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Der Super sagte: »Alles unterhalb der Oberfläche ist unzugänglich, aber von der Sozialversicherung und aus anderen öffentlichen Quellen wissen wir, dass Seymour Porterfield, der letztes Jahr in Wyoming zu Tode gekommen ist, im Postgraduiertenstudium an einer Eliteuniversität war, als er einen Tag nach 9/11 ins Marine Corps eintrat. Er war der perfekte Rekrut. Ein echter Reklameheld. Als Leutnant einer Schützenkompanie hat er im Golfkrieg zur ersten Welle gehört. Leider ist er nach kaum einem Monat verwundet worden. Welche Verwundung er hatte, ist nicht bekannt. Er wurde ehrenhaft entlassen und ist ins Zivilleben zurückgekehrt. Damals konnten die Marines es sich noch leisten, Leute wie ihn nach dem erzwungenen Abschied psychologisch betreuen zu lassen. In einer Notiz ist festgehalten, dass Porterfield sich darauf freute, sein Studium fortzusetzen, und realistische Aussichten auf eine größere Erbschaft hatte, sodass niemand sich viel Sorgen um ihn zu machen brauchte, am allerwenigsten das Marine Corps. Danach war er sehr lange vom Radar staatlicher Stellen verschwunden.«
»Bis?«, fragte Reacher.
»Bis vor zwei Jahren. Irgendeine Dienststelle im Pentagon hatte einen neuen Fall zu bearbeiten. Irgendwas mit Porterfield. Was genau, weiß niemand. Wir glauben, dass sie seine Originalakte eingesehen und dann versiegelt hat. Was in der Regel etwas bedeutet. Außerdem hat sie eine weitere neue Akte angelegt – über Porterfield und die Frau. So viel sehen wir bisher. Drei Akten, wie Sie gesagt haben.«
»War Sanderson die Frau?«
»Das wissen wir noch nicht. Auch das liegt unter der Oberfläche.«
»Suchen Sie weiter?«
»Diskret«, sagte der Super. »Ich melde mich wieder.«
Das Gespräch war zu Ende. Reacher gab das Handy zurück, und Bramall steckte es zum Laden ein.
Mackenzie fragte: »Hilft uns das weiter?«
Reacher antwortete: »Sie war’s vielleicht nicht.«
»Und falls doch?«
»Dann hätten wir einen verwundeten Offizier des Marine Corps und eine verwundete Offizierin der Army, die ein halbes Jahr zusammenleben. Das kann so oder so ausgehen. Die beiden könnten die schlimmsten Süchtigen der Welt gewesen sein oder ihre Abhängigkeit mit Unterstützung des anderen überwunden haben. Oder sie waren niemals süchtig. Schließlich handelte es sich bei ihnen um sehr eindrucksvolle Persönlichkeiten. Porterfield hat sein Studium abgebrochen, um sich nach 9/11 freiwillig zu melden. Rose hat in West Point zu den zehn Besten ihres Jahrgangs gehört und war fünfmal in Übersee eingesetzt. Vielleicht haben sie sich zusammengetan, um Ruhe und Frieden mit einer verständnisvollen Seele zu finden.«
»Wo hält sie sich dann jetzt auf?«
»Das ist das Problem. Und die Frage ist zugleich eine Antwort.«
»Leider«, sagte Mackenzie. »Mir drängt sich der Schluss auf, dass sie heutzutage eher eine Drogenabhängige als eine eindrucksvolle Persönlichkeit sein dürfte. Sonst würde sie weiter mit mir Kontakt halten.«
»Schlimmster Fall.«
»Vorhin wollten Sie wenig davon wissen.«
»Das tue ich noch immer«, sagte Reacher. »Hoffe weiter auf das Beste. Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Meinetwegen«, antwortete sie.
»Was für Zwillinge sind Rose und Sie? Sehen Sie sich exakt ähnlich?«
Sie nickte. »Wir sind völlig identisch. Mehr als die meisten eineiigen Zwillinge.«
»Dann sollten wir im Krankenhaus vorbeifahren.«
»Wozu?«
»Unterdessen sind die Leute verzweifelt. Manche haben vielleicht Freunde, die ihnen was abgeben, aber ich vermute, dass einige in die Stadt kommen werden, um sich dort Stoff zu besorgen. Dem Rest bleibt nur die Notaufnahme. Sie werden behaupten, schreckliche Zahnschmerzen zu haben. Oder unerträgliche Rückenschmerzen. Irgendwas, das sich nicht überprüfen lässt. Aber Schmerzen kann kein Arzt ignorieren. Er muss ein Rezept ausstellen. Und wir sollten checken, ob Rose dort gewesen ist. Sie würden jeden, der sie gesehen hat, an sie erinnern. Wie ein wandelndes Suchplakat.«
»Das käme mir wie Verrat an ihr vor. Damit würde ich akzeptieren, dass sie ein Junkie ist.«
»Hier geht’s um Wahrscheinlichkeiten. Irgendwo müssen wir anfangen.«
Sie schwieg lange nachdenklich.
Dann sagte sie: »Okay, fahren wir.«
Bramall ließ den großen V8-Motor an und fuhr in weitem Bogen zu der Zufahrt zurück. Sie kehrten dem Hochplateau mit dem weiten Blick nach Osten und dem braunen Holzhaus mit seinen alten Schnitzereien und der Kirchenbank den Rücken und richteten sich auf drei holprige Meilen und dann erneut die unbefestigte Straße ein.
Doch in diesem Augenblick kam ihnen am oberen Ende der Zufahrt die Frau, die den Erdbeerkuchen gebacken hatte, mit ihrem Auto entgegen. Die Frau, die hier wohnte. Die mit ihrem alten Jeep zum Markt gefahren war. Bramall hielt und setzte etwas zurück, um sie vorbeizulassen. Aber sie blieb auf gleicher Höhe mit ihm stehen und fuhr ihr Fenster herunter.
Bramall öffnete das seine.
Das tat auch Reacher.
Die Frau erkannte sie natürlich, nickte zurückhaltend und musterte dann an ihnen vorbeispähend Mackenzie. Die sie nicht erkannte. Nicht mal andeutungsweise. Keine Spur eines Erkennens. Dabei hatte sie eine exakte Kopie vor sich.
Eine Unbekannte.
Die Frau fragte: »Kann ich euch helfen, Leute?«
Reacher entgegnete: »Wir sind vorbeigekommen, um ein paar Dinge zu überprüfen, die mit unserem gestrigen Gespräch zusammenhängen. Wir wussten nicht, dass Sie weg waren.«
»Doch, das wussten Sie. Wir sind uns unten an der Einmündung begegnet.«
»Vielleicht haben wir nicht darauf geachtet.«
»Sie sind Privatdetektive. Sie müssen auf alles achten.«
»Wir waren auf der Suche nach einer verschwundenen Frau«, erklärte Reacher. »Vielleicht waren wir abgelenkt.«
»Was wollten Sie denn überprüfen?«
»Bitte erinnern Sie sich an Ihre Begegnungen mit Porterfield«, sagte Reacher. »War er irgendwie behindert?«
»Meines Wissens nicht.«
»Zwei Arme und zwei Beine?«
»Klar.«
»Hat er vielleicht gehinkt?«
»Das glaub ich nicht.«
»Flüssig geredet und klar gedacht?«
»Er war sehr höflich und zuvorkommend.«
»Okay«, sagte Reacher. »Jetzt noch einmal zu der Begegnung auf der Straße, als Sie jemanden in Porterfields Wagen gesehen haben. Können Sie uns die noch mal schildern?«
»Neben ihm hat niemand gesessen. Ich hab mich geirrt.«
»Nehmen wir an, Sie hätten recht gehabt. Was haben Sie gesehen?«
Sie überlegte einen Moment.
»Alles ist echt schnell gegangen«, sagte sie. »Schließlich sind sich zwei Autos begegnet. Und der Wind war stark, ein richtiger Sandsturm.«
»Trotzdem«, beharrte Reacher. »Was haben Sie gesehen?«
Wieder eine Pause.
»Eine Frau, die ihr Gesicht abgewandt hat«, sagte sie dann. »Und etwas Silbriges.«
»Das ist Ihnen in Erinnerung geblieben. Hatten Sie so was schon mal gesehen?«
»Niemals.«
»Haben Sie so was jemals wiedergesehen?«
»Niemals.«
»Sind Sie sich Ihrer Sache ganz sicher?«, bohrte Reacher nach. »Wie wär’s mit einem anderen Auto? Mit nur einer Person besetzt. Vielleicht aus der Gegenrichtung kommend?«
»Niemals«, sagte die Frau noch mal. »Machen Sie sich über mich lustig?«
»Nein, natürlich nicht. Nun zu einer anderen Frage. Lassen Sie Leute Ihre Zufahrt benutzen, wann immer sie wollen?«
»Außer Ihnen?«
»Touché«, sagte Reacher. »Aber ist es im Allgemeinen in Ordnung, wenn Leute hier raufkommen und Ihre Forstwege benutzen?«
»Nein, sicher nicht.«
»Sie gestatten das nie?«
»Wozu sollte ich?«
»Kommt das aber trotzdem vor? Dass Leute ohne Ihre Erlaubnis hier durchfahren?«
»Niemals«, wiederholte sie zum vierten Mal. »Was geht hier vor?«
»Tatsächlich sind wir hier, weil wir einen Truck verfolgt haben, der sozusagen vor uns geflüchtet ist. Er hat Ihre Zufahrt benutzt und ist auf einem Ihrer Waldwege weitergefahren. Auf welchem, wissen wir nicht.«
Die Frau sah sich angelegentlich um.
Sie fragte: »Er ist von hier aus entwischt?«
»So was ist noch nie passiert?«
»Niemals«, sagte die Frau erneut. »Wie war das möglich? Wie kann überhaupt jemand wissen, wohin meine Wege führen?«
West Point, dachte Reacher. Damals, als Kartenlesen noch eine lebenswichtige Fertigkeit war.
Er fragte: »Wohin führen Ihre Trails übrigens?«
»Überallhin«, sagte sie. »Bis nach Colorado, wenn Sie wollen. Aber wen haben Sie verfolgt? Die müssen in Panik gewesen sein, wenn sie hier durchgefahren sind.«
»Den Wagen hat eine Frau gelenkt, glauben wir.«
»Okay.«
»Sie hat ziemlich klein ausgesehen und sich abgewandt. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen.«
Die Frau schwieg.
»Und wir haben etwas Silbriges gesehen.«
»O Gott!«
»Die gleiche Farbe wie Sie zuvor.«
»Hier?«
»Wir sind gleich nach dem Truck abgebogen.«
»Wenn ich Albträume bekomme, ist das Ihre Schuld.«
Sie ließen sie dort zurück und folgten der Zufahrt zu der unbefestigten Straße hinunter, zur State Road und nach Laramie. Das Krankenhaus lag neben dem Campus der Universität. Vielleicht hing es mit ihr zusammen. In der Notaufnahme warteten sieben Patienten. Zwei von ihnen sahen aus, als litten sie unter Billys Fahnenflucht. Sie waren zittrig und verschwitzt. Eine auf der Hand liegende Diagnose. Die anderen fünf hätten Studenten sein können. Alle sieben sahen auf, wie es Leute in Wartezimmern tun, und musterten die Neuankömmlinge.
Einschließlich Mackenzie.
Kein Funke Wiedererkennen.
Auch an der Anmeldung nicht, wo Mackenzie nach einer Patientin namens Rose Sanderson fragte und eine hilfsbereite Frau auf ihren Bildschirm schaute, aufmunternd lächelte und sagte, bei ihnen gebe es keine Patientin dieses Namens, während sie Mackenzie ins Gesicht sah: offen und ehrlich und aufrichtig mitfühlend.
Ohne auch nur andeutungsweises Erkennen.
Mackenzie trat von der Anmeldung zurück und sagte: »Okay, sie hat Freunde, die bereit sind, etwas abzugeben, oder ist jetzt auf der Suche nach Stoff in der Stadt.«
Sie fuhren zur Ecke Third Street und Grand Avenue und suchten einen Block nach dem anderen nach der Kombination ab, die sie brauchten: nämlich zwei üble Bars mit einem annehmbaren Lokal in Sichtweite. Sie mussten etwas essen. Aber Mackenzie wollte keine Zeit vergeuden und wenigstens zwei mögliche Orte im Auge behalten, während sie aß. Also suchten sie ein Café gegenüber von zwei Cowboybars auf, beide mit Neonwerbung für Bier hinter schmutzigen Fenstern. Sie vermuteten, in solchen Kneipen könnte am ehesten gedealt werden. Cowboys mochten Schmerzmittel genauso wie andere Leute. Vielleicht sogar mehr. Wegen Rodeounfällen, Verletzungen von Lassos und diversen anderen Reitunfällen.
Das Café war ein New-Age-Laden, in dem es alle möglichen gesunden Säfte und Sandwiches gab, die nach Reachers Meinung ein Blinder zusammengestellt haben musste. Willkürlich zusammengeworfene Zutaten. Riesige Samen in dem Brötchen. Wie Sägemehl mit Kugellagerkugeln vermengt.
Bramall ging auf die Toilette, ließ Mackenzie und Reacher allein am Tisch zurück. Sie zog ihre Jacke aus, wandte sich um und hängte sie über die Stuhllehne. Dann richtete sie ihren Blick auf Reacher. Blasse, makellose Haut, perfekte Knochenstruktur, zarte Gesichtszüge. Grüne Augen voller Kummer.
Sie sagte: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
Er fragte: »Wofür?«
»Bei unserer ersten Begegnung habe ich gesagt, Sie machten den Eindruck, von einer fixen Idee besessen zu sein.«
»Ich denke, das habe ich gesagt.«
»Nur weil Sie wussten, dass ich das denke.«
»Sie hatten allen Anlass dazu.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Aber jetzt bin ich froh, dass Sie hier sind.«
»Freut mich, das zu hören.«
»Ich sollte Ihnen zahlen, was ich Mr. Bramall bezahle. Den gleichen Tagessatz.«
»Ich will kein Geld«, sagte Reacher.
»Sie glauben, dass Tugend Ihr eigener Lohn ist?«
»Von Tugend verstehe ich nicht viel. Ich will nur rauskriegen, was passiert ist. Ich kann kein Geld für meine private Befriedigung verlangen.«
Bramall kam zurück, und sie aßen, während sie die Bars gegenüber beobachteten.
Es fiel ihnen nichts Verdächtiges auf.
Mackenzie zahlte.
Reacher sagte: »Ich weiß noch eine Bar, in der wir uns umsehen könnten.«
»Wie diese?«, fragte Bramall.
»Vielleicht etwas besser. Möglicherweise treffen wir dort einen Kerl, mit dem wir reden können.«
Er führte sie zum nächsten Block in Richtung Bahnlinie, dann zwei Blocks weiter zu der Bar mit dem Einschussloch im Spiegel. Derselbe Kerl saß an demselben Tisch, wieder mit einer langhalsigen Flasche. Der hilfsbereite Typ oder der Wichtigtuer, der seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte, oder der hiesige Experte mit Spezialkenntnissen oder eine Mischung aus allen dreien. Sein Tisch war nur für zwei Personen, und so setzte Mackenzie sich ihm gegenüber, während Bramall und Reacher hinter ihr stehen blieben.
Der Kerl sagte: »Sie sind der Gentleman, der mich nach Mule Crossing gefragt hat.«
»Korrekt«, sagte Reacher.
»Und haben Sie’s gefunden? Oder sind Sie durchgerast, weil Sie gerade geblinzelt haben?«
Obwohl er mit Reacher sprach, hatte er nur Augen für Mackenzie. Schwer, das nicht zu tun. Die Mähne und das Gesicht, die Augen und die zierliche schlanke Figur unter der dünnen weißen Bluse.
Keine Spur von Wiedererkennen.
»Ich hab’s gefunden«, antwortete Reacher. »Hab dort unten sogar eine Story gehört. Vor anderthalb Jahren ist jemand von einem Bären gefressen worden.«
Der Kerl nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche.
Er wischte sich Schaum von der Oberlippe.
Er sagte: »Seymour Porterfield.«
»Sie haben ihn gekannt?«
»Der Freund meines Kumpels hat sein Dach repariert, wenn es undicht war. Was praktisch jeden Winter vorkam, weil es ganz falsch konstruiert war. Also hab ich alles Mögliche gehört. Was mit dem Grundstück war, hab ich schon immer gewusst. Das war alles Eisenbahnland, obwohl die Gleise von dort aus nicht mal zu sehen sind. Der gleiche alte Schwindel, aber vor über hundert Jahren. Ab und zu hat ein reicher Kerl im Osten einen Besitztitel geerbt und ist hergekommen, um sich ein Blockhaus zu bauen. Bei Porterfield war’s sein Vater. Er hat modern gebaut – daher vermutlich das undichte Dach. Dann ist er gestorben, und Porterfield hat den Besitz geerbt. Das einfache Leben muss ihm gefallen haben, denn er ist ganz dort eingezogen.«
»Wovon hat er gelebt?«
»Er hing dauernd am Telefon und war viel mit dem Auto unterwegs. Aber was er gemacht hat, wusste eigentlich niemand genau. Vielleicht waren es bloß Hobbys. Von seinem Vater hatte er einen Haufen Geld geerbt. Irgendein altes Vermögen an der Ostküste. Vielleicht ein Stahlwerk – daher die Eisenbahn-Connection.«
»Welche Art Mensch war er?«
»Ein Collegeboy und ein Exmarine. Aber beide von der reichen Sorte.«
»Wie war seine Gesundheit?«
Der Kerl antwortete nicht gleich.
Er sagte: »Komisch, dass Sie das fragen.«
»Warum?«
»Äußerlich sah er kerngesund aus. Hätte auf ein Filmplakat gepasst. Aber er hatte Verbandmaterial in Großpackungen im Haus, und sein Badezimmerschrank war mit Medikamenten vollgestopft.«
»Das hat der Freund Ihres Kumpels alles mitbekommen?«
»Na ja, so im Vorbeigehen.«
»Hat’s dort oben jemals Ärger gegeben? Sind unangemeldet Fremde aufgekreuzt? Ist irgendwelcher komischer Scheiß passiert?«
Der Kerl schüttelte den Kopf.
»Keine Fremden«, sagte er. »Auch kein Ärger. Und nichts Komisches, bis seine geheime Freundin aufgekreuzt ist.«