34
Die magische Stunde war das letzte Teilstück
der täglichen Sonnenbahn – wie eine sechzig Minuten lange
Abschiedsvorstellung, bei der sie sich tief über dem Horizont
stehend rötlich verfärbte und immer längere Schatten warf. Reacher
saß auf den Verandastufen und beobachtete, wie die gelbbraune Ebene
golden, dann ockergelb und zuletzt pfefferschotenrot wurde. Bramall
hockte unter ihm auf einem Felsblock am Ausgang der Schlucht. Die
Männer aus dem Pick-up saßen mit dem Rücken an Bäume gelehnt auf
der Erde.
Die Haustür öffnete sich, und Mackenzie trat
ins Freie.
Reacher stand auf, als sie die Treppe
herunterkam. Sie ging an ihm vorbei auf die Cowboys zu, die jetzt
aufstanden und den Staub von ihren Jeans klopften. Mackenzie
schüttelte allen dreien die Hand und dankte ihnen für alles, was
sie für ihre Schwester getan hatten.
Dann sagte sie zu Bramall: »Zurück ins
Hotel.«
Mackenzie hatte ein merkwürdiges Gefühl
dabei, erzählte sie, ihre Schwester zu lassen, wo sie war, aber
Rose wollte es so. Ihr gefiel es dort, sagte sie, und sie hatte
alles, was sie brauchte. Sie weigerte sich kategorisch, ihr Haus
auch nur für eine Nacht zu verlassen oder wenigstens zu einem Arzt
zu gehen. Sie weigerte sich auch, nur daran zu denken, ein
Krankenhaus aufzusuchen, sich an die Veteranenbehörde zu wenden,
eine Spezialklinik zu konsultieren oder in Lake Forest, Illinois,
zu leben.
»Lassen Sie ihr Zeit«, riet ihr
Bramall.
Sie bogen in Mule Crossing am ehemaligen
Postamt ab und fuhren auf der State Road nach Laramie. Sie aßen in
der Stadt und kehrten ins Hotel zurück, wo Bramall den Toyota
parkte und gute Nacht sagte. Reacher blieb wieder draußen auf dem
Parkplatz. Der Nachthimmel war eindrucksvoll. Noch immer riesig und
schwarz und mit Millionen von Sternen gesprenkelt. Seit gestern
Abend unverändert. Aber nicht wegen der unbedeutenden Dramen der Menschen. Ihnen gegenüber blieb der
Nachthimmel gleichgültig.
Mackenzie kam heraus und setzte sich auf die
Bank.
Er nahm neben ihr Platz.
Sie sagte: »Rose ist nur halb
süchtig.«
Er sagte: »Ich hatte einen Bruder. Keinen
Zwilling, aber unser Verhältnis war sehr eng. Jetzt frage ich, was
würde ich von den Leuten wollen, wenn er in dieser Situation wäre?
Etwas Höfliches oder Tröstendes? Ich weiß es wirklich nicht. Sie
müssen mir helfen.«
»Ich will die Wahrheit«, antwortete
sie.
»Auf mich hat sie viel mehr als nur halb
süchtig gewirkt.«
»Ich habe ihre Gründe gemeint. Sie hat
ständig Schmerzen. Deshalb braucht sie dieses Zeug. Sie nimmt es
nicht zum Spaß.«
»Was ist mit der Alufolie?«
»Wegen der Infektion. Sie verschafft sich
Antibiotika, wenn sie kann, zerstößt die Tabletten und vermengt sie
mit antiseptischer Salbe aus dem Drugstore. Diese Masse streicht
sie wie Butter auf die Folie. Kann sie eine erübrigen, mischt sie
noch eine Pille Oxycodon hinein.«
»Nicht das Leben, das sie erwartet
hat.«
»Sie haben’s gestern Abend gewusst. Als Sie
gefragt haben, wie es ist, schön zu sein.«
»Das war die einzig mögliche
Erklärung.«
»Sie kommt einigermaßen zurecht, glaube
ich.«
»Ich auch.«
»Irgendwie hat mir sogar das Haus gefallen.
Ich war überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir
vorgestellt, sein Inneres würde düster sein.«
»Ich auch«, wiederholte er.
»Erzählen Sie mir jetzt, wie’s
weitergeht.«
»Wenn ich das wüsste!«
»Im Ernst«, sagte sie. »Ich muss überlegen,
wie ich damit umgehen soll.«
»Rose kommt zurecht, weil sie jeden Tag high
ist. Sie könnten ihr Geld geben, nehme ich an, und sie würde
vermutlich weiter zurechtkommen, solange dieser neue Kerl,
Stackley, immer rechtzeitig liefert – und solange der Boy Detective
nicht das letzte Loch verstopft und das Geschäft zum Erliegen
bringt.«
»Was passieren könnte.«
»Nichts funktioniert ewig«,
sagte Reacher. »Ihre Situation dort draußen ist nicht so sicher,
wie sie glaubt.«
»Selbst wenn sie’s wäre, kann ich sie nicht
dort lassen.«
»Wie wollen Sie sie zum Umzug
bewegen?«
»Danach frage ich gerade. Ich bin offen für
Ideen.«
Reacher sagte: »Ist sie überhaupt nicht in
Behandlung?«
»Anfangs war sie ein ganzes Jahr in einem
Krankenhaus. Dann hat sie die Geduld verloren. Seitdem hat sie
keinen Arzt mehr aufgesucht. Das will sie nicht. Sie lehnt eine
Behandlung ab.«
»Stattdessen lebt sie zurückgezogen und
behandelt sich selbst. Das tut sie so gut, dass wir uns vorhin
einig waren, dass sie zurechtkommt. Das sollten wir respektieren.
Von dort wegholen kann man sie nur, indem man ihr genau das Gleiche
an einem anderen Ort bietet. Oder etwas Besseres. So viele
Tabletten und Pflaster, wie sie will. Dazu müssten Sie einen
verständnisvollen Arzt finden und eine ruhige Unterkunft. Und ihr
versprechen, sie zu nichts zu drängen. Mindestens ein Jahr lang.
Für solche Dinge braucht man einen langen Atem.«
»Sie mag es nicht, wenn Leute sie
sehen.«
»Dann ist sie hier besser aufgehoben als in
Illinois.«
»Hier gibt’s nicht die richtigen
Ärzte.«
»Wie groß ist Ihr Grundstück?«
»Zweieinhalb Hektar, glaube ich.«
»Sie könnten ihr ein Blockhaus bauen. Mit
einem hohen Zaun. Die Medikamente könnten Sie drüberwerfen. Lassen
Sie sie ein Jahr lang in Ruhe. Warten Sie ab, was passiert.«
»Ich kann ihr also nur helfen, indem ich ein
besserer Dealer bin.«
»Der Boy Detective hat gesagt, wir sollten
den Reiz eines Highs durch Opiate nicht unterschätzen. Auch wenn
sie sich ehrlich über Ihren Besuch gefreut hat, sollten Sie wissen,
dass die Beschaffung ihrer Medikamente ihr jetzt viel wichtiger
erscheint.«
»Das ist schwer zu akzeptieren. Dabei geht’s
nicht um mich. Dass sie in diesem schrecklichen Zustand ist.«
»Rose braucht Sie an ihrer Seite. Das zu
beweisen ist jetzt Ihr Job. Kritisieren Sie sie nicht. Welche
andere Wahl hätten Sie denn? Reißen Sie sich zusammen und schaufeln
Sie Tabletten in sie hinein. Vergessen Sie nicht, dass sie im
Innersten zäh ist, eine kampferprobte Veteranin. Früher oder später
erkennt sie, dass sie sich zusammenreißen oder aufgeben muss.
Dann wird sie reden wollen. Vor allem
mit Ihnen, weil Sie sie anständig behandelt haben. Und dann können
Sie ihr helfen.«
»Hoffentlich kann ich das.«
»Darüber gibt es Bücher. Sie können das
erste Jahr damit zubringen, viel zu lesen.«
»Wissen Sie das alles aus einem
Lehrgang?«
»Dafür war in der Ausbildung keine Zeit«,
sagte Reacher. »Bei den MP s ist es
nur um Gummischläuche und Schlagstöcke gegangen. Aber die Mediziner
hatten gute Leute. Psychiater in Uniform. Das Verrückteste, was Sie
sich vorstellen können. Alle mit übertrieben hohem Dienstgrad. Ich
kannte ein paar. Die haben einem alles Mögliche erzählt.«
»Zum Beispiel?«
»Sie würden Ihnen raten herauszubekommen,
was ihr tief im Innersten zusetzt.«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Diese Männer sind Seelenklempner, und sie
sind in der Army. Sie würden sagen, dass jemand an zwei Dingen
zugleich leiden kann. Sie würden sagen, dass sie wissen, wie
Infanterieoffiziere ticken. Sie würden mehr Einzelheiten über den
Vorfall mit der Sprengfalle am Straßenrand wissen wollen.«
»Warum?«
»Vor allem würden sie wissen wollen, ob es
dort weitere amerikanische Tote gegeben hat. In diesem Fall würden
sie annehmen, dass Rose darunter leidet. Sie war eine
Infanterieoffizierin. Durch ihre Schuld sind ihre Leute gefallen.
Die Tatsachen zählen nicht. Sie könnte bereits verwundet und
bewusstlos gewesen sein, als alles andere passiert ist. Spielt
keine Rolle. Das waren ihre Leute. Also war’s ihre Schuld. So
denken Infanterieoffiziere. Der große Boss in West Point hat
gesagt, sie habe ihre Soldaten gut geführt. Das könnte man auf
ihren Grabstein schreiben. Sie hat ihre
Soldaten gut geführt . Für einen Infanterieoffizier gibt es
kein größeres Lob. Weil das verdammt schwierig ist. Letztlich
basiert es auf der unausgesprochenen Übereinkunft, dafür zu sorgen,
dass keiner ums Leben kommt. Der Gedanke daran lässt einen nicht
mehr los.«
Mackenzie sagte: »Darüber will sie nicht
reden.«
Reacher sagte: »Die Seelenklempner würden
auch wissen wollen, was für ein Einsatz das gewesen ist. War das
eine von oben befohlene Routineangelegenheit? Oder musste sie dabei
auch Eigeninitiative entwickeln? In
diesem Fall würden sie annehmen, dass sie noch mehr darunter
leidet. Sie hat ihre Soldaten ins Verderben geführt.
Buchstäblich.«
»Diese Leute sind Seelenklempner. Das haben
Sie selbst gesagt. Sie verkomplizieren alles. Hört man Hufschläge,
denkt man an Pferde, nicht an Zebras. Rose ist innerlich zutiefst
verletzt, weil jemand ihr Gesicht in einen Mixer gesteckt und mit
Fetzen eines Hundekadavers infiziert hat.«
Reacher schwieg.
Mackenzie fragte: »Was?«
»Das ist ganz sicher der Hauptgrund. Wie
könnte es anders sein?«
»Aber?«
»Ich denke wie ein Cop. Ich kann nicht
anders. Ihr letzter Dienstgrad war Major. Von dem Typen in West
Point weiß ich, dass sie bei ihrem letzten Auslandseinsatz einen
ziemlich wichtigen Job hatte. Für einen Major bedeutet das
Besprechungen und Schreibtischarbeit. Sie hatte beschränkte
Möglichkeiten, selbst rauszukommen. Warum sollte sie die
Straßenränder außerhalb einer Kleinstadt absuchen? Sie würde es
nicht tun, weil sie nach vier Auslandseinsätzen genug davon hatte.
Rose war unterwegs, weil sie als Kommandeurin gebraucht wurde. Sie
hatte irgendein Unternehmen laufen. Sie hatte Hauptleute unter
sich, die Leutnante unter sich hatten, die alle bestrebt waren,
ihren eigenen Arsch zu retten. Also können wir annehmen, dass sie
mit einer großen Eskorte unterwegs war. Wurde sie als Einzige
verwundet? Unwahrscheinlich, aber wir wissen es nicht. Die Akten
sind versiegelt, was höchstwahrscheinlich bedeutet, dass ihr
Unternehmen ein Fehlschlag war. Vielleicht mit hohen eigenen
Verlusten. Also hat es möglicherweise nicht nur ihr Gesicht
erwischt.«
Mackenzie wandte ein: »Ich weiß nicht, ob
Sie mich aufmuntern oder runterziehen wollen.«
»Die Sache ist schlimm, ganz schlimm«, sagte
Reacher. »Wie man sie auch dreht und wendet. Wir wollen nicht naiv
sein. Aber sie hatte einen Freund. Seymour Porterfield. Auf dem
Bett waren zwei Abdrücke zu erkennen. Das sagt etwas darüber, wie
sie sich selbst sieht. Und es deutet an, was vielleicht möglich
wäre.«
»Sie will nicht über ihn reden. Ich habe ihr
von dem gefundenen Kamm erzählt, und sie hat es nicht abgestritten.
Sie hat erklärt, für mich sei es sicherer, nichts zu wissen. Was
immer das bedeutet.«
»Sie hat geglaubt, ich sei ein Ermittler,
der sie seinetwegen befragen will.«
»Die Bärengeschichte glaubt
niemand.«
»Was ein zusätzlicher traumatisierender
Faktor gewesen sein kann. Sie weiß wirklich nicht, was ihrem
Boyfriend zugestoßen ist. Und sie ist sich wirklich nicht sicher,
was schlimmer wäre, der Bär oder jemand anders. Ein Fest für die
Seelenklempner. Die würden Ihnen erzählen, dass hier eine
Riesenmelange aus allen möglichen Dingen vorliegt.«
»Mit anderen Worten, es könnte etwas
Schlimmeres geben als ihr Gesicht.«
»Das wäre eine Interpretation vom
Glas-halb-leer-Typ. Aber das war der Grund für meine Frage, ob Sie
etwas Höfliches oder etwas Tröstendes wollen.«
»Ich wollte die Wahrheit wissen. Sie
spekulieren nur.«
»Stimmt«, sagte Reacher. »Und ich hoffe
aufrichtig, dass ich mich in allen Punkten irre.«
Sie schwieg eine Weile.
Dann sagte sie: »Sie sind ein gütiger
Mensch.«
»Kein Wort, das allzu häufig gebraucht
wird.«
»Danke, dass Sie hier sind.«
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte er und meinte
es ernst. Sie saßen am Rand einer asphaltierten Fläche auf einer
Betonbank, aber einen Meter höher war die Aussicht spektakulär. Die
Sterne leuchteten heller, als er es je erlebt hatte. Die Luft
fühlte sich weich und kühl an, schien vor Stille zu summen. Neben
ihm auf der Bank saß eine Frau wie von der Rückseite eines
Modejournals. Er stellte sich vor, dass sie sich fest und
geschmeidig und äußerlich kühl anfühlen würde, außer vielleicht im
Kreuz, das leicht feucht sein könnte.
Sie fragte ihn: »Wissen Sie noch, was ich
Ihnen über meinen Mann erzählt habe?«
»Sie haben gesagt, er sei ein netter Mann,
und Sie passten gut zusammen.«
»Sie haben ein sehr präzises
Gedächtnis.«
»Das war erst gestern.«
»Ich hätte ergänzen sollen, dass er eine
Geliebte hat und mich ignoriert.«
Reacher lächelte.
Er sagte: »Gute Nacht, Mrs.
Mackenzie.«
Sie verließ ihn wie am Abend zuvor: im
Dunkel allein, auf der Betonbank sitzend, zu den Sternen
aufblickend.
In diesem Augenblick beendete
Stackley eine Meile entfernt ein Handygespräch und parkte dann
seinen verbeulten Pick-up hinter einem geschlossenen
Einzelhandelsgeschäft nur drei Blocks von der Stadtmitte. In seinem
früheren Leben hatte er teure Haarschnitte bevorzugt und in einem
Salon in einem Wirtschaftsmagazin gelesen, geschäftlicher Erfolg
beruhe allein auf rigoroser Kostenkontrolle. Deshalb schlief er
möglichst im Auto. Daher der Campingaufbau aus Kunststoff. Ein
Motel hätte kassiert, was er an zwei Pillen verdiente. Wozu Geld
herschenken?
Die alte Tussi jenseits der Snowy Range
hatte einen Karton Fentanylpflaster gekauft, aber er hatte ihr
einen gegeben, den er eine Stunde zuvor ganz vorsichtig geöffnet
hatte, um ein Pflaster herausziehen zu können, das für später in
seine Tasche wanderte. Die alte Tussi würde nie etwas merken. Und
falls doch, würde sie annehmen, sie sei zu zugedröhnt, um richtig
zählen zu können. Eine natürliche Reaktion. Süchtige lernten, sich
selbst die Schuld zu geben. Das war auf der ganzen Welt so.
Er nahm eine Schere aus dem Ablagefach,
schnitt einen fingerbreiten Streifen Pflaster ab und legte ihn
zusammengerollt unter seine Zunge. Sublingual nannte man das. In
einem anderen Magazin in demselben Salon hatte gestanden, das sei
die beste Methode.
Dagegen konnte Stackley nichts
einwenden.
In diesem Augenblick machte sich Rose
Sanderson sechzig Meilen weit entfernt in den niedrigen Hügeln
westlich der Stadt fürs Bett bereit. Sie hatte die Kapuze
zurückgeschlagen und das Oberteil des silbrigen Jogginganzugs
ausgezogen. Darunter trug sie ein T-Shirt, das sie ebenfalls
auszog, und einen BH , den sie
ablegte. Dann entfernte sie die Alufolie von ihrem Gesicht. Mit dem
Stiel ihrer Zahnbürste schabte sie die überschüssige Salbe von der
Haut, um sie wieder auf der Folie zu verteilen. Mit etwas Glück
würde sie noch einen Tag reichen.
Sie ließ kaltes Wasser ins Waschbecken
laufen, holte tief Luft und hielt ihr Gesicht unter Wasser. Ihr
Rekord lag bei vier Minuten. Sie tauchte wieder auf und schüttelte
den Kopf. Ihre Haare waren schon wieder gewachsen. Sie hatte sie
erst vorige Woche geschnitten. West Point. Sie musste eine Mütze
aufsetzen können. Dafür gab es Vorschriften. Sie hatte sie dreizehn
Jahre lang kurz getragen. Jetzt wuchsen sie wieder und waren von
groben grauen Strähnen durchzogen. Wie Stacheldraht in einem
Heuballen.
Ihre geringste Sorge.
Sie nahm eine Schere aus dem Spiegelschrank
und schnitt einen fingerbreiten Streifen Fentanylpflaster ab, den
sie zusammengerollt unter ihre Zunge schob. Eine Erhaltungsdosis.
Mit der würde sie nachts durchschlafen können und sich warm, sanft
und entspannt, friedlich, geborgen und happy fühlen.
In diesem Augenblick saß Gloria Nakamura
dreihundert Meilen entfernt in Rapid City, South Dakota, in ihrem
Chevy und beobachtete den Hintereingang von Arthur Scorpios
Waschsalon. Wieder einmal war die Tür von einem Lichtstreifen
umrahmt. Sie stand eine Handbreit offen. Eine weitere warme Nacht.
Er befand sich seit über zwei Stunden dort drinnen. Sie hatte
inzwischen darüber nachgedacht, was so viel Wärme abgab, dass man
zusätzlich lüften musste. Vielleicht elektronische Geräte. Sie
kannte einen Typen mit einem Heimkino. Er hatte einen Schrank
voller schwarzer Boxen, die intensive Hitze abstrahlten, die
schwach nach Öl und Silikon rochen. Der Typ ließ zur Kühlung
ständig einen Ventilator laufen.
Ihr Smartphone klingelte.
Ihr Freund bei der
Computerkriminalität.
Er sagte: »Antworte einfach mit Ja oder
Nein. Können wir davon ausgehen, dass die Mitteilung über den neuen
Billy an Scorpio gegangen ist?«
Sie antwortete: »Damit können wir nicht vor
Gericht ziehen.«
»Das war keine Ja-oder-nein-Antwort.«
»Ja, wir können davon ausgehen, dass Scorpio
der Empfänger war.«
»Dieselbe Nummer hat eben eine Voicemail von
einem Sendemasten in Laramie, Wyoming, bekommen. Von einem Kerl
namens Stackley. Er hat Scorpio Mr. Scorpio genannt. Er hat gesagt,
alles sei gut, aber er habe gerüchteweise gehört, dort schnüffelten
zwei Männer und eine Frau herum. Einer der Kerle sei riesig, und
sie würden einen schwarzen Toyota fahren.«
Reacher, dachte sie.
Ihr Freund sagte: »Dann hat Scorpio
zurückgerufen und seinerseits eine Nachricht auf der Mailbox
hinterlassen. Er hat diesem Kerl Stackley die gleichen Anweisungen
gegeben wie zuvor Billy. Er will, dass der große Kerl beseitigt
wird. Er hat wieder einen Mord befohlen.«
»Warte«, sagte Nakamura.
Scorpios Tür wurde geöffnet.
Er trat ins Freie, drehte sich um und schloss ab. Dann ging er zu
seinem Wagen.
»Ich fahre ihm nach«, erklärte sie.
»Benzinverschwendung«, entgegnete ihr
Freund.
Sie beendete das Gespräch und ließ den Motor
an.
Scorpio fuhr nach Hause.
Er fuhr jedes Mal nach Hause.
In diesem Augenblick übersah Billy in der
Kleinstadt Sullivan im Oklahoma-»Pfannenstiel« eine rote Ampel. Er
fuhr einen über zwanzig Jahre alten Pick-up, einen Ford Ranger für
sechshundert Dollar. Er war unterwegs, um sich einen zweiten
Sechserpack zu holen. Von dem ersten war er leicht angetrunken.
Sein Kumpel aus Montana befand sich im Hotel, wartete in ihrem
Zimmer. Morgen Nachmittag wollten sie sich mit einem Kerl treffen,
der Verbindungen in Amarillo, Texas, hatte. Die
Arbeitsmarktsituation sah gut aus.
Neben der Ampel, die er überfuhr, parkte ein
Cop. Der Kerl schaltete seine Blinkleuchten ein und ließ seine
Sirene einmal kurz aufheulen. Billy erstarrte, fuhr aber weiter.
Dämlich. Er hatte nichts zu verbergen. Vielleicht dass er leicht
angetrunken war, aber hey, dies war der Pfannenstiel. Ein paar Bier
waren vermutlich das Mindeste, bevor man sich ans Steuer setzen
durfte. Davon abgesehen war er ein ehrbarer Bürger. Er konnte
ohnehin nicht flüchten. Nicht mit einem Stück Scheiße für
sechshundert Dollar.
Er bremste und hielt am Randstein.
Wie jeder Mensch wurde der Cop von kleinen
unterschwelligen Emotionen gesteuert. Dass Billy nicht gleich
hielt, machte ihn sauer. Das fand er angeberisch und respektlos.
Normalerweise hätte er vielleicht nur neben ihm gehalten, das
rechte Fenster heruntergefahren und den Mann ermahnt, besser
aufzupassen. Aber jetzt spürte er aufsteigenden Zorn, der bewirkte,
dass er sich aufsetzte, die Zähne zusammenbiss und im Begriff war,
die große Show abzuziehen.
Er hielt hinter dem Pick-up, ließ die
Blinkleuchten eingeschaltet und setzte seine Mütze auf. Dann zählte
er bis zwanzig, bevor er ausstieg. Er öffnete sein Holster, legte
eine Hand auf den Revolvergriff, ging langsam nach vorn und blieb
auf Höhe der Ladefläche des alten Fords stehen. Von dort aus rief er laut und deutlich: »Sir,
steigen Sie bitte aus.«
Die Tür wurde geöffnet.
Billy stieg aus.
»Tut mir leid, Sir«, sagte er. »Ich muss in
Gedanken woanders gewesen sein. Nur gut, dass sonst niemand
unterwegs war.«
Trotz der Entfernung war der Cop sich
ziemlich sicher, dass der Kerl eine Bierfahne hatte.
Er sagte: »Führerschein.«
Billy zog ihn aus der Geldbörse und übergab
ihn.
Der Cop sagte: »Sir, warten Sie bitte
hier.«
Er ging so langsam wie nur möglich zu seinem
Streifenwagen zurück. Setzte sich hinein. Er hatte ein
Computerterminal an einer Schwanenhalshalterung, die auf dem
Getriebetunnel festgeschraubt war. Das verdankte er dem neuen
Bürgermeister. Alle möglichen Wahlversprechen.
Er tippte die Angaben zu Billys Person
ein.
Das Ergebnis war ein Code von der Western
Division der Bundesbehörde DEA
.
Er stieg wieder aus. Ging so langsam wie nur
möglich zu Billy. Als er ihn erreichte, riss er ihn herum, knallte
seinen Kopf aufs Dach des alten Fords und fesselte ihm die Hände
mit Handschellen hinter dem Rücken.