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Das Haus war groß, aber von außen leicht zu
besichtigen, weil es eine umlaufende Veranda besaß, die auf allen
Seiten eben und waagrecht verlief und bequemen Zugang zu den Türen
und Fenstern im Erdgeschoss bot. Reacher begann auf der
Vorderseite, mit der Haustür, an die Bramall geklopft hatte: eine
massive Holztür, die jedoch abgesperrt war und viel zu mühsam
aufzubrechen gewesen wäre. Also ging er zu einem Dielenfenster
weiter, das kaum Mühe gemacht hätte, aber an der Vorderfront des
Hauses lag, vor der ihn sein Unterbewusstsein selbst in dieser
Waldeinsamkeit warnte. Die Vorderfront war nie gut. Nicht während
der Durchsuchung, auch nicht danach. Wozu öffentlich sichtbare
Beweise hinterlassen? Allerdings würde nicht viel zu sehen sein.
Ein diskretes Loch in einer Fensterscheibe, das von dem Ellbogen
eines großen Mannes stammen konnte, und ein aufgeschlitztes
Fliegengitter, das in der Brise flatterte. Das wäre alles gewesen.
Nicht viel, aber möglicherweise genug, um einem Vorbeikommenden ins
Auge zu fallen. Aus allen möglichen Gründen war es immer
vorteilhaft, wenn solche Spuren erst viel später entdeckt
wurden.
Die Rückseite war besser.
Reacher ging eine Seite des Hauses entlang,
vorbei an fünf weiteren Fenstern von der Größe des Dielenfensters.
Das machte es wahrscheinlich, dass auch die Fenster auf der
Rückseite alle identisch sein würden. Wegen des einheitlichen
Designs. Oder vielleicht hatte es dafür einen Mengenrabatt gegeben.
Jedenfalls war das gut. Solche Fenster machten es einem
leicht.
Als er um die Ecke bog, war das erste
Fenster auf der Rückseite eingeschlagen.
In der Scheibe klaffte ein Loch ungefähr von
der Größe des Ellbogens eines großen Mannes.
Das Fliegengitter war aufgeschlitzt.
Das zerbrochene Glas wirkte schmutzig, das
Fliegengitter angeschimmelt. Ein Jahr, vielleicht länger.
Mindestens vier Jahreszeiten mit Wind und Wetter. Hinter der Scheibe lag eine Küche.
Arbeitsflächen, die hätten glänzen sollen, waren vom Staub matt. An
die Küche schloss sich eine nur undeutlich erkennbare Essnische
an.
Er entschied sich für den langen Weg ganz
ums Haus herum und kehrte zu dem Land Cruiser zurück. Bramall war
wieder ausgestiegen. Er stand ungefähr zehn Meter von der Veranda
entfernt in einer Art Niemandsland.
Reacher sagte: »Ich habe ein eingeschlagenes
Fenster entdeckt.«
»Gut gemacht«, meinte Bramall. »Ich hab
nicht das Geringste gehört.«
»Nein, echt. Wirklich ein eingeschlagenes
Fenster. Schon früher von Unbekannten eingeschlagen. Anscheinend
bereits vor einem Jahr. Genau wie ich’s gemacht hätte.«
»Zeigen Sie’s mir«, sagte Bramall.
Reacher führte ihn auf die Veranda und eine
Seite des Hauses entlang und um die Ecke auf die Rückseite. Bramall
sah sich alles genau an. Vor allem der Schimmel schien ihn zu
überzeugen. Er sagte: »Mindestens ein Jahr. Sagen wir eineinhalb
Jahre. Warum nicht? Vielleicht unmittelbar nach Porterfields Tod.
War das der Sheriff? Sie haben gesagt, er habe das Haus
durchsucht.«
»Der Sheriff hatte die Schlüssel«, sagte
Reacher. »Er hat sie in Porterfields Tasche gefunden. Sie haben
neben dem Zahnschema zu seiner Identifizierung beigetragen. Also
brauchte der Sheriff hier nicht einzubrechen. Das war jemand, der
keinen Schlüssel besaß.«
»Vielleicht Hausbesetzer.«
»Die würden kein Küchenfenster einschlagen.
Die Küche ist ein Raum, den sie benutzen wollen würden. Sie hätten
sich irgendein anderes Fenster vorgenommen.«
»Gut, dann gewöhnliche Einbrecher.«
»Möglicherweise. Das sehen wir daran, wie
viel Unordnung sie hinterlassen haben.«
»Wir gehen trotzdem rein?«
»Das hatten wir vor«, sagte Reacher. »Ich
sehe keinen Grund, es jetzt nicht zu tun. Dies ist praktisch eine
Aufforderung. Wir haben eine Pflicht als Bürger.«
»Theoretisch müssten wir den Sheriff
anrufen.«
»Hier handelt es sich um einen Graubereich.
Der Besitzer ist tot. Er hatte keine Erben. Die Situation ist
schwierig. Jurastudenten lesen dicke Wälzer über solche Sachen. Ich
bin sicher, dass der Sheriff in keine endlos lange Diskussion verwickelt werden möchte. Außerdem
kann sie von hier aus ihre Schwester angerufen haben. Exakt von
hier aus. Als sie gesagt hat: ›Halt die Klappe, Cy, ich telefoniere
gerade.‹ Das muss bei ihm oder ihr gewesen sein. In beiden Fällen
muss sie hier Zeit verbracht haben. Also wissen Sie, dass wir
reingehen müssen.«
»Ich weiß, dass ich’s muss«, sagte Bramall.
»Aber Sie haben keinerlei Verpflichtung.«
»Sind Sie jetzt mein Kindermädchen?«
»Ich halte mich für verpflichtet, auf die
möglichen Konsequenzen hinzuweisen.«
»Ah, ich verstehe. Sie wollen, dass ich als
Erster einsteige. Damit Sie sich einreden können, Sie hätten sich
von mir mitreißen lassen. Ich soll den bösen Kerl spielen, weil Sie
Skrupel haben.«
»Nicht wie Sie denken. Aber ich habe eine
Lizenz des Staates Illinois. Die ich behalten möchte. Wer als
Erster einsteigt, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass man
mir ankreiden könnte, einen Juniorpartner nicht auf mögliche
juristische Konsequenzen aufmerksam gemacht zu haben.«
»Wir sind also Partner?«
»Gewissermaßen.«
»Junior- und Seniorpartner?«
»Durch Alter und Erfahrung.«
»Müssen Sie mich bei jedem Schritt, den wir
tun, vor möglichen Gefahren warnen?«
»Theoretisch ja.«
»Das sparen wir uns, okay? Eine Belehrung
reicht. Dann macht die Sache mehr Spaß.«
»Okay«, meinte Bramall. »Wenn Sie Spaß
wollen, dürfen Sie als Erster rein.«
Bramalls Beitrag bestand darin, durch das
Loch in der Scheibe zu greifen und das Schiebefenster mit der
inneren Kurbel hochzudrehen. Reachers Jacke war neu, sein Hemd
auch. Er wollte keine Schimmelflecken darauf, die unvermeidlich
gewesen wären, wenn er wie der Eindringling vor einem oder
eineinhalb Jahren durch den Schlitz im damals noch sauberen
Fliegengitter hineingegriffen hätte. Also riss er das Nylongewebe
rundum aus dem Rahmen, faltete es zu
einem gezackten Quadrat zusammen und ließ es auf die Verandabretter
fallen.
Durch ein Küchenfenster schlängelte man sich
am besten mit den Füßen voraus auf dem Bauch liegend. So hatte man
eine Chance, auf den Füßen statt auf den Händen zu landen. Aber der
Bewegungsablauf war kompliziert. Er erforderte ziemliche
Verrenkungen. Schlimmer war’s, wenn sich unter dem Fenster ein
Ausguss mit Wasserhahn befand. Aber Porterfields Ausguss war an
einer anderen Wand montiert. Das machte die Sache etwas
einfacher.
Reacher spürte seine Beine in der Luft
hängen, knickte den Körper ab, setzte die Füße auf und stemmte sich
hoch. Stand jetzt drinnen, mit Blick nach außen. Wegen des Lochs in
der Scheibe sah die Küche vom Wetter etwas mitgenommen aus. Aber
sie musste einst teuer gewesen sein. Das war offensichtlich. Das
Holz wirkte dick, der Granit noch dicker. Alle Großgeräte hatten
Edelstahlfronten. Alle Uhren und Anzeigen waren dunkel, erloschen.
In der Küche herrschte Totenstille. Kein unterschwelliges Summen,
kein Rauschen in den Leitungen. Kein Strom, kein Wasser. Niemand,
der die Rechnungen zahlte. Alles abgeschaltet.
Er bewegte sich im Halbdunkel weiter, aus
der Küche, in den Essbereich. Von dort aus in den Wohnraum, der als
offene Wohnlandschaft angelegt war – mit einem komplizierten
sichtbaren Dachstuhl und einem riesigen offenen Kamin aus
Natursteinen in der Größe von Traktorreifen.
Ein Blockhaus für Angeber. Authentische
Designs besaßen keine Kamine, für deren Bau ein Gabelstapler nötig
war. Sie verwendeten kleinere Steine. Und wozu ein Deckengewölbe,
wenn eine flache Decke genügte?
Aber in diesem Luxushaus hatte wirklich
jemand gelebt. Reacher fand es attraktiv. Die Baumstämme der Wände
waren hell honigfarben. Die Sitzmöbel sahen bequem, aber nicht
protzig aus. Auf Glasregalen wurden alle möglichen Kuriosa
präsentiert: Tierschädel, interessante Steine, originelle
Kiefernzapfen. Eine fast familiäre Atmosphäre – die einer reichen
Familie.
Er ging in die Küche zurück. Zu dem
eingeschlagenen Fenster. Bramall stand draußen und schaute ihn
an.
Reacher sagte: »Kein Grund zur Sorge. Alles
wie in einer Zeitkapsel. Was einen Einbruch ausschließt. Weil
nichts in Unordnung ist. Der Staub liegt überall gleich dick.
Nirgends die geringste Unordnung. Also dürften auch Hausbesetzer
ausscheiden.«
»Ich komme auch rein«, sagte
Bramall.
Er hatte steifere Gelenke als Reacher, aber
weil er kleiner war, fiel dieses Manöver ihm leichter. Er richtete
sich auf und blickte sich um, ähnlich wie Reacher es getan hatte.
Küche, Essbereich, Wohnraum.
Nicht verwüstet.
Bramall sagte: »Nicht, was ich erwartet
hatte.«
»In welcher Beziehung?«, fragte
Reacher.
»Wenn ich ein Blockhaus hätte, könnte es wie
dieses aussehen.«
»Dealer haben keinen Geschmack?«
»Meist nicht.«
Reacher spähte in den Flur hinaus.
Er sagte: »An beiden Enden liegen
Schlafzimmer.«
Bramall fragte: »Wer hat die Scheibe
eingeschlagen, wenn’s keine Einbrecher oder Hausbesetzer
waren?«
»Nicht der Sheriff«, entgegnete Reacher.
»Aber jemand wie er. Ein Profi, der etwas Bestimmtes gesucht
hat.«
»Aber wo ist die Unordnung? Profisucher
stellen die Bude auf den Kopf.«
»Vielleicht hat er das Gesuchte auf Anhieb
gefunden. Vielleicht erkennt man daran den wahren Profi. Möglich,
dass er von Anfang an gewusst hat, wo es war. Oder er war hier, um
sich etwas zurückzuholen.«
»Was zurückholen?«
»Mir egal«, sagte Reacher. »Ich will nur
Sanderson finden.«
»Sie glauben, dass sie sich hier aufgehalten
hat. Damals, als sie mit einem Dealer befreundet war, der es
vielleicht verdient hatte, erschossen oder erstochen zu
werden.«
»Sind Sie jetzt ihr älterer Bruder?«
»Ich glaube nicht, dass es diese Beziehung
gab. Sie hätte einen Besseren gefunden.«
»Sie hat gesagt: ›Halt die Klappe, Sy, ich
telefoniere gerade.‹ Selbst die verklemmte Zwillingsschwester hat
gemeint, das habe freundschaftlich, zufrieden und glücklich
geklungen. Im besten Fall waren sie echt gute Freunde.«
»Noch schlimmer«, sagte Bramall. »Seine
Freunde sucht man sich selbst.«
»Jedenfalls haben sie Zeit miteinander
verbracht. Hier und in ihrer Wohnung. Wo immer die sein mag.«
»Vor eineinhalb Jahren.«
»Besser als nichts.«
»Wenn Ihr Sy der richtige Sy ist.«
»Fifty-fifty falsch oder richtig. Keine
schlechte Quote.«
Bramall zog sein Smartphone heraus.
»Zwei Balken«, erklärte er. »Sie hätte von
hier aus telefonieren können.«
»Was hat die Auswertung der Handydaten
ergeben?«
»Um triangulieren zu können, braucht man
drei Funkmasten. Hier gibt es nur einen für alle Richtungen. Sie
hat aus einem riesigen kreisrunden Gebiet ungefähr so groß wie New
Jersey angerufen. Mehr wissen wir nicht.«
»Könnte hier gewesen sein. Dagegen spricht
nichts.«
Bramall trat in die Mitte des Wohnraums und
sagte: Das war vor eineinhalb Jahren, und dieses Haus ist seither
zweimal durchsucht worden. Und wenn Sie mit der Annahme recht
haben, dass jemand sich etwas zurückholen wollte, ist das
wichtigste Objekt, das wir hätten finden können, schon weg. Hier
geht’s also darum, etwas zu entdecken, das bei zwei anderen
Durchsuchungen übersehen worden ist. Das ist mühsame Arbeit. Wie
viel Zeit haben wir?«
»Hier draußen ungefähr hundert Jahre, denke
ich«, sagte Reacher. »Stellen Sie Ihren Wagen hinters Haus, könnten
wir einziehen und ewig hier leben. Das würde keiner merken.«
»Okay, wir suchen gemeinsam. Verzichten auf
einen Ausguck. Vier Augen sind besser als zwei.«
Die ersten übersehenen Gegenstände fanden
sie binnen einer Minute.