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Gloria Nakamura fuhr das gesamte Raststättengelände ab. Inzwischen war es längst Nacht, aber jeder Winkel war taghell beleuchtet. Sie stellte sich vor, wie ein Truck von der I-90 abbog. Vielleicht kein Sattelschlepper. Vielleicht nur ein Kastenwagen mit kleineren Bestellungen aus Apotheken auf dem Land und Vorstadtkliniken. Ein Ford Econoline oder etwas in dieser Art. Vermutlich weiß lackiert. Vermutlich hochglänzend weiß, um Gesundheit, Sauberkeit und antiseptische pharmazeutische Zuträglichkeit zu suggerieren. Vermutlich mit einem dezenten Firmennamen in einer freundlich wirkenden Schrift, blassgrün wie Gras oder himmelblau.
Wo würde er parken?
Aus offenkundigen Gründen nicht in der Nähe des Dienstgebäudes der State Police. Auch nicht in der Nähe der Tankstelle. Um Benzindiebe abzuschrecken, wurde das Exxon-Gelände videoüberwacht. Auch nicht in der Nähe der Ein- und Ausfahrten, die das Highway Department zur Verkehrssteuerung ebenfalls mit Kameras überwachte. Der Truck durfte von keiner Kamera erfasst werden. Nicht in South Dakota, wenn er für den Computer des Mutterschiffs auf dem Fabrikparkplatz in New Jersey stand. Zwischen dem Toilettenblock und den Schnellrestaurants lag ein hell beleuchteter großer Parkplatz. Aber auch dort gab es Überwachungskameras. Vermutlich aus Haftungsgründen. Für den Fall, dass jemand einen Blechschaden erlitt und die Burgerbrater dafür verantwortlich machte. Vielleicht von der Versicherung vorgeschrieben.
Hier gab es auch eine Brückenwaage vor dem Dienstgebäude der Straßenmeisterei aus beigem Mauerwerk mit dunkel eloxierten Fensterrahmen. Abgesperrt und dunkel. Aber es war viel zu exponiert, viel zu öffentlich. Sie stellte sich vor, wie der Kastenwagen mit geöffneten Hecktüren dastand, um seine Fracht auf kleinere Fahrzeuge zu verteilen. An eine nervös wartende Menge. Leute wie Billy und der neue Billy und all die anderen Kerle wie Billy in Pick-ups und SUV s und alten Limousinen. Alle scharf darauf, ihre Ladung zu übernehmen und wegzufahren.
Wo konnten sie das tun?
Nicht hier. Das Gelände der Raststätte fühlte sich falsch an.
Sie fuhr noch eine Runde um den Parkplatz. Aus den Augenwinkeln sah sie einen schwarzen SUV , der in Gegenrichtung unterwegs war. Er hatte blaue Kennzeichen, dachte sie. Vielleicht Illinois. Sie schaute noch mal hin, aber er war verschwunden.
Eine Meile weiter, wo die Fahrbahnen wieder zusammentrafen und nur mehr durch einen mit Gras bewachsenen Mittelstreifen getrennt waren, hielt Bramall auf dem Bankett. Kein Problem. Wenn ein Trooper vorbeikam, konnten sie sagen, sie hätten eine Warnleuchte gesehen oder machten sich Sorgen wegen eines Reifens. Der Verkehr war spärlich. Einzelne Wagen rasten vorbei. Dann ein Sattelschlepper mit viel Krach und Fahrtwind. Der Toyota schwankte leicht.
Reacher fragte: »Wie weit ist die nächste Ausfahrt entfernt?«
Bramall sah auf sein Navi.
»Ungefähr dreißig Meilen«, sagte er.
»Vergeudete Zeit. Fahren Sie über den Mittelstreifen und zurück. Rose und ich steigen an der Zufahrt zum Depot aus. Sie parken mit Mrs. Mackenzie auf dem Raststättengelände und gehen mit ihr zu Fuß durch das Wäldchen nach Westen. Wir treffen uns dort. Wir sehen uns um und überlegen dann, wie wir’s machen wollen.«
»Ich soll Sie begleiten?«, fragte Sanderson.
»Warum nicht?«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Mir geht’s nicht gut.«
»Das können Sie ändern.«
»Ich kann nicht«, wiederholte sie. »Ich hab nur noch einen Streifen.«
»Bald gibt’s reichlich Stoff.«
»Das ist nicht sicher.«
»Sie müssen Ihren letzten Streifen irgendwann benutzen.«
»Ich will wissen, dass ich ihn noch habe.«
»Reißen Sie sich zusammen, Major! Ich brauche Sie bei mir, und ich brauche Sie um Mitternacht in guter Verfassung. Wie Sie das zeitlich hinkriegen, überlasse ich Ihnen.«
Im Wagen herrschte Stille.
Dann sagte Mackenzie: »Also los!«
Bramall wartete, bis auf beiden Seiten keine Scheinwerfer zu sehen waren. Dann fuhr er nach links über alle drei Fahrspuren. Er holperte über den Mittelstreifen, der wie ein breiter Abflussgraben vertieft war. Für Schmelzwasser, vermutete Reacher. Die Schneepflüge mussten den Schnee irgendwo lagern. Der Toyota arbeitete sich die gegenüberliegende Böschung hinauf, erreichte die Fahrbahn nach Westen und fuhr in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Jetzt befanden sie sich auf der Strecke, die der Lieferwagen aus New Jersey später nehmen würde. Er war schon seit vielen Stunden unterwegs. Im Augenblick hielt er sich irgendwo hinter ihnen auf, bereits an Sioux Falls vorbei, fuhr die letzten langen Meilen, die Reacher in dem riesigen roten Truck mit der Schlafkabine zurückgelegt hatte. Mit dem alten Mann am Steuer. Meine Frau würde sagen, dass Sie sich wegen irgendwas schuldig fühlen. Sie liest Bücher. Sie denkt über vieles nach. Sie sahen, was der Fahrer des Trucks später zu Gesicht bekommen würde. Was eine Meile weit nicht viel war, bis im Scheinwerferlicht am linken Fahrbahnrand eine nicht angekündigte Ausfahrt mit einem weißen Schild Nur für Berechtigte auftauchte.
Bramall hielt hundert Meter weiter auf dem Bankett. Reacher rutschte vom Sitz und ging um den Wagen herum zu Sandersons Tür. Sie stieg aus. Stiefel, Jeans, silberne Jacke mit hochgezogenem Reißverschluss. Aber diesmal war die Kapuze zurückgeschlagen. Für freie Sicht. Für visuelles Bewusstsein. Sie war einsatzbereit. Ihr vom Haar umrahmtes Gesicht war zwischen den Wangenknochen sichtbar. Rechts die Folie, links die Narben. Der schiefe Mund. Eine Augenbraue war aus unerfindlichen Gründen nur halb vorhanden.
»Es ist dunkel«, sagte sie. »Da ist’s okay.«
Bramall fuhr weiter.
Sie standen noch einen Augenblick auf dem Bankett. Kein Auto auf der Interstate. Sanderson kaute an ihrem letzten schmalen Streifen. Oder vielleicht der Hälfte davon. Sie konnte ihn mit den Daumennägeln geteilt haben. Wie Sie das zeitlich hinkriegen, überlasse ich Ihnen. Er hoffte, dass sie wusste, was sie tat. Das Zeug wirkte nicht wie zuvor. Sie war nicht ruhig, sondern fahrig. Vielleicht wirkte der letzte Streifen nie richtig. Wie denn auch? Für sie war es nicht anders, als würde sie an einem Trapez schwingen, ließe plötzlich los und flöge in der Hoffnung durch die Luft, von jemandem aufgefangen zu werden, bevor sie abstürzte. Vielleicht war das der neue Goldstandard für Unsicherheit. Eine Abhängige mit leeren Taschen über dem Abgrund hängend. Nichts in Reserve.
Sie gingen die hundert Meter zurück und blieben gegenüber dem Schild mit der Aufschrift Nur für Berechtigte stehen. Kein Auto in Sicht.
Reacher fragte: »Kann’s losgehen?«
Sie rannten über die Fahrspuren, an dem Schild vorbei und auf die Zufahrt. Dort machten sie eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen und sich zu orientieren. Die Zufahrt war breiter als gedacht, für schwere Fahrzeuge ausgelegt und lang genug, um in der Dunkelheit zu verschwinden. Um sie etwas aufzuhübschen, hatte man auf beiden Seiten Bäume gepflanzt, aber sie blieb trotzdem eine gewerbliche Zufahrt.
Sanderson fragte: »Haben Sie eine Stablampe?«
Reacher sagte: »Nein.«
»Mr. Bramall hätte uns eine leihen können. Er hat bestimmt zwei im Auto.«
»Mögen Sie ihn?«
»Ich denke, dass meine Schwester eine gute Wahl getroffen hat.«
Sie gingen ins Dunkel weiter. Ein tief am Himmel stehender halber Mond spendete etwas Licht, das gelegentlich durch Scheinwerfer auf der Interstate verstärkt wurde. Die Zufahrt – von Anfang bis Ende eine halbe Meile lang – führte zu einer Garage mit riesigen Toren für große Fahrzeuge. Sie blieben unter den Bäumen und begutachteten sie von allen Seiten. Es gab insgesamt vier Stichstraßen, je eine Ein- und Ausfahrt vorn und hinten, die an dünne Insektenbeine erinnerten. Die Sektionaltore der Ein- und Ausfahrten waren geschlossen. Niemand zu sehen. Keine Autos. Kein Laut. Dies war eine Garage für Schneepflüge im Spätsommer.
Verlassen.
»Wie spät ist es?«, fragte Sanderson.
»Zehn Uhr«, antwortete Reacher, der die Zeit im Kopf hatte. »Noch zwei Stunden.«
»Kann die Sache klappen?«
»Bisher sieht’s gut aus. Alles genau wie in der Voicemail. Eine Zufahrt, an deren Ende eine Garage steht.«
»Das war damals. Vielleicht haben sie für heute Nacht einen anderen Umschlagplatz.«
»So gut wie dieser? Das bezweifle ich. Dieser hier ist Gold wert.«
»Ich sehe nirgends ein Lebenszeichen.«
»Noch nicht. Das ist der springende Punkt, denke ich. Das Umladen geht sehr schnell. Hier können sie sich völlig sicher fühlen. Wer achtet schon auf solche Einrichtungen. Sobald sie auf die Zufahrt abbiegen, sind sie unsichtbar.«
Er machte kehrt, schaute sich nochmals um. Der Truck aus New Jersey würde sich aus Osten nähern, wo sie eben zu Fuß unterwegs gewesen waren. Dann würde er die Garage auf der anderen Seite verlassen, um leer die Heimfahrt anzutreten. Stackley würde aus Westen gekommen sein. Die anderen Männer konnten die Garage aus Osten oder Westen angefahren haben. Der geheime Umschlagplatz verband zugleich beide Fahrtrichtungen der I-90. Massives Gold.
Sie gingen zu der Stelle, wo Bramall und Mackenzie vermutlich aus dem Wäldchen auftauchen würden. Die beiden trafen gerade ein. Gemeinsam machten sie noch einen Rundgang um die Garage.
Mackenzie sagte: »Zu fragen, wie wir vorgehen wollen, steht mir offensichtlich nicht zu.«
Sanderson sagte: »Taktisch wäre es am vernünftigsten, das ankommende Fahrzeug auf halber Strecke zu überfallen. Nachdem es die Interstate verlässt, aber bevor es die Garage erreicht. Ein Unternehmen, maximal ein Schuss abgegeben, maximal ein Toter. Konzentriert und effizient.«
»Wie würden wir das Fahrzeug stoppen?«
»Ich weiß nicht, ob wir das tun sollten.«
»Das verstehe ich nicht.«
Reacher sagte: »Wir wissen nicht, um welche Art Fahrzeug es sich handelt. Aber es kommt aus der Fabrik, also ist’s vermutlich ein offizieller Lieferwagen für pharmazeutische Produkte. Ich wette, dass der Boy Detective mit den Herstellern geredet hat. Jede Menge Besprechungen und Aktennotizen. Der Laderaum ist vermutlich abgeschlossen. Vielleicht kann ihn nur der Fahrer öffnen. Mit einer Zahlenkombination oder einem Spezialschlüssel. Ihre Schwester will nicht riskieren, dass wir etwas mit Gewalt aus ihm rausholen müssen.«
»Würden Sie das tun?«
»Der Kerl hat schon Geld genommen, um an die falsche Adresse zu liefern. Er ist also für Verhandlungen offen. Ein ehrlicher Tausch ist kein Raub.«
»Was soll’s also sein?«
Bramall sagte: »Vielleicht erscheinen zehn oder zwölf Kerle, um Ware abzuholen. Um die zu bekommen, müssten wir einen nach dem anderen ausrauben, wenn sie wegfahren. Wie in einem Kassenhäuschen an der Ausfahrt eines Parkplatzes. Zehn, zwölf Raubüberfälle. Vielleicht mit einer Minute Abstand. Ich glaube nicht, dass wir das könnten. Also bleibt uns keine Wahl.«
»Rose?«
»Der Hinterhalt bietet sich wie gesagt von selbst an. Hoffen wir, dass der Laderaum unversperrt ist.«
»Es gibt einen dritten Weg«, warf Reacher ein. »Das Beste beider Welten.«