Gudrun
In der Königsburg Matelan war ein edles Geschwisterpaar erblüht: Der Knabe Ortwin und das Mädchen Gudrun. Ortwin wurde zum alten Wate von Stürmen entsandt, damit er dort das Waffenhandwerk erlerne wie einst sein Vater Hettel. Seine Schwester wuchs unter der Obhut der Mutter herrlich heran und wurde schöner, als Hilde je gewesen war. Dazu war sie von so freundlicher Gesinnung, daß der Ruf ihrer Lieblichkeit und Tugend bald weit über die Grenzen des Hegelingenreiches hinausdrang.
Da pochten stolze Hecken an die Pforten des Schlosses, um die Jungfrau von Angesicht zu schauen und um ihre Hand zu bitten. Aber so toll wie einst Hagen gebärdete sich jetzt Hettel. Keinem gönnte er sein schönes Kind, und drang ein Freier gar zu stürmisch in ihn, dann wies er ihm wütend die Türe. So erging es erst König Siegfried von Morland, einem vornehmen Herrn und kühnen Degen, der gar wohl auf Erhörung seiner Werbung hoffen durfte. In großem Zorn reiste der Abgewiesene wieder von dannen und schwer, den ihm angetanen Schimpf hart zu vergehen. In aller Eile rüstete er ein Heer aus, um in Dänemark einzufallen.
Inzwischen war ein neuer Bewerber um Gudruns Gunst auf den Plan getreten: Hartmut, Sohn König Ludwigs, der auf der Burg Kassiane über dem Meer das Normannenland mit unerschrockener Tapferkeit, aber maßvoll in seinen Wünschen regierte. Doch hoffärtig, hochfahrend und neidvoll war Gerlind, König Ludwigs Gemahlin.
Die Kunde von Gudruns Liebreiz war auch in die Normandie gedrungen und hatte den Ehrgeiz des Weibes zu hellen Flammen entfacht. Denn groß war der Ruhm und die Macht der Hegelingen. Gerlind riet ihrem Sohn, bei Hettel um die Hand seiner Tochter anzuhalten.
Hartmut wollte erst von solchen Plänen nichts wissen, und auch der alte König hatte traurig sein Haupt geschüttelt und gewarnt: »Weib, Weib, dein hochfahrender Sinn bringt uns am Ende noch großes Unglück!«
Ein Zufall war einige Monde später den ehrgeizigen Absichten der Königin zu Hilfe gekommen. Das Lied eines fahrenden Sängers, der Gudruns Schönheit über alle Maßen pries, stimmte Hartmut um. Doch die Boten, die seinen Heiratsantrag König Hettel schriftlich überbrachten, wurden hohnvoll aus dem Dänenland gewiesen. Der junge, hochgemute Fürst schwor, von seinem Entschluß nicht abzulassen, und furchtbare Rache sann Frau Gerlind.
Nur wenige Tage, nachdem die Herolde so ungnädig entlassen worden waren, meldete sich noch ein dritter Freier auf Burg Matelan, König Herwig von Seeland. Er kannte die Maid schon von Kindheit an, denn er war der Freund ihres Bruders Ortwin. Vor Jahresfrist hatten sich die beiden Gespielen zum letztenmal gesehen, und da war in beider Herzen eine zarte und keusche Liebe aufgeflammt. Gudruns Freude war groß, als der strahlende, jugendliche Held um ihre Hand anhielt, doch bald verwandelte sich die Lust in Trauer. Hettel wies den Brautwerber genauso schnöde ab wie seine Vorgänger. Die Beteuerungen Gudruns, daß sie gerne Herwigs Gattin werden wolle, hatten nichts gefruchtet.