erblickte Hagen ein großes Schiff und fing an zu rufen und zu winken; auch die drei Jungfrauen eilten an das Gestade. Die Schiffer aber wollten zuerst nicht landen, denn sie hielten die am Ufer Stehenden für Kobolde oder Meerwunder. Da sprang der Herr des Fahrzeugs, ein reicher Graf aus der Nähe von Irland, mit elf Genossen in einen Kahn und ruderte, von Neugier getrieben, nach der Insel. Als er sah, daß er menschliche Wesen vor sich habe, nahm er sie alle mit auf sein Schiff.

Nachdem sich die vier Leidensgefährten mit Speise und Trank gelabt hatten, erzählten sie dem Grafen ihre Schicksale. »Ich bin«, sprach die älteste der Jungfrauen, »im fernen Inderland geboren und eines Königs Kind.« — »Mich hat der Greif«, sprach die zweite, »aus Portugal entführt; dort lebte ein stolzer König, den ich Vater nannte.« Und die Jüngste sagte: »Ich bin aus dem Iserlande und auch von königlichem Blute.«

Zuletzt sprach Hagen: »Auch mich hat der Greif meiner Heimat entrissen; mein Vater heißt König Siegband von Irland.« Kaum hatte das der Graf gehört, da rief er: »Heil mir! Du kommst zur rechten Stunde! Wisse, deine Blutsfreunde haben mir manches schwere Leid angetan. Damm will ich dich als Geisel mit mir führen.« Da antwortete Hagen: »Was meine Freunde Euch zuleide taten, daran trage ich keine Schuld. Darum bringt mich zu meinem Vater zurück; der wird es Euch königlich danken, das schwöre ich Euch. All eure Feindschaft soll ein Ende nehmen.«

Aber auf des Grafen Befehl drangen etliche vom Schiffsvolk auf ihn ein, um ihn zu fesseln. Da packte er ergrimmt einen nach dem andern bei den Haaren und schleuderte ihrer dreißig in die Wellen hinaus, daß sie ertranken. Hätten sich nicht die Frauen ins Mittel gelegt, er hätte dem Grafen selbst das gleiche getan. So wagte niemand mehr, sich dem jungen Helden zu widersetzen, und das Schiff steuerte nach Irland.

Nach einigen Tagen sah der Königssohn eine Burg mit hundert Türmen ragen; die kannte er wohl von seiner Kindheit her; denn dort wohnte König Siegband mit seinem Weihe. Da sandte er zwölf Boten voraus. Die fuhren in einem Nachen an das Ufer hinüber und gingen nach Siegbands Burg. Als sie in den Saal traten, zürnte der König, denn er erkannte sogleich seine Feinde. »Wie könnt ihr es wagen, zu mir zu kommen?« fragte er sie. Sie aber sprachen: »Uns sendet dein Sohn, der junge Hagen. Wenn du ihn sehen willst, er wartet draußen am Meeresstrand.« — »Ihr lügt ohne Not«, antwortete Siegband traurig, »er ist mir entrissen; mit Herzeleid muß ich stets an meines Kindes Tod denken.« Da sagten die Boten: »Fraget Euer Weib, ob Euer Söhnlein nicht ein goldnes Kreuz zwischen den Schultern trug.«

Als man das Frau Ute hinterbrachte, eilte sie sogleich mit ihrem Hofgesinde hinaus an den Strand, und der König folgte ihr. Dort fanden sie den jungen Hagen, und die Königin hatte bald das Kreuzeszeichen entdeckt und fiel ihrem geliebten Kinde weinend um den Hals. Da war großer Jubel in ganz Irland, daß der verloren geglaubte Königssohn wieder zurückgekehrt war. Auch die drei ]ungfrauen wurden von König Siegband und Ute gar freundlich aufgenommen, und Hagen söhnte den Grafen mit seinen Eltern völlig aus.

Der Ruhm von Hagens Kraft und Kühnheit erscholl bald in allen Landau. Da rieten ihm seine Freunde, um ein Weib zu werben, und er sprach: »Gern will ich das tun, wenn meine Herzgeliebte mit mir die Krone tragen soll; denn ihr will ich nun vergelten, was sie in trüber Zeit mir zuliebe tat.« Sie fragten, wer die Frau wäre; er sprach: »Das ist Frau Hilde, die schöne Maid vom Inderlande.« Das hießen alle gut, und so wurden die beiden gekrönt und vermählt nach altem feierlichem Brauch.

Wie nun alle zusammen beim fröhlichen Mahle saßen, da sprach König Sieghand vor allen Fürsten: »Höret, ihr Mannen! Mein ganzes Reich geb’ ich jetzt meinem Sohne Hagen. Ihm sollt ihr nun dienen als eurem Herrn.« Da hoben sie alle die Hand zum Lehnseid, und Hagen wurde ein mächtiger König in Irland, an seines Vaters Statt. Gegen seine Freunde und die Armen war er mild und gütig, aber seine Feinde fürchteten ihn.

Die edle Königin brachte nach einiger Zeit ein schönes Mägdlein zur Welt, das den Namen der Mutter erhielt. Da ließ Hagen das Kindlein so erziehen, daß es selten von der Sonne beschienen und vom Winde berührt wurde. Als die junge Hilde um zwölf Jahre alt war, erscholl über alle Lande die Kunde von ihrer Schönheit, und viele reiche Fürsten wollten ihre Liebe gewinnen. Mancher Bote kam gen Irland um des Mägclleins willen; aber Hagen gönnte sie keinem und ließ die Boten in grimmem Übermute hängen.