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Sanderson und Reacher rollten über dunkle
grabesstille Straßen: langsam, aber unaufhaltsam bis zu der Ecke
mit dem Spätverkauf, von der aus sie eine schwarze Limousine vor
dem Waschsalon vorfahren sahen. Arthur Scorpios Wagen. Dieselbe
Limousine, die ihn vor dem Restaurant mit dem verchromten
Münztelefon aufgesammelt hatte. Mit demselben Kerl am Steuer. Der
zuletzt nach Luft schnappend auf dem Fußboden des Waschsalons
gelegen hatte.
Sanderson hielt dicht hinter dem Lincoln,
und Reacher holte den Kerl auf halber Strecke zum Eingang des
Waschsalons ein. Er schlug nur einmal zu, rein als Lockerungsübung,
aber der Kerl sank auf die Knie und wedelte mit einer Hand, um zu
zeigen, dass er sich ergab. Wie sich zeigte, hatte er Anweisung,
den Wagen vorzufahren, weil das Depot einer Straßenmeisterei, in
dem es irgendein Problem gab, besucht werden sollte. Mr. Scorpio
würde gleich herauskommen.
Reacher sperrte den Mann in den Kofferraum
des Lincolns, in dem zwei wie er Platz gehabt hätten. Das alte
quadratische Design. Dann marschierte er zum Eingang des
Waschsalons, den er in dem Augenblick erreichte, in dem Scorpio aus
seinem Büro kam. Groß und knochig, ungefähr fünfzig, graues Haar,
schwarzer Anzug, weißes Hemd, keine Krawatte. Er schloss die Tür
hinter sich, sperrte ab und drehte sich wieder um.
Reacher trat ein.
Er fragte: »Was haben Sie in Ihren
Taschen?«
Scorpio starrte ihn an.
Gab keine Antwort.
»Sie haben Billy angewiesen, mich zu
erschießen«, sagte Reacher. »Und seinen Nachfolger auch.«
Keine Antwort.
»Beide haben’s nicht geschafft«, fuhr
Reacher fort. »Wie Sie sehen. Wie geht’s also weiter?«
Scorpio erklärte: »Das war nicht persönlich
gemeint.«
Dann sah er auf die Straße
hinaus.
»Ihr Boy kommt nicht«, sagte Reacher. »Sie
und ich sind hier allein.«
»Das war rein geschäftlich. Was hätten Sie
an meiner Stelle gemacht?«
»Außerdem haben Sie Sy Porterfield
verraten.«
»Er war lästig. Er musste weg.«
Reacher hörte ein leises metallisches
Klirren. Aus dem Büro. Vielleicht eine Maschine, die Kleingeld
zählte.
Er fragte: »Wie heißt der
Oberstleutnant?«
Scorpio gab keine Antwort.
Reacher langte ihm eine.
»Bateman«, kläffte Scorpio.
Wie ein Niesen.
»Danke«, sagte Reacher.
Nakamura hörte Scorpio sagen, Porterfield
sei lästig gewesen und habe weggemusst. Was eine Art Geständnis
war. Jedenfalls rechtlich bedeutsam. Sie wusste nicht, ob sie laut
schreien oder weiter stumm zuhören sollte. Als Kompromiss schlug
sie zuletzt mit ihren Handschellen klirrend an das Tischbein.
Allerdings ohne Wirkung. Niemand warf sich gegen die Tür, brach sie
auf. Dann schrie Scorpio etwas Unverständliches; danach hörte sie
nur mehr angestrengtes Keuchen und Ächzen und über den Boden
scharrende Absätze.
Und dann das langsame Anlaufen eines
Wäschetrockners, der rumpelnd dröhnte, herum und herum, völlig
überladen, polternd und schlagend.
Sanderson parkte neben dem schwarzen Toyota,
um ihn noch besser vor neugierigen Blicken zu schützen. Ihr Zimmer
lag neben dem von Reacher. Sie sagte gute Nacht und verschwand in
ihrem. Er ging in seines. Er setzte sich aufs Bett. Er konnte sie
durch die dünne Wand hindurch hören. Wie sie sich bewegte. Dann
hörte er sie wieder hinausgehen.
Im nächsten Augenblick wurde an seine Tür
geklopft.
Er machte auf.
Ihre Kapuze war halb zurückgeschlagen.
Sie sagte: »Was ich voraussichtlich tun
werde, hat sich geändert, denke ich. Sie könnten mir jetzt meinen
Ring geben. Bei mir wäre er wieder
sicher.«
»Kommen Sie«, sagte er.
Sie setzte sich aufs Bett, wo er vorher
gesessen hatte. Er zog den Ring aus seiner Tasche. Die goldene
Filigranarbeit, der schwarze Stein, die winzige Größe. Eine weite
Reise für etwas so Kleines.
Sie nahm ihn entgegen, steckte ihn an.
Sie sagte: »Noch mal vielen Dank.«
»Noch mal nichts zu danken.«
Sie schwieg eine Weile.
Dann fragte sie: »Wissen Sie, was das
Verrückteste an dieser Situation ist?«
»Was?«, fragte er.
»Ich bin drinnen und sehe nach draußen. Ich
kann mich nicht selbst sehen. Manchmal vergesse ich, was passiert
ist.«
»Was haben die Psychiater gesagt?«
»Was würde die 110th sagen?«
»Krieg das in den Griff«, sagte Reacher. »Es
ist nun mal passiert. Ungeschehen lässt es sich nicht machen. Die
meisten Leute werden davor zurückschrecken. Im Innersten sind wir
Menschen noch nicht sehr lange modern. Aber manchen wird es nichts
ausmachen. Die werden Sie finden.«
»Gehören Sie zu ihnen?«
»Denken Sie daran, was ich gesagt habe«,
erklärte Reacher. »Für mich sind die Augen das Wichtigste.«
Sie schlug die Kapuze ganz zurück. Ihr Haar
quoll darunter hervor.
Sie fragte: »Möchtest du mich ohne die Folie
sehen?«
»Ehrliche Antwort?«
»Die Wahrheit.«
»Bestimmt?«
»Keine falsche Höflichkeit.«
»Ich möchte dich ohne irgendwas
sehen.«
»Funktioniert diese Anmache oft?«
»Ab und zu.«
»Unter der Folie ist viel Salbe.«
»Hoffentlich«, sagte er.
»Am besten geht sie unter der Dusche
ab.«
»Das lässt sich machen. Dies ist ein Motel.
Wir können ein ganzes Stück Seife verbrauchen. Sie bringen immer
wieder neue.«
Sie stellte sich aufs Bett, um
ihn zu küssen. Sie war fast vierzig Zentimeter kleiner als er. Und
wog weit weniger als die Hälfte. Sie fühlte sich unglaublich
zerbrechlich an. Die Folie knisterte, Salbe quoll darunter
hervor.
»Duschen«, sagte sie.
Er zog den Reißverschluss ihrer silbernen
Jacke auf, und sie schlüpfte aus den Ärmeln. Er zog ihr das T-Shirt
aus, hakte ihren BH auf. Sie fühlte
sich an, wie er sich ihre Schwester vorgestellt hatte: fest und
biegsam und unter seinen Händen kühl – bis auf ihr Kreuz, das
feucht war. Sie zog die Folie ab, die von ihrem Gesicht glitt.
Darunter zeigten sich andere Formen. Vielleicht Eintrittswunden,
nicht Austrittswunden. Leichter zu nähen. Aber rot entzündet.
Sie verbrachten eine Viertelstunde unter der
Dusche. Danach vier Stunden im Bett. Meistens schlafend, aber nicht
immer. Anfangs war er vorsichtig. Nicht wegen ihres Gesichts,
sondern weil sie so zierlich war. Er hatte Angst, er könnte sie
zerbrechen. Dann dachte er, hey, sie hat die Army überlebt. Wie
viel schlimmer kann das hier sein? Daraufhin fanden sie zum selben
Rhythmus. Nicht besser als Fentanyl, davon war er überzeugt. Aber
viel besser als Aspirin. Das konnte er aus eigener Erfahrung
sagen.
Als Reacher am folgenden Morgen vor sieben
Uhr mit einem Kaffee in sein Zimmer zurückging, fing Bramall ihn
mit dem Smartphone in der Hand ab. Ein weiterer Anruf aus dem Büro
des Superintendenten in West Point.
Vorher sagte Bramall noch: »Ich habe schon
mit Special Agent Noble telefoniert. Die DEA ist unterwegs, um die Stücke aufzulesen.
Wir müssen sofort verschwinden.«
»Nichts dagegen«, meinte Reacher.
Er ließ sich das Handy geben.
Er sagte: »General.«
Der Super sagte: »Major.«
»Wir sind dabei, uns abzusetzen. Das
Unternehmen war ein Erfolg. Wir sind reichlich versorgt
startklar.«
»Will ich die Einzelheiten wissen?«
»Eher nicht«, entgegnete Reacher.
»Wir wissen jetzt alles über Porterfields
Kreuzzug. Ein Oberstleutnant Bateman hat ihn sabotiert. Aber die
DIA
mochte ihn nicht. Sie hat das Original der Anzeige einen Monat lang
in Porterfields Haus gelassen. Sie hat gehofft, der Sheriff würde
es finden. Druck von außen hätte sie zum Handeln gezwungen. Aber
der Mann hat nicht angebissen. Irgendwann musste sie sich das
Schriftstück holen. Aber sie hat Bateman später wegen einer anderen
Sache drangekriegt. Er sitzt jetzt in Leavenworth.«
»Danke, General.«
»Danke, Major.«
Reacher ging mit dem Handy zu Bramall
hinaus. Der kleine Mann bemühte sich, in seinem Toyota mehr Platz
zu schaffen. Mackenzie half ihm dabei.
Reacher sagte: »Spart euch die Mühe.«
Er kehrte in sein Zimmer zurück. Sanderson
hatte ein neues Stück Folie aufgelegt. Ihre Kapuze war
hochgeschlagen und eng zusammengezogen.
Er sagte: »Der Super hat mir erzählt, dass
Bateman in Leavenworth einsitzt. Also sind’s zwei für zwei. Scorpio
und er.«
»Würdest du dich bei dieser Nachricht besser
fühlen?«
»Ein bisschen.«
»Ich auch, denke ich.«
»Ich fahre nicht mit euch.«
»Das habe ich geahnt.«
»Mach die IV
-Kur.«
»Unbedingt!«
»Alles Gute.«
»Ebenso.«
Sie küssten sich nicht, weil die Folie neu
war, und gingen zu den anderen hinaus. Sanderson stieg in den
Wagen. Reacher schüttelte Bramall und Mackenzie die Hand und sah
ihnen nach, als sie davonfuhren. Dann marschierte er zur Tankstelle
hinüber. Er fand einen weiteren Obdachlosen, der eine weitere
Anhalterbörse betrieb. Mit einem Dollar war man dabei. Wie in Sioux
Falls. Vielleicht ein ungeschriebenes Gesetz in South Dakota. Es
gab nur drei Ziele zur Auswahl. Das lag daran, wie die Straßen
verliefen.
Man konnte Richtung Süden auf der State Road
wählen.
Oder Richtung Osten auf der Interstate nach
Chicago.
Oder Richtung Westen auf dem Highway nach
Seattle.
Reacher zahlte seinen Dollar und entschied
sich für Richtung Süden auf der State Road. Zehn Minuten später saß
er im Truck eines Zimmerers, der nach
Kansas unterwegs war, wo er nach Tornadoschäden auf Arbeit
hoffte.