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Bramall fuhr an, nahm die Verfolgung auf wie die Highway Patrol. Das Fahrzeug vor ihnen war immer noch schnell unterwegs. Die Straße verlief über weite Strecken eben, tauchte dann in Senken ein, führte über kleine Grate und beschrieb gelegentlich eine Kurve, aber die Staubfahne war weiter da und zeigte, wo der SUV gefahren war. Der große Toyota, dessen Reifen auf der unebenen Fahrbahn trampelten, röhrte auf, als Bramall noch mehr Gas gab, aber sie kamen dem anderen Wagen nicht näher. Der wurde sogar schneller, sodass der Abstand sich vergrößerte und die Staubfahne sich vor ihnen bis zu einer halben Meile hinzog.
Dann verschwand sie plötzlich.
Der Toyota geriet in Schräglage, als er aus einer langen schnellen Kurve schoss, durchbrach die letzten Staubschleier und gelangte in reine, klare Luft.
Kein SUV mehr. Nirgends.
Hinter ihnen waberte die abgetrennte Staubfahne im Wind, wurde von der Straße geweht und fiel in den Büschen am Straßenrand zusammen.
Bramall hielt.
»Sie ist abgebogen«, sagte Reacher. »Auf den Zufahrten gibt’s keine Staubwolken. Was liegt hinter uns?«
Bramall wendete auf der Straße und fuhr zurück, um nachzusehen.
»Zufahrt links voraus», sagte Mackenzie. »Glaube ich zumindest. Verdammt schlecht zu erkennen.«
»Die Kuchenfrau«, sagte Reacher. »Porterfields Nachbarin. Bei der waren wir gestern. Schon da wären wir beinahe vorbeigefahren.«
»Aber die Kuchenfrau ist fort. Wir haben sie wegfahren sehen.«
Bramall bog in die Zufahrt ein und fuhr denselben Weg wie am Vortag, aber schneller, über drei Meilen weit zwischen Bäumen hindurch, bis der Wald plötzlich endete und der Toyota die freie Fläche nach Osten, das ebenerdige Blockhaus mit den braunen Brettern, den Schnitzereien und der alten Kirchenbank vor sich hatte.
Hier war nichts und niemand.
Kein verbeulter, mit einer dicken Staubschicht bedeckter alter SUV .
Nirgends eine Bewegung.
Kein Laut.
Mackenzie sagte: »Es muss weitere Möglichkeiten geben, von hier wegzukommen. Wie auf den Ranches, die ich Ihnen gestern gezeigt habe.«
Bramall fuhr scharf am Waldrand entlang einen weiten Kreis ums Haus und die Nebengebäude. Sie entdeckten insgesamt drei Forststraßen, die unter den Bäumen verschwanden. Eine führte genau nach Osten, eine andere nach Süden, und die dritte teilte den Winkel zwischen ihnen. Alle schienen mehr Wanderwege oder Jägersteige zu sein: schlecht erhalten, voller Felsbrocken und Baumwurzeln und rasch außer Sicht kommend.
Alle schmal.
Aber breit genug für einen kantigen alten Geländewagen.
Welcher der drei Wege gerade befahren worden war, ließ sich unmöglich sagen. Der Boden war knochentrocken. Überall befanden sich Reifenspuren, die sich deutlich abzeichneten.
»Versuchen wir’s auf gut Glück?«, fragte Bramall.
»Zeitverschwendung«, entgegnete Reacher. »Von diesen Wegen biegen viele andere ab. Aussichtslos viele Möglichkeiten. Außerdem ist unser Truck größer als der andere. Wir würden stecken bleiben.«
»Wenn sie’s war«, sagte Bramall.
»Nehmen wir mal an, sie wär’s gewesen.«
»Wohin sie verschwunden ist, spielt keine Rolle«, erwiderte Mackenzie. »Die Frage ist, warum sie unterwegs war. Was ist passiert?«
»Wir haben ihr Angst gemacht«, sagte Reacher. »Wir haben am Straßenrand gestanden und gewartet. Wir hätten die State Police sein können. Sie wollte auf keinen Fall eingeholt werden. Also ist sie von der Straße auf einen alten Forstweg abgebogen, den nur sie kennt. Jetzt liegt sie irgendwo in Deckung und versucht zu überlegen, was sie als Nächstes tun soll.«
»Wo?«
»In einem mindestens hundert Quadratmeilen großen Gebiet vor uns. In einem Versteck, das wir nie finden würden.«
Mackenzie machte eine kurze Pause.
Dann fragte sie: »Habt ihr das Silber gesehen?«
Bramall sagte: »Ein flüchtiger Eindruck.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Ein Sweatshirt«, sagte Bramall. »Mit Kapuze.«
»Aber knapp sitzend«, sagte Reacher. »Ich habe an Sportkleidung gedacht. An etwas, aus dem man sich vor dem Wettlauf schält.«
»Hat es wie Folie ausgesehen?«
»Teilweise«, meinte Bramall. »Vielleicht der Besatz.«
Mackenzie fragte: »Warum wollte sie eine Begegnung mit uns vermeiden?«
»Sie wusste nicht, dass Sie hier sind«, erklärte Reacher. »Sie hat Ihr Gesicht nicht gesehen. Ihre Frontscheibe war schmutzig, unsere auch, und als sie von vorn auf uns zugekommen ist, hat sie den Kopf zur Seite gedreht. Das war keine emotionale, sondern eine praktische Entscheidung. Sie hat uns für Cops gehalten. Vielleicht gehört sie jetzt zu den Leuten, die es vermeiden, dass ein Cop einen Blick in ihren Wagen wirft.«
»Wenn sie’s war«, wiederholte Bramall.
»Weil sie drogenabhängig ist«, sagte Mackenzie.
»Schlimmster Fall«, sagte Reacher.
»Der aber vorkommt.«
»Öfter als niemals. Seltener als immer.«
»Wozu tendieren Sie?«
»Aufs Beste hoffen, fürs Schlimmste planen.«
»Nein, im Ernst.«
»Ich denke an Seymour Porterfield», sagte Reacher. »Wir gehen davon aus, dass Billy sein Geschäft übernommen hat, worauf normalerweise eine Phase kräftiger Expansion folgt, die der einzige Grund dafür zu sein scheint, dass Geschäfte übernommen werden – weil jemand anders verpasste Gelegenheiten wittert. Und dies ist ohnehin kein Geschäft, das jemals schrumpft. Es wächst nur immer weiter. Kurz gesagt müsste man aus verschiedenen Gründen theoretisch annehmen, dass die Strafverfolger Billy jetzt für ein größeres Problem halten, als Porterfield je gewesen ist. Aber der Boy Detective hat uns praktisch erklärt, dass jemand wie Billy ihn nicht mal interessiert. Er hat gesagt, dass er seinen Namen, sein Gesicht ins Fahndungssystem einstellt. Im Klartext heißt das, dass er ihn laufen lässt, weil Billy ihm zu langweilig ist, um auch nur mit ihm zu reden. Andererseits hat der noch uninteressantere Seymour Porterfield eine versiegelte Akte im Pentagon.«
Bramall sagte: »Das muss nichts heißen. Vielleicht hatte er mal lockere Verbindungen nach Mittelamerika. Das Militär hält alles fest. Seine Akte besteht vielleicht nur aus einem Wort. Sie wissen, wie’s da unten zugeht. Sie waren möglicherweise selbst dort.«
»Wieso sollte eine Akte mit einem einzigen Wort versiegelt sein?«
»Keine Ahnung«, sagte Bramall.
»Was wissen wir tatsächlich über Porterfield?«
»Sehr wenig.«
»Welchen Eindruck hatten Sie?«
»Die Nachbarin hat ihn ziemlich gut beschrieben. Ein reicher Typ von außerhalb, der zu sich selbst finden und vielleicht ein Buch schreiben wollte.«
»Nettes Leben.«
»Und wie!«
»Sein Haus hat Ihnen gefallen.«
»Ich könnt’s darin aushalten.«
»Er hatte alles, was man sich wünschen kann«, sagte Reacher. »Auch Granitarbeitsplatten und eine eigene versiegelte Akte im Pentagon. Sogar drei Akten im Pentagon. Eine davon betrifft anscheinend eine Art Gemeinschaftsunternehmen mit einer Unbekannten im letzten halben Jahr seines Lebens. Dazu kommt das eingeschlagene Fenster in seinem Haus. Das wie die Arbeit staatlicher Profis ausgesehen hat. Was aber lächerlich ist. Oder vielleicht doch nicht. Außerdem ist der Kerl von einem Bären gefressen worden. Oder von einem Puma. Beides höchst unwahrscheinlich. Und das alles hat zu wilden Spekulationen darüber geführt, was in diesem letzten halben Jahr wirklich passiert ist. Vor allem gegen Ende zu. Vielleicht ist Rose heute geflüchtet, weil sie vor eineinhalb Jahren gelernt hat, dass man Männern in teuren schwarzen Wagen nicht trauen darf. Um also Mrs. Mackenzies Frage zu beantworten: Im Augenblick tendiere ich nicht zum schlimmsten Fall. Der schlimmste Fall ist meist sehr banal. Aber diese Sache scheint mir komplexer zu sein.«
Mackenzie fragte: »Sie glauben, dass Porterfield nicht der Mann war, für den Sie ihn ursprünglich gehalten haben?«
»Er könnte zehnmal schlimmer gewesen sein. Nur kann ich das jetzt nicht beurteilen. Was das Interessante an der Sache ist. Schließlich kann er genauso gut zehnmal besser gewesen sein.«
Bramall fragte: »Wenn das zuträfe, woher hätte Arthur Scorpio dann seinen Namen gekannt?«
»Vielleicht von Billy. Der war ebenso Porterfields Nachbar wie die Kuchenfrau. Sie reden alle miteinander. Vielleicht hatte Scorpio Interesse an Nachbarschaftsklatsch.«
»Er hatte zehn Mille in einem Schuhkarton.«
»Vielleicht um davon zu leben, während er seinen Roman schreibt.«
Bramall schwieg. Sein Handy klingelte. Er meldete sich, hörte kurz zu und gab das Smartphone an Reacher weiter.
»General Simpson«, erklärte er. »Für Sie.«
Reacher meldete sich.
Der Super sagte: »Porterfield war ein Marineinfanterist.«