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Gloria Nakamura ging den Korridor entlang zum Eckbüro ihres Lieutenants. Sie war gerufen worden, wusste aber nicht, weshalb. Als sie eintrat, arbeitete der Mann an seinem Computer. Keine Mails, sondern eine Polizeidatenbank.
Er sagte: »Die DEA hat einen Kerl festgenommen, der mit Vornamen Billy heißt und aus Mule Crossing, Wyoming, stammt. Er ist in Oklahoma verhaftet worden, weil er eine rote Ampel überfahren hat. Er soll aus Wyoming geflüchtet sein, nachdem ein Freund ihn vor einem DEA -Unternehmen in Montana gewarnt hat. Folglich brauchen wir weder die beiden Männer noch den Kollegen auf dem Land anzurufen.«
Also doch nicht Reacher, dachte sie.
Aus irgendeinem Grund war sie ein wenig enttäuscht.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr ihr Lieutenant fort. »Die Feds wissen nichts von Scorpio. Das geht aus ihrem Bericht eindeutig hervor. Wir sollen Billys Namen im Zusammenhang mit anderen offenen Fällen überprüfen und ihnen helfen, den Mann zu finden, für den er gearbeitet hat. Sie kennen ihn nicht.«
»Wollen Sie das tun?«
»Teufel, nein. Ich will nicht, dass eine Horde hochnäsiger Federal Agents hier einfällt und sich die Lorbeeren einheimst. Scorpio gehört dem Rapid City Police Department. Wir bringen ihn zur Strecke.«
»Ja, Sir«, sagte Nakamura. »Wir wissen, dass Scorpio Billy bereits ersetzt hat. Keine gerichtsfesten Beweise, aber dort draußen ist ein neuer Kerl unterwegs.«
Ihr Lieutenant sagte: »Übrigens hat die DEA eine weitere Anfrage ins System eingegeben. Sieht völlig unabhängig aus, aber das glaube ich nicht. Sie ist unmittelbar nach der anderen gestellt worden. Sie fragt an, ob irgendjemand in der Western Region original verpacktes Oxycodon oder Fentanyl gesehen hat. In großen Mengen wie in der guten alten Zeit.«
»Ich dachte, damit wär’s vorbei.«
»Damit ist es vorbei. Jeder Lastwagen, der die Fabrik verlässt, wird vom Computer erfasst und per GPS verfolgt. Außerdem registrieren sie seine Ladung genau, sodass man theoretisch den Weg jeder einzelnen Tablette verfolgen kann.«
»Warum ist die DEA dann besorgt?«
»Irgendetwas scheint nicht richtig zu funktionieren. Oder Scorpio ist cleverer, als wir angenommen haben. Jedenfalls dürfen wir nicht zulassen, dass die Feds uns bei ihm zuvorkommen. Ich möchte, dass Sie Ihre Anstrengungen verdoppeln. Lassen Sie Ihre anderen Fälle auf kleiner Flamme weiterköcheln. Ich will hier keine Federal Agents sehen.«
Bramalls Navi zeigte ihnen die beste Route: von Laramie nach Cheyenne auf dem Highway, dann auf der State Road geradeaus nach Norden weiter. Also bogen sie in Mule Crossing von der unbefestigten Straße auf die State Road, passierten das Postamt, das Geschäft für Feuerwerk und die Werbetafel mit der Rakete in der Flasche, bis sie den Highway erreichten, auf dem sie in Richtung Osten fuhren. Mackenzie war auf der ganzen Fahrt sichtlich besorgt. Sie war in denselben Abgrund gesprungen wie ihre Schwester. Die Zwillinge waren Hand in Hand gesprungen. Sie hatten dieselben Probleme: ein internes und ein externes. Sanderson saß mit abgewandtem Kopf da und starrte aus dem Fenster. Ihre Hände waren verkrampft. Damit keiner sieht, wie sie zittern, vermutete Reacher. Sie ging bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie rationierte ihren spärlichen Vorrat. Vielleicht hatte sie sich ein Ziel gesetzt. Zum Beispiel hundert Meilen Fahrtstrecke. Erst dann gab es den nächsten halben Zentimeter. Oder fünf rote Lastwagen oder eine Raststätte oder einen Wagen mit Hybridantrieb.
Reacher überprüfte die Waffen. Die Smith & Wesson 39, die Ruger Standard, die Springfield P9 und den Colt .45. Alle vier waren abgewetzt und verkratzt. Die ungeladene Springfield kam ins Türfach, die Smith & Wesson in seine Jackentasche. Die Ruger, ein Uraltmodell, stammte wahrscheinlich aus dem Jahr 1949, als diese Waffe das erste Produkt ihrer Firma gewesen war. Ihr Magazin enthielt zwei Long-Rifle-Patronen Kaliber .22. Nicht Reachers bevorzugtes Kaliber, deshalb kam sie ins Türfach zu der Springfield. Der Colt war das Militärmodell M1911; seine eingravierten Markierungen zeigten, dass er vermutlich noch älter als die Ruger war. In seinem Zylinder steckten drei Patronen. Reacher hielt ihn am Lauf, drehte sich halb um und bot ihn Sanderson an.
Sie saß hinter Bramall, und als sie sich jetzt Reacher zuwandte, sah er mehr von ihrer linken Gesichtshälfte als zuvor. Bewundernswert gute Arbeit, hatte Bramall gesagt. Das Werk eines Virtuosen. Aber in Wirklichkeit ziemlich miserabel. Reacher fand alle drei Urteile zutreffend. Ihr Gesicht bestand aus zusammengesetzten briefmarkengroßen Stücken. Er hatte nur eine vage Vorstellung von der großen Geschicklichkeit und Sorgfalt des Chirurgen. Viele Stunden Präzisionsarbeit, um Nerven und Muskeln wieder zusammenzunähen. Aber einige waren nicht angewachsen. Sie bildeten nekrotische Stellen. Und jedes briefmarkengroße Stück war an den Rändern von wulstigen Narben umgeben. Einige wenige sahen aus, als passten sie nicht an die Stelle, an der sie jetzt saßen. Die rechte Gesichtshälfte konnte er wegen der Alufolie nicht sehen.
Sanderson wies die angebotene Waffe zurück. Nicht mit Worten, sondern indem sie die Hände abwehrend hob. Ihm fiel auf, dass sie leicht zitterten. Nicht weiter dramatisch, aber es war noch sehr früh. Er wandte sich wieder ab und bot den Colt Bramall an, der andere Probleme hatte. Mehr Regeln als Reacher und eine Lizenz des Bundesstaats Illinois. Er überlegte kurz, dann nahm er die Waffe – aber er verstaute sie in seinem Türfach, statt sie in die Tasche zu stecken. Eine Art ethischer Kompromiss.
Am Spätvormittag sah Nakamura Scorpio zum Hintereingang seines Waschsalons gehen. Sie parkte in der Seitenstraße an genau der richtigen Stelle, um alles beobachten zu können. Scorpio ließ die Tür wieder einen Spalt weit offen. Nur zwei Finger breit. Wieder ein warmer Tag. Ein wolkenloser Himmel über dem Kabelgewirr an schiefen Holzmasten, Stromkabel und Telefonleitungen. Manche dick, manche dünn. Manche alt, manche neu. Einige sehr neu. Vielleicht Glasfaserkabel fürs Internet.
Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und rief ihren Freund an.
Sie sagte: »Achte bitte wieder auf dieses Signal. Scorpio ist gerade ins Büro zurückgekommen.«
Ihr Freund sagte: »Dies ist keine exakte Wissenschaft.«
»Letztes Mal hast du die Sache mit dem Ersatz für Billy gut hingekriegt. Jetzt gibt es ein neues DEA -Bulletin.«
»Ich hab’s gesehen.«
»Und gleich danach ein weiteres wegen rezeptpflichtiger Medikamente. Was komisch ist, weil dieses Zeug genau verfolgt wird. Sie registrieren jeden Lastwagen, der die Fabrik verlässt, verfolgen seine Fahrt per GPS und gleichen die Rechnungen mit den Zahlungen ab. Wo ist also das Leck?«
»Das ist dein Job. Ich bin nur ein kleiner Techniker.«
»Deshalb rufe ich dich dauernd an. Damit ich mich nicht blamiere.«
»Wie lautet die neueste wilde Theorie?«
»Die IT -Experten einer Fabrik könnten einen ganzen Lastwagen verschwinden lassen, stimmt’s? Sie könnten ihn vollständig ausradieren, auch seine Ladung und seinen GPS -Track. Als ob er die Fabrik nie verlassen hätte. Als ob der betreffende Lastwagen an diesem Tag in der Werkstatt gewesen wäre. Oder auf dem Parkplatz gestanden hätte.«
»Das suggeriert Korruption bei den IT -Leuten. Danach müsstest du vielleicht andere fragen.«
»Wäre das möglich?«, erkundigte sie sich.
»Dazu müssten sie auch die Rechnung löschen. Und die Originalbestellung. Außerdem müssten sie die Produktionsdaten frisieren, damit es nicht so aussieht, als würden mehr Tabletten hergestellt als ausgeliefert. Täten sie das alles, wäre alles ausgeglichen. Der nirgends verzeichnete Überschuss wäre eine nebulöse Menge, die irgendwo dort draußen herumgeistert.«
»Könnten sie das alles?«, fragte sie.
»Natürlich könnten sie das«, entgegnete ihr Freund. »Computer tun, was man ihnen sagt. Das Ergebnis hängt davon ab, wer das Sagen hat.«
»Was ist mit jemandem außerhalb der Fabrik? Lässt sich das Ganze auch ferngesteuert durchführen?«
»Von einem Hacker, meinst du? Klar, wenn er’s schafft, die Firewall zu durchbrechen. Was schwierig wäre, weil wir hier von einem Pharmahersteller und der DEA reden. Aber nicht unmöglich. Die Software dafür gibt’s in Russland zu kaufen.«
»Welche Ausrüstung bräuchte man dafür?«
»Letzten Endes nicht mehr als einen Laptop. Aber auf dem Weg dorthin müssten gewaltige Datenmengen verarbeitet werden. Dabei würden viele Rechenvorgänge parallel ablaufen müssen. Also bräuchte er mindestens ein paar Racks. Als hätte er einen eigenen Server.«
»Ziemlich heiß, was?«
»Unsere Klimaanlage hier unten arbeitet auf Hochtouren.«
»Danke«, sagte sie.
Nakamura beendete das Gespräch, blickte wieder zu den Leitungen empor und dachte an Scorpios offene Tür.
Bramalls Smartphone klingelte knapp nördlich von Defiant, in dem es eine John-Deere-Vertretung und sonst nicht viel gab. Bramall fummelte das Handy aus seiner Tasche und sah aufs Display. Dann hielt er es Reacher hin, wie dieser ihm zuvor den Colt hingehalten hatte.
Auf dem kleinen Bildschirm stand West Point, Büro des Superintendenten.
Reacher fragte: »Woher weiß es das?«
»Ich hab’s gespeichert«, erklärte Bramall. »Als er zum ersten Mal angerufen hat.«
»Respekt vorm FBI «, sagte Reacher.
Er meldete sich am Telefon.
Dieselbe Frau.
Sie sagte: »Major Reacher, bitte.«
»Ma’am, am Apparat.«
»Augenblick, bitte. General Simpson möchte Sie sprechen.«
Als Nächstes hörte er den Super: »Major.«
Reacher sagte: »General.«
»Lagebericht?«
»Wir sind im Auto.«
»Kann sie hören, was Sie sagen?«
»Laut und deutlich.«
»Alles in Ordnung mit ihr?«
»Bisher.«
»Wir sind noch an der Sache mit der Sprengfalle dran. Diese Akten sind wirklich streng geheim. Aber wir haben etwas Neues über Porterfield erfahren. Vom Marine Corps. Es hatte einen Irrläufer erhalten und als weniger geheim abgeheftet.«
»Was haben Sie erfahren?«
»Gegen ihn bestand ein Haftbefehl. Eine Woche vor seinem Tod ausgestellt.«
»Von wem?«
»Defense Intelligence Agency.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Zwecklos. Die DIA erteilt keine Auskünfte.«
»Hatten Sie das Gefühl, das sei eine große Sache gewesen?«
»Die DIA war beteiligt. Das sind immer große Sachen.«
»Kennen Sie dort jemanden?«
»Vergessen Sie’s. Ich möchte meinen Ruhestand in Florida genießen, nicht hinter Gittern in Leavenworth.«
»Verstanden«, sagte Reacher. »Danke, General.«
Er trennte die Verbindung und gab Bramall das Smartphone zurück. Dabei bemerkte er Sandersons Blick unter ihrer Kapuze, der auf ihn gerichtet war. Sie wusste, dass irgendwas vorging. Er hatte gefragt: »Was haben Sie erfahren?« Sie war nicht dumm. Sie wusste, was draußen ablief.
Er sagte nichts.
Sie sagte: »Wir sollten später miteinander reden.«
Dann wandte sie sich ab, um wieder aus ihrem Fenster zu starren. Reacher schaute nach vorn. Bramall fuhr weiter.