25
Bramall blickte sich fragend um. Als
Mackenzie und Reacher nickten, ließ er den Motor an und holperte
über den Asphalt zu der unbefestigten Straße. Eine einstimmige
Entscheidung. Ein logischer Spielzug. Es kostete sie nichts, dem
Pick-up mindestens bis zu Billys Haus zu folgen. Jeder fahrende
Tote musste sie mit so geringem Abstand passieren, dass sie Zeit
hatten, ihn sich genau anzusehen. Sollte der Pick-up letztlich
weiterfahren, konnten sie anhalten, wenden, den Rückweg antreten
und die Schneepflughalterungen als verrückten Zufall abhaken.
»Was ist, wenn er zu Billys Haus abbiegt?«,
fragte Mackenzie.
»Vielleicht ist er ein Konkurrent, der eben
erst von Billys Verschwinden erfahren hat«, erklärte Reacher.
»Vielleicht hat er’s auf Billys Kundenkartei abgesehen. Vielleicht
tobt in der Schneeräumbranche ein scharfer Konkurrenzkampf.«
»Und wenn das Billy selbst ist?«
»Ich wette, dass der Boy Detective die
Schlösser ausgewechselt oder zugeklebt hat, oder was sie heutzutage
machen. Jedenfalls dürfte unser Mann verdammt wütend werden. In
seiner Frustration wird er sein Jagdgewehr aus dem Truck holen, um
die Schlösser zu zerschießen, und auf der Veranda stehen, wenn wir
vorfahren – mit dem Zeigefinger am Abzug.«
»Nur wenn wir auch abbiegen.«
»Er hat die Nachricht noch nicht gehört. Er
wird uns für Mormonen halten. Oder für Missionare einer anderen
Kirche, die jetzt auch Frauen zulässt.«
Unterdessen hatte Bramall den Abstand zu dem
Pick-up auf ungefähr hundert Meter verringert. In dieser weiten
Landschaft hätte das wie eine Verfolgung wirken müssen, aber sie
waren in der Staubfahne des Trucks unsichtbar. Der andere Fahrer
konnte sie nicht in seinen Rückspiegeln ausmachen.
Sie rollten in ihrem geheimen Konvoi weiter.
Das Gabelbockrudel äste auf einer neuen Weide. Zwei Meilen waren
zurückgelegt, bei ihrer jetzigen
Geschwindigkeit weniger als zehn Minuten.
Der Pick-up wurde langsamer. Sie sahen ihn
riesig und schemenhaft aus der Staubwolke vor ihnen aufragen.
Bramall ließ sich sofort etwas zurückfallen. Der Truck bremste mit
hell aufleuchtenden Bremslichtern auf Fußgängertempo ab, bevor er
weit ausholend nach links auf Billys Zufahrt abbog.
»Los!, sagte Reacher. »Dranbleiben!«
Bramall blickte zu Mackenzie hinüber.
Sie zögerte.
Reacher sagte: »Er hat die Nachricht noch
nicht gehört und keine Ahnung, wer wir sind. Wir sind nur drei
Personen, die zufällig vorbeikommen.«
Mackenzie sagte: »Er weiß, wo Rose
ist.«
Bramall bog ebenfalls ab. Auf der Zufahrt
gab es kaum Staub. Sie war eine Forststraße mit Felsplatten, Geröll
und Kies. Nun war der Toyota Land Cruiser deutlich zu erkennen. Sie
hielten etwas mehr Abstand. Der Truck tauchte immer wieder zwischen
den Bäumen auf. Zweihundert Meter vor ihnen, durch Sonnenlicht und
Schatten fahrend.
»Dämlich, zu flüchten und gleich wieder
zurückzukehren«, meinte Reacher.
»Vielleicht will er sein Geld«, sagte
Mackenzie.
Sie fuhren weiter, wahrten Abstand. Der
Pick-up bewältigte die letzte Steigung und war nicht mehr zu sehen.
Noch fünfzig Meter, dann würde er aus dem Wald kommen. Danach die
letzten hundert über festgefahrene rote Erde bis zum Haus.
»Lasst mich hier raus«, sagte Reacher. »Ich
gehe den Rest der Strecke zwischen den Bäumen zu Fuß. Wenn ich den
Weg abkürze, bin ich früher dort.«
»Ist das klug?«, fragte Bramall.
»Klüger, als zusammenzubleiben. Eine clevere
Gruppe operiert auseinandergezogen. Sonst bietet sie ein zu großes
Ziel.«
Bramall hielt, und Reacher glitt hinaus.
Bramall fuhr weiter. Reacher schaute ihm nach, dann verschwand er
im Wald und suchte sich einen Weg, der hoffentlich zu dem letzten
Baum vor dem Haus führte. Er kam gerade rechtzeitig an, um zu
verfolgen, wie der Pick-up die letzten Meter zurücklegte und vor
dem Haus parkte.
Er wartete.
Hundert Meter von ihm entfernt
ließ Bramall den Toyota nach der letzten Steigung ausrollen. Sein
SUV war kaum zu erkennen. Kein
glänzender Lack, kein blitzendes Chrom. Vollständig mit einer
dicken roten Staubschicht bedeckt. Besser als ein
Wüstentarnanstrich.
Er wartete.
Der Motor des Trucks wurde abgestellt.
Die Fahrertür öffnete sich.
Ein Kerl stieg aus. Er war jung. Vermutlich
Anfang zwanzig. Über einen Meter achtzig groß. Mindestens
hundertzwanzig Kilo. Vielleicht mehr. Mehr Fett als Muskeln. Ein
großer, aus der Form geratener Mann. Er wirkte langsam und
schwerfällig.
Nicht Billy.
Billy hatte Schuhgröße achteinhalb,
zweiunddreißig Zoll Taillenweite und dreißig Zoll Beinlänge.
Der große Bursche zog einen Schlüsselbund
aus der Tasche und starrte ihn an, als hätte er ihn noch nie
gesehen. Er stieg die Verandastufen hinauf, ging zur Haustür,
suchte einen Schlüssel heraus, um ihn ins Schlüsselloch zu
stecken.
Er machte einen verwirrten Eindruck.
Er berührte das Schlüsselloch mit einem
Finger.
Dann richtete er sich auf und fuhr herum,
als wäre er sich plötzlich sicher, dass hinter ihm jemand stand.
Vielleicht mit einer Kamera. Damit Kids ihn auf ihren Smartphones
sehen konnten. Und über ihn lachten.
Reacher kam unter den Bäumen hervor.
Auf seinem Weg über die rote Erde machte er
Bramall ein Zeichen, bis zum Haus zu fahren. Der Kerl vor der Tür
beobachtete sein Näherkommen. Ohne irgendeine Reaktion. Noch immer
etwas verwirrt. Reacher trat zu ihm auf die Veranda. Aus der Nähe
sah der junge Kerl harmlos aus. Weil er so füllig war, lagen seine
Kleidungsstücke eng an. Er hatte nichts Auffälliges in den Taschen
und war unbewaffnet. Und ziemlich jung. Jedenfalls ging von ihm
keine physische Gefahr aus.
Vielleicht war er auch nicht der
Hellste.
Hinter seinen Augen lief nicht allzu viel
ab.
Reacher fragte: »Wer sind Sie?«
Der Junge antwortete: »Ich wollte hier was
holen.«
Theoretisch war das keine Antwort auf die
Frage, aber Reacher ließ es dabei bewenden. Jetzt kamen auch
Bramall und Mackenzie auf die Veranda.
Der junge Kerl starrte sie an. Noch immer verwirrt. Reacher
begutachtete das Schlüsselloch. Es war mit Schnellkleber
verschlossen. Der Boy Detective hatte ein Schloss ausgewechselt,
vermutlich das der Hintertür, und alle anderen unbrauchbar gemacht.
Effizient. Sparsamer Umgang mit Steuergeldern.
Der Junge fragte: »Wer sind Sie?«
Reacher antwortete: »Ich hab zuerst
gefragt.«
»Ich tue nichts Unrechtes.«
»Sagen Sie mir nur Ihren Vornamen.«
»Ich heiße Mason.«
»Okay, Mason, freut mich, Sie
kennenzulernen. Was wollen Sie hier?«
»Ich bin gekommen, um was zu holen.«
»Was denn?«
»Für mich. Billy hat gesagt, dass ich’s
haben kann.«
»Wer ist Billy?«
Der Junge sagte: »Er ist mein Bruder.«
»Ohne Scheiß?«
»Na ja, mein Halbbruder.«
»Wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung. Er ist wieder
abgehauen.«
»Hat er das schon mal gemacht?«
»Ich erinnere mich an zwei Male. Diesmal hat
er mich angerufen und mir gesagt, wo sein Truck steht. Er hat
gesagt, dass ich ihn haben kann. Und auch noch was aus dem
Haus.«
»Wo war der Truck?«
»Droben bei Casper.«
Reacher nickte. Näher an Mule Crossing als
an Billings. Montana. Der andere Kerl war eine längere Strecke
gefahren als Billy. Weshalb? Das musste an der geplanten
Fluchtroute liegen. Sie waren nach Südosten unterwegs. Durch
Nebraska, wo sich ihre Spur verlieren würde.
Er fragte: »Was hat er im Haus für Sie
zurückgelassen?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen
soll.«
»War’s Geld in einem Karton?«
Der Junge nickte überrascht.
»Ja«, sagte er, »in einem
Schuhkarton.«
»Sollten Sie ihm das Geld bringen?«
»Nein, es ist für mich. Er hat gesagt, dass
er mit einem Kerl zusammen ist, der in
Geld schwimmt.«
»Wo?«
»Das hat er mir nicht gesagt. Das durfte er
nicht. Mir hat er mal erklärt: ›Mason, wenn du jemals türmen musst,
erzählst du keinem Menschen, wohin du willst – nicht mal
mir.‹«
»Wissen Sie bestimmt, dass er’s Ihnen nicht
gesagt hat?«
»Ja, Sir.«
»Womit verdient Billy sein Geld?«
»Er fährt den Schneepflug.«
»Und im Sommer?«
»Ich denke, er kauft und verkauft
Sachen.«
»Was für Sachen verkauft er?«
»Alle möglichen. Flohmarktware.«
»Wo verkauft er sie?«
»Überall, glaub ich. Wo’s Leute gibt, die
solches Zeug kaufen wollen.«
»Kennen Sie irgendwelche seiner
Kunden?«
»Nein.«
»Haben Sie jemals eine Frau gesehen, die wie
meine Freundin hier aussieht?«
»Nein.«
»Wissen Sie, was ein Komplize ist?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Das ist ein juristischer Begriff«, erklärte
Reacher. »Er bedeutet, dass man auch hinter Gitter wandert, wenn
man etwas geheim hält, das man weiß. Billy ist wieder mal vom
schmalen Pfad der Tugend abgewichen, fürchte ich. Der Staat hat
gestern sein Haus beschlagnahmt. Ein Federal Agent hat die
Türschlösser mit Schnellkleber versiegelt. Das machen sie
heutzutage. Also ist dies unsere letzte Chance, Ihnen zu helfen,
Mason. Wenn Sie wissen, wo sich Billy aufhält, sollten Sie’s uns
lieber gleich sagen.«
»Ich weiß nicht, wo sich Billy befindet«,
entgegnete der Halbbruder fast fröhlich. »Aber keine Sorge, in ein
bis zwei Jahren ist er wieder da. So war’s letztes und vorletztes
Mal auch.«
Reacher sah zu Bramall, der mit den
Schultern zuckte. Dann zu Mackenzie, die nickte. Sie glaubte dem
Jungen.
Der jetzt fragte: »Wie komme ich ins
Haus?«
»Gar nicht«, sagte Reacher. »Zwecklos. Das
Geld ist längst weg. Es war beschlagnahmt, bevor Sie heute Morgen
aufgewacht sind. Aber den Pick-up
dürfen Sie behalten. Kaufen Sie sich einen Räumschild, dann können
Sie ins Schneeräumgeschäft einsteigen.«
Sie beobachteten, wie der Junge wegfuhr.
Mackenzie blieb auf der Veranda und ließ den Blick schweifen.
Rechts die weite baumlose Ebene. Das alte Postamt und der
Feuerwerksladen. Die Gabelböcke, ungefähr eine Meile weit weg. Die
unbefestigte, aber tadellos angelegte rote Straße. Links die
niedrigen gezackten Gipfel wie ein Gebirge en miniature.
Sie sagte: »Logischerweise sollten wir
weiterfahren. Hier ist sie nicht. Auch nicht in Porterfields Haus,
das als Nächstes kommt. Ebenfalls nicht bei der Kuchenfrau, die
seine Nachbarin war. Also sollten wir weiterfahren und erst vor dem
vierten Haus haltmachen. Dort wären wir näher dran. Hinter uns
würde nichts passieren. Wir hätten alles noch vor uns.«
»Wenn Reacher recht behält«, gab Bramall zu
bedenken. »Was nicht unbedingt der Fall sein muss.«
»Warum hat sie dann niemand gesehen?«
Bramall gab keine Antwort.
Reacher sagte: »Ich glaube, dass der
verschenkte Truck eine cowboyhafte Geste war. Billy hat dafür
gesorgt, dass jemand sich gewissermaßen um sein bestes Pferd
kümmert. Unter allen Umständen. Aber die zehn Riesen in einem
Schuhkarton sind etwas ganz anderes. Das ist zu viel Geld, um es
einfach herzuschenken. Ich glaube nicht, dass er das wollte, und
denke, dass er unterwegs war, als der Anruf aus Montana kam. Zu
weit von zu Hause entfernt, um rasch zurückfahren zu können. Wegen
des abgeschlossenen Pakts durfte er keine Zeit verlieren, musste
sofort nach Casper. Bedenken wir, woher der andere Kerl gekommen
ist, müssen wir annehmen, dass sie nach Südosten durch Nebraska
weitergefahren sind. Und wenn wir Scorpios erste Nachricht als
Ausgangspunkt nehmen, war das alles vor mindestens achtundvierzig
Stunden. Inzwischen sind sie in Chicago. Nur glaube ich nicht, dass
sie nach Chicago gefahren sind. Dort würden sie sich nicht
wohlfühlen. Wahrscheinlich sind sie nach Süden, nach Oklahoma
abgebogen. Dort könnten sie sich irgendwie durchschlagen.
Vielleicht mit denselben Geschäften wie hier.«
»Möglich«, meinte Bramall.
Mackenzie sagte: »Aber Special Agent Noble
wird das nie erfahren, weil er nicht weiß, wo der Truck geblieben
ist – wegen unserer Entscheidung, ihn
dem Bruder zu lassen.«
Bramall fragte: »Unserer?«
»Nichts, wofür man sich schämen müsste. Das
ist sicher aus bester Absicht geschehen. Arbeitsbeschaffung ist
eine wunderbare Sache. Aber ich möchte, dass Special Agent Noble
eine Chance bekommt, Billy zu finden. Weil ich glaube, dass er uns
einen Erfolg melden würde. Warum auch nicht? Ich denke, wir sollten
ihn anrufen und auf Oklahoma ansetzen.«
»Das war nur eine Vermutung«, sagte
Bramall.
»Auf Fakten basierend«, entgegnete sie. »Die
Noble nicht hat.«
»Er könnte etwas anderes vermuten.«
»Wenigstens sollte er die Chance dazu
erhalten.«
»Soll ich ihn wirklich anrufen?«
»Ich denke, wir sollten’s tun.«
Bramall sah Reacher an.
Reacher sagte: »Schließlich hat er gekocht.
Normalerweise würden wir ihm ein paar Zeilen schreiben.«
Bramall zog seine Lesebrille mit
Schildpattgestell und ein kleines Notizbuch aus der Innentasche
seines Jacketts. Er öffnete es mit dem Daumen.
Reacher fragte: »Da drinnen steht Nobles
Nummer?«
Bramall antwortete: »Nur die der Zentrale
der Western Division.«
Er wählte und absolvierte dann über eine
Minute lang einen Verbindungsmarathon, bei dem er leicht
abgewandelt immer wieder denselben Namen sagte: Special Agent Kirk
Noble, Special Agent Noble. Kirk Noble. Irgendwann meldete der Mann
sich anscheinend selbst, denn Bramall erinnerte ihn an das
gemeinsame Abendessen vom Vortag und sagte, inzwischen gebe es
glaubwürdige Hinweise darauf, dass die Flüchtenden sich nach
Oklahoma abgesetzt hätten.
Noble wollte Reacher sprechen.
Bramall reichte ihm das Handy.
Noble sagte: »Mit Porterfield gibt’s ein
Problem.«