41
Gloria Nakamura ging den Korridor entlang
zum Eckbüro ihres Lieutenants. Sie war gerufen worden, wusste aber
nicht, weshalb. Als sie eintrat, arbeitete der Mann an seinem
Computer. Keine Mails, sondern eine Polizeidatenbank.
Er sagte: »Die DEA hat einen Kerl festgenommen, der mit
Vornamen Billy heißt und aus Mule Crossing, Wyoming, stammt. Er ist
in Oklahoma verhaftet worden, weil er eine rote Ampel überfahren
hat. Er soll aus Wyoming geflüchtet sein, nachdem ein Freund ihn
vor einem DEA -Unternehmen in
Montana gewarnt hat. Folglich brauchen wir weder die beiden Männer
noch den Kollegen auf dem Land anzurufen.«
Also doch nicht Reacher, dachte sie.
Aus irgendeinem Grund war sie ein wenig
enttäuscht.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr ihr
Lieutenant fort. »Die Feds wissen nichts von Scorpio. Das geht aus
ihrem Bericht eindeutig hervor. Wir sollen Billys Namen im
Zusammenhang mit anderen offenen Fällen überprüfen und ihnen
helfen, den Mann zu finden, für den er gearbeitet hat. Sie kennen
ihn nicht.«
»Wollen Sie das tun?«
»Teufel, nein. Ich will nicht, dass eine
Horde hochnäsiger Federal Agents hier einfällt und sich die
Lorbeeren einheimst. Scorpio gehört dem Rapid City Police
Department. Wir bringen ihn zur
Strecke.«
»Ja, Sir«, sagte Nakamura. »Wir wissen, dass
Scorpio Billy bereits ersetzt hat. Keine gerichtsfesten Beweise,
aber dort draußen ist ein neuer Kerl unterwegs.«
Ihr Lieutenant sagte: Ȇbrigens hat die
DEA eine weitere Anfrage ins System
eingegeben. Sieht völlig unabhängig aus, aber das glaube ich nicht.
Sie ist unmittelbar nach der anderen gestellt worden. Sie fragt an,
ob irgendjemand in der Western Region original verpacktes Oxycodon
oder Fentanyl gesehen hat. In großen Mengen wie in der guten alten
Zeit.«
»Ich dachte, damit wär’s vorbei.«
»Damit ist es vorbei. Jeder
Lastwagen, der die Fabrik verlässt, wird vom Computer erfasst und
per GPS verfolgt. Außerdem
registrieren sie seine Ladung genau, sodass man theoretisch den Weg
jeder einzelnen Tablette verfolgen kann.«
»Warum ist die DEA dann besorgt?«
»Irgendetwas scheint nicht richtig zu
funktionieren. Oder Scorpio ist cleverer, als wir angenommen haben.
Jedenfalls dürfen wir nicht zulassen, dass die Feds uns bei ihm
zuvorkommen. Ich möchte, dass Sie Ihre Anstrengungen verdoppeln.
Lassen Sie Ihre anderen Fälle auf kleiner Flamme weiterköcheln. Ich
will hier keine Federal Agents sehen.«
Bramalls Navi zeigte ihnen die beste Route:
von Laramie nach Cheyenne auf dem Highway, dann auf der State Road
geradeaus nach Norden weiter. Also bogen sie in Mule Crossing von
der unbefestigten Straße auf die State Road, passierten das
Postamt, das Geschäft für Feuerwerk und die Werbetafel mit der
Rakete in der Flasche, bis sie den Highway erreichten, auf dem sie
in Richtung Osten fuhren. Mackenzie war auf der ganzen Fahrt
sichtlich besorgt. Sie war in denselben Abgrund gesprungen wie ihre
Schwester. Die Zwillinge waren Hand in Hand gesprungen. Sie hatten
dieselben Probleme: ein internes und ein externes. Sanderson saß
mit abgewandtem Kopf da und starrte aus dem Fenster. Ihre Hände
waren verkrampft. Damit keiner sieht, wie sie zittern, vermutete
Reacher. Sie ging bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie
rationierte ihren spärlichen Vorrat. Vielleicht hatte sie sich ein
Ziel gesetzt. Zum Beispiel hundert Meilen Fahrtstrecke. Erst dann
gab es den nächsten halben Zentimeter. Oder fünf rote Lastwagen
oder eine Raststätte oder einen Wagen mit Hybridantrieb.
Reacher überprüfte die Waffen. Die Smith
& Wesson 39, die Ruger Standard, die Springfield P9 und den
Colt .45. Alle vier waren abgewetzt und verkratzt. Die ungeladene
Springfield kam ins Türfach, die Smith & Wesson in seine
Jackentasche. Die Ruger, ein Uraltmodell, stammte wahrscheinlich
aus dem Jahr 1949, als diese Waffe das erste Produkt ihrer Firma
gewesen war. Ihr Magazin enthielt zwei Long-Rifle-Patronen Kaliber
.22. Nicht Reachers bevorzugtes Kaliber, deshalb kam sie ins
Türfach zu der Springfield. Der Colt war das Militärmodell M1911;
seine eingravierten Markierungen zeigten, dass er vermutlich noch
älter als die Ruger war. In seinem
Zylinder steckten drei Patronen. Reacher hielt ihn am Lauf, drehte
sich halb um und bot ihn Sanderson an.
Sie saß hinter Bramall, und als sie sich
jetzt Reacher zuwandte, sah er mehr von ihrer linken Gesichtshälfte
als zuvor. Bewundernswert gute Arbeit, hatte Bramall gesagt. Das
Werk eines Virtuosen. Aber in Wirklichkeit ziemlich miserabel.
Reacher fand alle drei Urteile zutreffend. Ihr Gesicht bestand aus
zusammengesetzten briefmarkengroßen Stücken. Er hatte nur eine vage
Vorstellung von der großen Geschicklichkeit und Sorgfalt des
Chirurgen. Viele Stunden Präzisionsarbeit, um Nerven und Muskeln
wieder zusammenzunähen. Aber einige waren nicht angewachsen. Sie
bildeten nekrotische Stellen. Und jedes briefmarkengroße Stück war
an den Rändern von wulstigen Narben umgeben. Einige wenige sahen
aus, als passten sie nicht an die Stelle, an der sie jetzt saßen.
Die rechte Gesichtshälfte konnte er wegen der Alufolie nicht
sehen.
Sanderson wies die angebotene Waffe zurück.
Nicht mit Worten, sondern indem sie die Hände abwehrend hob. Ihm
fiel auf, dass sie leicht zitterten. Nicht weiter dramatisch, aber
es war noch sehr früh. Er wandte sich wieder ab und bot den Colt
Bramall an, der andere Probleme hatte. Mehr Regeln als Reacher und
eine Lizenz des Bundesstaats Illinois. Er überlegte kurz, dann nahm
er die Waffe – aber er verstaute sie in seinem Türfach, statt sie
in die Tasche zu stecken. Eine Art ethischer Kompromiss.
Am Spätvormittag sah Nakamura Scorpio zum
Hintereingang seines Waschsalons gehen. Sie parkte in der
Seitenstraße an genau der richtigen Stelle, um alles beobachten zu
können. Scorpio ließ die Tür wieder einen Spalt weit offen. Nur
zwei Finger breit. Wieder ein warmer Tag. Ein wolkenloser Himmel
über dem Kabelgewirr an schiefen Holzmasten, Stromkabel und
Telefonleitungen. Manche dick, manche dünn. Manche alt, manche neu.
Einige sehr neu. Vielleicht Glasfaserkabel fürs Internet.
Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und
rief ihren Freund an.
Sie sagte: »Achte bitte wieder auf dieses
Signal. Scorpio ist gerade ins Büro zurückgekommen.«
Ihr Freund sagte: »Dies ist keine exakte
Wissenschaft.«
»Letztes Mal hast du die Sache mit dem
Ersatz für Billy gut hingekriegt. Jetzt gibt es ein neues
DEA -Bulletin.«
»Ich hab’s gesehen.«
»Und gleich danach ein
weiteres wegen rezeptpflichtiger Medikamente. Was komisch ist, weil
dieses Zeug genau verfolgt wird. Sie registrieren jeden Lastwagen,
der die Fabrik verlässt, verfolgen seine Fahrt per GPS und gleichen die Rechnungen mit den
Zahlungen ab. Wo ist also das Leck?«
»Das ist dein Job. Ich bin nur ein kleiner
Techniker.«
»Deshalb rufe ich dich dauernd an. Damit ich
mich nicht blamiere.«
»Wie lautet die neueste wilde
Theorie?«
»Die IT
-Experten einer Fabrik könnten einen ganzen Lastwagen verschwinden
lassen, stimmt’s? Sie könnten ihn vollständig ausradieren, auch
seine Ladung und seinen GPS -Track.
Als ob er die Fabrik nie verlassen hätte. Als ob der betreffende
Lastwagen an diesem Tag in der Werkstatt gewesen wäre. Oder auf dem
Parkplatz gestanden hätte.«
»Das suggeriert Korruption bei den
IT -Leuten. Danach müsstest du
vielleicht andere fragen.«
»Wäre das möglich?«, erkundigte sie
sich.
»Dazu müssten sie auch die Rechnung löschen.
Und die Originalbestellung. Außerdem müssten sie die
Produktionsdaten frisieren, damit es nicht so aussieht, als würden
mehr Tabletten hergestellt als ausgeliefert. Täten sie das alles,
wäre alles ausgeglichen. Der nirgends verzeichnete Überschuss wäre
eine nebulöse Menge, die irgendwo dort draußen
herumgeistert.«
»Könnten sie das alles?«, fragte sie.
»Natürlich könnten sie das«, entgegnete ihr
Freund. »Computer tun, was man ihnen sagt. Das Ergebnis hängt davon
ab, wer das Sagen hat.«
»Was ist mit jemandem außerhalb der Fabrik?
Lässt sich das Ganze auch ferngesteuert durchführen?«
»Von einem Hacker, meinst du? Klar, wenn
er’s schafft, die Firewall zu durchbrechen. Was schwierig wäre,
weil wir hier von einem Pharmahersteller und der DEA reden. Aber nicht unmöglich. Die Software
dafür gibt’s in Russland zu kaufen.«
»Welche Ausrüstung bräuchte man
dafür?«
»Letzten Endes nicht mehr als einen Laptop.
Aber auf dem Weg dorthin müssten gewaltige Datenmengen verarbeitet
werden. Dabei würden viele Rechenvorgänge parallel ablaufen müssen.
Also bräuchte er mindestens ein paar Racks. Als hätte er einen
eigenen Server.«
»Ziemlich heiß, was?«
»Unsere Klimaanlage hier unten arbeitet auf
Hochtouren.«
»Danke«, sagte sie.
Nakamura beendete das Gespräch, blickte
wieder zu den Leitungen empor und dachte an Scorpios offene
Tür.
Bramalls Smartphone klingelte knapp nördlich
von Defiant, in dem es eine John-Deere-Vertretung und sonst nicht
viel gab. Bramall fummelte das Handy aus seiner Tasche und sah aufs
Display. Dann hielt er es Reacher hin, wie dieser ihm zuvor den
Colt hingehalten hatte.
Auf dem kleinen Bildschirm stand
West Point, Büro des
Superintendenten.
Reacher fragte: »Woher weiß es das?«
»Ich hab’s gespeichert«, erklärte Bramall.
»Als er zum ersten Mal angerufen hat.«
»Respekt vorm FBI «, sagte Reacher.
Er meldete sich am Telefon.
Dieselbe Frau.
Sie sagte: »Major Reacher, bitte.«
»Ma’am, am Apparat.«
»Augenblick, bitte. General Simpson möchte
Sie sprechen.«
Als Nächstes hörte er den Super:
»Major.«
Reacher sagte: »General.«
»Lagebericht?«
»Wir sind im Auto.«
»Kann sie hören, was Sie sagen?«
»Laut und deutlich.«
»Alles in Ordnung mit ihr?«
»Bisher.«
»Wir sind noch an der Sache mit der
Sprengfalle dran. Diese Akten sind wirklich streng geheim. Aber wir
haben etwas Neues über Porterfield erfahren. Vom Marine Corps. Es
hatte einen Irrläufer erhalten und als weniger geheim
abgeheftet.«
»Was haben Sie erfahren?«
»Gegen ihn bestand ein Haftbefehl. Eine
Woche vor seinem Tod ausgestellt.«
»Von wem?«
»Defense Intelligence Agency.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Zwecklos. Die DIA erteilt keine
Auskünfte.«
»Hatten Sie das Gefühl, das sei eine große
Sache gewesen?«
»Die DIA war
beteiligt. Das sind immer große Sachen.«
»Kennen Sie dort jemanden?«
»Vergessen Sie’s. Ich möchte meinen
Ruhestand in Florida genießen, nicht hinter Gittern in
Leavenworth.«
»Verstanden«, sagte Reacher. »Danke,
General.«
Er trennte die Verbindung und gab Bramall
das Smartphone zurück. Dabei bemerkte er Sandersons Blick unter
ihrer Kapuze, der auf ihn gerichtet war. Sie wusste, dass irgendwas
vorging. Er hatte gefragt: »Was haben Sie erfahren?« Sie war nicht
dumm. Sie wusste, was draußen ablief.
Er sagte nichts.
Sie sagte: »Wir sollten später miteinander
reden.«
Dann wandte sie sich ab, um wieder aus ihrem
Fenster zu starren. Reacher schaute nach vorn. Bramall fuhr
weiter.