39
Noble wollte wissen, weshalb Reacher sich an Bramalls Handy meldete. Reacher antwortete vage, Bramall mache einen Spaziergang, vielleicht außer Reichweite, und habe deshalb sein Smartphone zurückgelassen.
Noble sagte: »Mrs. Mackenzie hat Bramall engagiert, nicht wahr? Für richtiges Geld.«
Reacher sagte: »Ja.«
»Aber Sie nicht.«
»Nein.«
»Dann ist’s sowieso besser, wenn ich mit Ihnen rede. Kann Mrs. Mackenzie hören, was Sie sagen?«
»Ja.«
»Entfernen Sie sich von ihr.«
Reacher hielt das Handy in Richtung Schlucht hoch und deutete an, er gehe dorthin, um besseren Empfang zu haben. Dort angelangt, stellte er sich auf einen Felsblock und fragte: »Okay, was gibt’s?«
Noble antwortete: »Ich denke, Sie haben die Schwester gefunden.«
»Wieso?«
»Wollen Sie das bestreiten?«
»Ich frage, wie Sie darauf kommen, dass wir sie gefunden haben könnten.«
»Wie schwierig kann das gewesen sein? Sie war dort irgendwo versteckt.«
»Dieses Gebiet ist riesig.«
»Das ist eine Beschreibung«, sagte Noble. »Kein Leugnen.«
»Jemanden aufzuspüren, der sich in einem riesigen Waldgebiet mit zahlreichen leer stehenden Blockhäusern versteckt hält, ist praktisch unmöglich.«
»Auch das ist eine Beschreibung.«
»Ich kann den ganzen Tag so weitermachen«, sagte Reacher. »Ich war in der Army.«
Noble sagte: »Ich brauche Rose Sanderson.«
»Wozu?«
»Als Informantin. Ich muss einen Fall abschließen.«
»Dazu haben Sie Billy.«
»Billy ist der Grund dafür, dass ich Sanderson bauche. Ich glaube, dass er mich belügt. Er gibt mächtig an. Vielleicht aus Spaß, damit ich Phantomen nachjage, oder um seinem Affen Zucker zu geben. Dealer prahlen gern damit, dass sie guten Stoff besorgen können. Das lässt sie cool wirken. Aber bevor ich den Fall abschließen kann, benötige ich eine Bestätigung von einem Kunden. Als Rückversicherung für alle Fälle.«
»Was hat Billy Ihnen erzählt?«
»Dass er bis zuletzt verkauft hat, was er immer verkauft hat. Oxycodon und Fentanylpflaster aus original amerikanischer Produktion.«
»Reine Angeberei«, entgegnete Reacher. »Sie haben uns erzählt, dass das unmöglich ist.«
»Es ist unmöglich. Das kann ich beweisen. Die gesamte Produktion wird mit Strichcodes überwacht. Buchstäblich jede einzelne Tablette. Wir haben Einblick in die Unterlagen der Hersteller. Es gibt absolut keine Lecks.«
»Also ist er ein Angeber.«
»Aber er weiß Dinge, die er nicht wissen dürfte. Die Verpackungen sind geändert worden. Er kennt den Warnhinweis auf der Innenseite des Deckels von Klinikpackungen. Den bekommt nie jemand zu sehen.«
»Also ist er kein Angeber.«
»Natürlich ist er einer! Die Hersteller überwachen jedes Förderband und jede Sendung, die das Haus verlässt; ihre Lastwagen sind mit GPS ausgerüstet; sie gleichen die Lieferungen mit den Zahlungseingängen ab, und sobald etwas nicht stimmt, schrillen sämtliche Alarmglocken. Was sie aber nicht tun. Nirgends wird etwas abgezweigt.«
»Was ist er also? Angeber oder kein Angeber.«
»Genau das möchte ich herausfinden. Jedenfalls muss ich Rose Sanderson fragen, was sie genau gekauft hat.«
»Warum setzen Sie nicht höher an? Die Aussage eines Großhändlers wiegt mehr als die einer Kundin.«
»Diese Leute kenne ich nicht. Das Netzwerk ist ziemlich undurchsichtig.«
»Nennt Billy denn keine Namen?«
»Bisher spielt er den guten Soldaten. Was ich weiß, habe ich nur durch Tricks aus ihm rausgekriegt. Ich würde ganz neue Ermittlungen beginnen müssen. Dafür fehlt mir die Zeit. Diese Methode ist schneller. Wir benötigen nicht viel. Wir wollen nur den Fall abschließen. Sie braucht nur zu sagen, dass Billy ein Arschloch und Lügner ist und immer nur gewöhnliches mexikanisches Pulver verkauft hat.«
Drüben beim Haus hielten sich Sanderson, ihre Schwester und Bramall noch immer auf der Veranda auf. Sie redeten viel. Eine große Diskussion.
Reacher sagte: »Okay, falls sich mal Gelegenheit dazu ergibt, richte ich ihr aus, was Sie brauchen.«
Noble fragte: »Wo sind Sie jetzt?«
»Dies ist ein sehr großes Gebiet.«
»Sind Sie bei ihrem Haus?«
»Ein genauer Punkt ist schwierig anzugeben.«
»Sie telefonieren mit einem Handy.«
»Über eine Rundstrahlantenne im Mittelpunkt eines riesigen Kreises, in dem New Jersey Platz hätte.«
Noble sagte: »Sie wissen vermutlich, welche gesetzlichen Bestimmungen für Gespräche von Bürgern mit Federal Agents gelten.«
Reacher sagte: »Sorry, ich habe auf dramatisch anschwellende Musik gewartet.«
»Kennen Sie Rose Sandersons gegenwärtigen Aufenthaltsort?«
»Für Gespräche von Bürgern mit Federal Agents gelten auch bestimmte andere Gesetze. Vor allem soll man Zeit sparen, indem man den Bullshit weglässt. Ich weiß, wie solche Dinge funktionieren. Und ich weiß, dass Sie das wissen. Meist schlechter als erwartet. Deshalb haben Sie immer einen Plan B, damit die Zentrale sieht, dass Sie nicht untätig waren. Rose Sanderson soll bestätigen, mexikanisches Pulver gekauft zu haben. Für alle Fälle. Das ist Ihr Plan B.«
»Sie macht sich jeden Tag strafbar.«
»An Ihrer Stelle würde ich sie sofort vergessen. Im Ernst. Damit würden Sie einen schweren Fehler machen. Rose hat in Afghanistan eine grausam entstellende Gesichtsverletzung erlitten. Sie haben ihre Schwester kennengelernt. Denken Sie mal darüber nach. Jede Zeitung der Welt würde ihre Fotos nebeneinander abdrucken. Die Schöne und das Monster. Vor und nach ihrem Einsatz für ihr Land. Und jetzt nehmen Sie sie wegen illegal gekaufter Schmerzmittel fest? Das Medienecho wäre gewaltig. Die DEA stünde weltweit am Pranger. Ich bewahre Sie vor einem PR -Desaster.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Im Bundesstaat Wyoming.«
»Weigern Sie sich, meine Frage zu beantworten?«
»Nein«, sagte Reacher. »Ich beantworte all Ihre Fragen. Auch welche, die Ihnen noch nicht eingefallen sind. Ich schlage vor, dass wir in drei Tagen wieder telefonieren. Unter zwei Voraussetzungen: Sie halten bis dahin still und vergessen, dass Sie den Namen Rose Sanderson je gehört haben.«
»Wieso in drei Tagen?«
»Fragen dieser Art würden unter das vereinbarte Stillhalteabkommen fallen.«
»Ich habe nicht vor, mit Ihnen zu verhandeln.«
»Dann schlagen Sie eine andere Methode vor. Nur gibt es leider keine. Also sollten wir versuchen, miteinander auszukommen. Ich war mal Militärpolizist, vergessen Sie das nicht. Jemand wie Sie, nur in Uniform. Ich will Sie nicht reinlegen, sondern versuche nur, Ihnen einen Gefallen zu tun. Ich beanspruche einen winzigen Teil, nämlich Rose Sanderson, und überlasse Ihnen den gesamten Rest. Glauben Sie mir, das wird eine große Sache. Sie bekommen einen Orden und werden ein Held. Selbst Mr. Bramall glaubt, dass dieser Fall zum Eckpfeiler einer beispiellosen regionalen Erfolgsgeschichte werden kann. Sie bekommen etwas umsonst, Noble. Das genaue Gegenteil von Kollateralschäden. In einem Comicheft würde der Boy Detective dieses Angebot annehmen, glaube ich. Weil er weiß, wie staatliche Stellen arbeiten.«
»Sie sind nicht mehr beim Staat.«
»Man scheidet nie ganz aus«, entgegnete Reacher. »Nicht wenn man den richtigen Charakter hat.«
Noble schwieg. Erneut ein Patt. Er konnte nicht widersprechen. Nicht ohne zu sagen: Yeah, unser aller Leben ist Bullshit.
»Drei Tage«, sagte Reacher. »Entspannen Sie sich. Sehen Sie sich vielleicht eine Show an.«
Er trennte die Verbindung und ging zum Haus zurück. Bramall kam ihm auf halbem Weg entgegen. Reacher gab ihm das Handy.
»Drei Tage«, sagte er. »Und er vergisst Rose.«
»Gut gemacht!«
»Danke.«
»Als Gegenleistung wofür?«
»Wir lassen ihn die Trümmer aufsammeln.«
»Welche Trümmer?«
»Oh, es gibt bestimmt Trümmer.«
»Soll das heißen, dass Sie jetzt eine Idee haben?«
»Noch sehr skizzenhaft«, sagte Reacher. »Ich muss Sie etwas fragen.«
»Was denn?«
»Warum haben Sie Scorpios Waschsalon beobachtet, als Sie in Rapid City waren? Was haben Sie dort zu sehen erwartet?«
»Anfangs natürlich Kunden. Nach den Aufzeichnungen der Telefongesellschaft hatte Rose einmal dort angerufen. Wer würde in einem Waschsalon anrufen? Natürlich nur eine Kundin. Vielleicht hatte sie dort etwas vergessen. Vielleicht wollte sie die Öffnungszeiten wissen. Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht in der Nähe lebt. Oder gelebt hatte.«
»Aber es hat keine Kunden gegeben.«
»Nur zwei oder drei.«
»Sonstige Besucher?«
»Keinen einzigen.«
»Haben Sie auch die Rückseite beobachtet?«
»Ein paar Biker.«
»Aber kein Ein- oder Ausladen?«
»Nichts dergleichen«, antwortete Bramall. »Dort gibt es keine Laderampe. Nur eine gewöhnliche Tür.«
»Okay«, sagte Reacher.
Dann gesellte sich Mackenzie zu ihnen und sagte, sie wolle zu den Blockhäusern gehen, in denen sie übernachten würden. Rose hatte ihr anscheinend erzählt, ganz in der Nähe liege eine weitere Lichtung mit vier zu einem Quadrat angeordneten kleinen Häusern. Sie waren gelüftet und bewohnbar. Darum hatte Rose sich offenbar gekümmert, weil sie’s für eine Schande hielt, brauchbare Dinge verkommen zu lassen.
Sie fanden den richtigen Weg, der wie alle anderen aussah, die Reacher kannte – auch wie der, auf dem der Kerl mit den Stiefeln ihn hatte erschießen wollen. Davon abgesehen war er fast eben und gut begehbar. Nach nicht mal hundert Metern erreichten sie die versprochene Lichtung, auf der vier Häuschen mit nur einem Raum ein tennisplatzgroßes Areal umgaben. Wie ein kleines Dorf. Jedes der soliden Blockhäuser unterschied sich etwas von den anderen, aber keines war wesentlich größer als eine Einzelgarage. Ihre Türen waren nicht abgesperrt. Bramall entschied sich willkürlich für eines der Häuser. Mackenzie zog ihm gegenüber ein. Reacher bekam das Blockhaus zwischen ihnen mit Blick nach Süden.
In einer Großstadt wäre dies als Studioapartment bezeichnet worden: ein Wohnzimmer mit einem Bett oder ein Schlafzimmer mit einem Sofa, dazu eine Kochnische und ein winziges Bad. Zusätzlicher Platz für Wochenendgäste, vermutete er. Sie aßen, tranken und feierten im Haupthaus, kamen aber zum Schlafen hierher. Vielleicht vier Paare, die alte Freunde waren.
Er stellte seine Zahnbürste in den Becher vor dem Spiegelschrank. Als er wieder rausging, stand Mackenzie vor der offenen Haustür.
Sie sagte: »Mein Mann hat angefangen, einen Arzt zu suchen. Er weiß, worauf es ankommt, und nimmt sich dafür extra frei. Unsere Haushälterin bereitet die Suite vor. Mr. Bramall hat sich einverstanden erklärt, uns alle nach Illinois zu fahren. Sein Wagen ist bestimmt sehr bequem.«
»Das glaube ich auch«, sagte Reacher.
»Eigentlich meine ich, dass Sie für den Rest zuständig sind.«
»Für den Rest?«
»Die Lücke überbrücken.«
»Okay«, sagte Reacher. »Das klingt fair.«
»Wenn Sie’s können.«
»Ich arbeite daran.«
»Halten Sie das für möglich?«
»Anfangs wird alles etwas improvisiert wirken. Ein wenig unsicher. Rose wird durchhalten müssen. Ich hoffe, dass sie’s kann. Sie hat mir erzählt, dass in ihr noch etwas von ihrem alten Ich steckt. Sie war clever genug, mich zu bitten, ihren Ring für sie aufzubewahren. Sie weiß noch immer, was sie tut, kann noch wie früher denken. Irgendwann wird sie uns vertrauen müssen – und wir ihr.«
»Wann fahren wir?«
»Morgen«, antwortete er.
Sie aßen gemeinsam von den mitgebrachten Lebensmitteln zu Abend. Rose zugedröhnt und glücklich. Sie war animiert und gesprächig. Unter ihrer Kapuze und der Alufolie lachte sie und lächelte, wandte sich einem nach dem anderen zu, redete, hörte zu und antwortete. Mackenzie lachte mit ihr, übertrug unbegrenzte Energie auf ihre Schwester und war Stütze und Stab für sie, während sie andererseits Hilflosigkeit angesichts ihrer neuen Situation ausstrahlte. Sie war orientierungslos. Es existierten alte Märchen, in denen die schöne Schwester entstellt heimkehrte, worauf alle möglichen Ressentiments hochkamen, bevor es ein tränenreiches Happy End gab. Aber dieser Fall lag anders. Es gab kein traditionelles Narrativ. Sie waren beide die schöne Schwester. Es gab keine Ressentiments, keine Streitpunkte. Sie waren dieselbe Person. Wenigstens beinahe. Reacher sah die Luft zwischen ihnen pulsieren und sie manchmal zu einem einzigen Organismus machen, der sich im nächsten Augenblick wieder auflösen konnte. Aber nie vollständig. Sie bildeten wie schon zuvor eine Einheit, auch wenn sie nicht wussten, wie die neue Version funktionieren würde. Wie sollten sie sich jetzt beschreiben? Würde es sie und ich heißen müssen? Nicht länger wir? Das waren keine Fragen, die sie sich früher gestellt hatten.
Dann schilderte Reacher, wie er sich den Ablauf des morgigen Tages vorstellte. In groben Zügen, nur die Umrisse, drei Schritte, zwischen denen noch viele Lücken zu schließen waren. Mackenzie war entsetzt. Bramall sah weg, als wollte er fragen: Ist das alles, was du hast? Rose wurde schweigsam, und Reacher spürte, wie sie ihn unter ihrer Kapuze hervor sorgfältig musterte. Sie war sein eigentliches Publikum. Sie hatte am meisten zu verlieren. Als Berufssoldatin war ihr klar, dass kein Plan die erste Feindberührung übersteht. Danach kam es darauf an, Glück zu haben. Das wusste sie natürlich auch.
Anschließend forderte er Bramall auf, den Toyota hinter dem Haus zu parken, damit er von der Zufahrt aus nicht zu sehen war. Dann folgte er dem Weg der Cowboys, der zu ihrer Unterkunft führen würde. Er fand sie auf der Veranda eines langen niedrigen Gebäudes, das wie eine altmodische Schlafbaracke aussah. Zwei Kerle, nicht drei, die Bier aus Dosen tranken. Er fand, sie wirkten ängstlich, vermutlich aus Schock und schlechtem Gewissen. Und der Kerl mit den Stiefeln litt offenbar unter der zusätzlichen Demütigung, dass ein Mann, den er hätte erschießen sollen, plötzlich gesund und munter vor ihm auftauchte. Dadurch wurde ein atavistisches Gefühl in Bezug auf den eigenen Platz auf der Leiter ausgelöst – aus einer Zeit, in der Bäume die einzigen Leitern gewesen waren.
Reacher sagte: »Wir leben in verrückten Zeiten.«
Keiner der Männer antwortete. Vielleicht fanden sie, er habe sich das Recht verdient zu sprechen, ohne unterbrochen zu werden. Als hielte er ihnen einen Vortrag. Er wollte sagen, er nehme ihnen nichts übel, sondern verstehe, wie Druck zu Fehlurteilen führen könne. Aber dann tat er’s doch nicht. Zu kompliziert. Stattdessen erklärte er ihnen, was sie für ihn tun mussten. Erklärte es ihnen Schritt für Schritt, übte es ein und gab ihnen, was sie dafür brauchten. Er fand, dass das besser als Vergebung war. Sie hoben die Köpfe mit neuer Entschlossenheit im Blick, als lebten sie in irgendeinem älteren Rechtssystem, in dem man durch Arbeit oder Buße seine Freiheit zurückgewinnen konnte.
Reacher ging zu Sandersons Haus zurück, in dem Licht brannte. Er überzeugte sich davon, dass Bramalls Toyota außer Sicht geparkt war. Fürs FBI nicht schlecht. Er marschierte weiter zu seinem Häuschen in der Vierersiedlung. Auch bei Bramall und Mackenzie brannte Licht. Alle möglichen Leute, die sich schlafen legten. Alle möglichen Vorbereitungen und Rituale. Vielleicht zeitraubend. Vielleicht bürstete Bramall seinen Anzug wie ein Kammerdiener aus. Mackenzie hatte wahrscheinlich ein komplizierteres Ritual, zu dem Wässerchen und Salben gehörten.
Sanderson hatte bestimmt eines.
Reacher ging zu Bett. Wände und Decke aus Baumstämmen. Er verstand den darin liegenden Reiz. Sie waren solid und massiv. Sie bewirkten, dass er sich sicher fühlte.