18
Das Haus war groß, aber von außen leicht zu besichtigen, weil es eine umlaufende Veranda besaß, die auf allen Seiten eben und waagrecht verlief und bequemen Zugang zu den Türen und Fenstern im Erdgeschoss bot. Reacher begann auf der Vorderseite, mit der Haustür, an die Bramall geklopft hatte: eine massive Holztür, die jedoch abgesperrt war und viel zu mühsam aufzubrechen gewesen wäre. Also ging er zu einem Dielenfenster weiter, das kaum Mühe gemacht hätte, aber an der Vorderfront des Hauses lag, vor der ihn sein Unterbewusstsein selbst in dieser Waldeinsamkeit warnte. Die Vorderfront war nie gut. Nicht während der Durchsuchung, auch nicht danach. Wozu öffentlich sichtbare Beweise hinterlassen? Allerdings würde nicht viel zu sehen sein. Ein diskretes Loch in einer Fensterscheibe, das von dem Ellbogen eines großen Mannes stammen konnte, und ein aufgeschlitztes Fliegengitter, das in der Brise flatterte. Das wäre alles gewesen. Nicht viel, aber möglicherweise genug, um einem Vorbeikommenden ins Auge zu fallen. Aus allen möglichen Gründen war es immer vorteilhaft, wenn solche Spuren erst viel später entdeckt wurden.
Die Rückseite war besser.
Reacher ging eine Seite des Hauses entlang, vorbei an fünf weiteren Fenstern von der Größe des Dielenfensters. Das machte es wahrscheinlich, dass auch die Fenster auf der Rückseite alle identisch sein würden. Wegen des einheitlichen Designs. Oder vielleicht hatte es dafür einen Mengenrabatt gegeben. Jedenfalls war das gut. Solche Fenster machten es einem leicht.
Als er um die Ecke bog, war das erste Fenster auf der Rückseite eingeschlagen.
In der Scheibe klaffte ein Loch ungefähr von der Größe des Ellbogens eines großen Mannes.
Das Fliegengitter war aufgeschlitzt.
Das zerbrochene Glas wirkte schmutzig, das Fliegengitter angeschimmelt. Ein Jahr, vielleicht länger. Mindestens vier Jahreszeiten mit Wind und Wetter. Hinter der Scheibe lag eine Küche. Arbeitsflächen, die hätten glänzen sollen, waren vom Staub matt. An die Küche schloss sich eine nur undeutlich erkennbare Essnische an.
Er entschied sich für den langen Weg ganz ums Haus herum und kehrte zu dem Land Cruiser zurück. Bramall war wieder ausgestiegen. Er stand ungefähr zehn Meter von der Veranda entfernt in einer Art Niemandsland.
Reacher sagte: »Ich habe ein eingeschlagenes Fenster entdeckt.«
»Gut gemacht«, meinte Bramall. »Ich hab nicht das Geringste gehört.«
»Nein, echt. Wirklich ein eingeschlagenes Fenster. Schon früher von Unbekannten eingeschlagen. Anscheinend bereits vor einem Jahr. Genau wie ich’s gemacht hätte.«
»Zeigen Sie’s mir«, sagte Bramall.
Reacher führte ihn auf die Veranda und eine Seite des Hauses entlang und um die Ecke auf die Rückseite. Bramall sah sich alles genau an. Vor allem der Schimmel schien ihn zu überzeugen. Er sagte: »Mindestens ein Jahr. Sagen wir eineinhalb Jahre. Warum nicht? Vielleicht unmittelbar nach Porterfields Tod. War das der Sheriff? Sie haben gesagt, er habe das Haus durchsucht.«
»Der Sheriff hatte die Schlüssel«, sagte Reacher. »Er hat sie in Porterfields Tasche gefunden. Sie haben neben dem Zahnschema zu seiner Identifizierung beigetragen. Also brauchte der Sheriff hier nicht einzubrechen. Das war jemand, der keinen Schlüssel besaß.«
»Vielleicht Hausbesetzer.«
»Die würden kein Küchenfenster einschlagen. Die Küche ist ein Raum, den sie benutzen wollen würden. Sie hätten sich irgendein anderes Fenster vorgenommen.«
»Gut, dann gewöhnliche Einbrecher.«
»Möglicherweise. Das sehen wir daran, wie viel Unordnung sie hinterlassen haben.«
»Wir gehen trotzdem rein?«
»Das hatten wir vor«, sagte Reacher. »Ich sehe keinen Grund, es jetzt nicht zu tun. Dies ist praktisch eine Aufforderung. Wir haben eine Pflicht als Bürger.«
»Theoretisch müssten wir den Sheriff anrufen.«
»Hier handelt es sich um einen Graubereich. Der Besitzer ist tot. Er hatte keine Erben. Die Situation ist schwierig. Jurastudenten lesen dicke Wälzer über solche Sachen. Ich bin sicher, dass der Sheriff in keine endlos lange Diskussion verwickelt werden möchte. Außerdem kann sie von hier aus ihre Schwester angerufen haben. Exakt von hier aus. Als sie gesagt hat: ›Halt die Klappe, Cy, ich telefoniere gerade.‹ Das muss bei ihm oder ihr gewesen sein. In beiden Fällen muss sie hier Zeit verbracht haben. Also wissen Sie, dass wir reingehen müssen.«
»Ich weiß, dass ich’s muss«, sagte Bramall. »Aber Sie haben keinerlei Verpflichtung.«
»Sind Sie jetzt mein Kindermädchen?«
»Ich halte mich für verpflichtet, auf die möglichen Konsequenzen hinzuweisen.«
»Ah, ich verstehe. Sie wollen, dass ich als Erster einsteige. Damit Sie sich einreden können, Sie hätten sich von mir mitreißen lassen. Ich soll den bösen Kerl spielen, weil Sie Skrupel haben.«
»Nicht wie Sie denken. Aber ich habe eine Lizenz des Staates Illinois. Die ich behalten möchte. Wer als Erster einsteigt, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass man mir ankreiden könnte, einen Juniorpartner nicht auf mögliche juristische Konsequenzen aufmerksam gemacht zu haben.«
»Wir sind also Partner?«
»Gewissermaßen.«
»Junior- und Seniorpartner?«
»Durch Alter und Erfahrung.«
»Müssen Sie mich bei jedem Schritt, den wir tun, vor möglichen Gefahren warnen?«
»Theoretisch ja.«
»Das sparen wir uns, okay? Eine Belehrung reicht. Dann macht die Sache mehr Spaß.«
»Okay«, meinte Bramall. »Wenn Sie Spaß wollen, dürfen Sie als Erster rein.«
Bramalls Beitrag bestand darin, durch das Loch in der Scheibe zu greifen und das Schiebefenster mit der inneren Kurbel hochzudrehen. Reachers Jacke war neu, sein Hemd auch. Er wollte keine Schimmelflecken darauf, die unvermeidlich gewesen wären, wenn er wie der Eindringling vor einem oder eineinhalb Jahren durch den Schlitz im damals noch sauberen Fliegengitter hineingegriffen hätte. Also riss er das Nylongewebe rundum aus dem Rahmen, faltete es zu einem gezackten Quadrat zusammen und ließ es auf die Verandabretter fallen.
Durch ein Küchenfenster schlängelte man sich am besten mit den Füßen voraus auf dem Bauch liegend. So hatte man eine Chance, auf den Füßen statt auf den Händen zu landen. Aber der Bewegungsablauf war kompliziert. Er erforderte ziemliche Verrenkungen. Schlimmer war’s, wenn sich unter dem Fenster ein Ausguss mit Wasserhahn befand. Aber Porterfields Ausguss war an einer anderen Wand montiert. Das machte die Sache etwas einfacher.
Reacher spürte seine Beine in der Luft hängen, knickte den Körper ab, setzte die Füße auf und stemmte sich hoch. Stand jetzt drinnen, mit Blick nach außen. Wegen des Lochs in der Scheibe sah die Küche vom Wetter etwas mitgenommen aus. Aber sie musste einst teuer gewesen sein. Das war offensichtlich. Das Holz wirkte dick, der Granit noch dicker. Alle Großgeräte hatten Edelstahlfronten. Alle Uhren und Anzeigen waren dunkel, erloschen. In der Küche herrschte Totenstille. Kein unterschwelliges Summen, kein Rauschen in den Leitungen. Kein Strom, kein Wasser. Niemand, der die Rechnungen zahlte. Alles abgeschaltet.
Er bewegte sich im Halbdunkel weiter, aus der Küche, in den Essbereich. Von dort aus in den Wohnraum, der als offene Wohnlandschaft angelegt war – mit einem komplizierten sichtbaren Dachstuhl und einem riesigen offenen Kamin aus Natursteinen in der Größe von Traktorreifen.
Ein Blockhaus für Angeber. Authentische Designs besaßen keine Kamine, für deren Bau ein Gabelstapler nötig war. Sie verwendeten kleinere Steine. Und wozu ein Deckengewölbe, wenn eine flache Decke genügte?
Aber in diesem Luxushaus hatte wirklich jemand gelebt. Reacher fand es attraktiv. Die Baumstämme der Wände waren hell honigfarben. Die Sitzmöbel sahen bequem, aber nicht protzig aus. Auf Glasregalen wurden alle möglichen Kuriosa präsentiert: Tierschädel, interessante Steine, originelle Kiefernzapfen. Eine fast familiäre Atmosphäre – die einer reichen Familie.
Er ging in die Küche zurück. Zu dem eingeschlagenen Fenster. Bramall stand draußen und schaute ihn an.
Reacher sagte: »Kein Grund zur Sorge. Alles wie in einer Zeitkapsel. Was einen Einbruch ausschließt. Weil nichts in Unordnung ist. Der Staub liegt überall gleich dick. Nirgends die geringste Unordnung. Also dürften auch Hausbesetzer ausscheiden.«
»Ich komme auch rein«, sagte Bramall.
Er hatte steifere Gelenke als Reacher, aber weil er kleiner war, fiel dieses Manöver ihm leichter. Er richtete sich auf und blickte sich um, ähnlich wie Reacher es getan hatte. Küche, Essbereich, Wohnraum.
Nicht verwüstet.
Bramall sagte: »Nicht, was ich erwartet hatte.«
»In welcher Beziehung?«, fragte Reacher.
»Wenn ich ein Blockhaus hätte, könnte es wie dieses aussehen.«
»Dealer haben keinen Geschmack?«
»Meist nicht.«
Reacher spähte in den Flur hinaus.
Er sagte: »An beiden Enden liegen Schlafzimmer.«
Bramall fragte: »Wer hat die Scheibe eingeschlagen, wenn’s keine Einbrecher oder Hausbesetzer waren?«
»Nicht der Sheriff«, entgegnete Reacher. »Aber jemand wie er. Ein Profi, der etwas Bestimmtes gesucht hat.«
»Aber wo ist die Unordnung? Profisucher stellen die Bude auf den Kopf.«
»Vielleicht hat er das Gesuchte auf Anhieb gefunden. Vielleicht erkennt man daran den wahren Profi. Möglich, dass er von Anfang an gewusst hat, wo es war. Oder er war hier, um sich etwas zurückzuholen.«
»Was zurückholen?«
»Mir egal«, sagte Reacher. »Ich will nur Sanderson finden.«
»Sie glauben, dass sie sich hier aufgehalten hat. Damals, als sie mit einem Dealer befreundet war, der es vielleicht verdient hatte, erschossen oder erstochen zu werden.«
»Sind Sie jetzt ihr älterer Bruder?«
»Ich glaube nicht, dass es diese Beziehung gab. Sie hätte einen Besseren gefunden.«
»Sie hat gesagt: ›Halt die Klappe, Sy, ich telefoniere gerade.‹ Selbst die verklemmte Zwillingsschwester hat gemeint, das habe freundschaftlich, zufrieden und glücklich geklungen. Im besten Fall waren sie echt gute Freunde.«
»Noch schlimmer«, sagte Bramall. »Seine Freunde sucht man sich selbst.«
»Jedenfalls haben sie Zeit miteinander verbracht. Hier und in ihrer Wohnung. Wo immer die sein mag.«
»Vor eineinhalb Jahren.«
»Besser als nichts.«
»Wenn Ihr Sy der richtige Sy ist.«
»Fifty-fifty falsch oder richtig. Keine schlechte Quote.«
Bramall zog sein Smartphone heraus.
»Zwei Balken«, erklärte er. »Sie hätte von hier aus telefonieren können.«
»Was hat die Auswertung der Handydaten ergeben?«
»Um triangulieren zu können, braucht man drei Funkmasten. Hier gibt es nur einen für alle Richtungen. Sie hat aus einem riesigen kreisrunden Gebiet ungefähr so groß wie New Jersey angerufen. Mehr wissen wir nicht.«
»Könnte hier gewesen sein. Dagegen spricht nichts.«
Bramall trat in die Mitte des Wohnraums und sagte: Das war vor eineinhalb Jahren, und dieses Haus ist seither zweimal durchsucht worden. Und wenn Sie mit der Annahme recht haben, dass jemand sich etwas zurückholen wollte, ist das wichtigste Objekt, das wir hätten finden können, schon weg. Hier geht’s also darum, etwas zu entdecken, das bei zwei anderen Durchsuchungen übersehen worden ist. Das ist mühsame Arbeit. Wie viel Zeit haben wir?«
»Hier draußen ungefähr hundert Jahre, denke ich«, sagte Reacher. »Stellen Sie Ihren Wagen hinters Haus, könnten wir einziehen und ewig hier leben. Das würde keiner merken.«
»Okay, wir suchen gemeinsam. Verzichten auf einen Ausguck. Vier Augen sind besser als zwei.«
Die ersten übersehenen Gegenstände fanden sie binnen einer Minute.