32
Bramall stieß zu der Stelle zurück, wo der Felssockel abflachte und der Straßengraben aufgefüllt war. Mit Blick nach Westen parkte er auf dem leicht abfallenden Bankett. Reacher trank eine Flasche des geschenkten Wassers, stieg aus, ging zu der Felskante zurück und setzte sich in die Sonne. Einer der letzten Sommertage. Keiner von ihnen sprach. Bramall hockte meist mit ausdrucksloser Miene im Auto: ein Mann, den das Leben gelehrt hatte, geduldig zu sein. Mackenzie stand überwiegend allein, so weit von dem SUV entfernt wie Reacher, aber in Gegenrichtung. Hoch über ihnen kreisten Raben, erkannten sie als noch lebend und segelten davon.
Letztlich waren es weniger als zwei Stunden, nämlich dreiundneunzig Minuten, die eineinhalb Stunden und ein paar Zerquetschte ergaben. In weiter Ferne erschien eine noch winzige Staubfahne mit einem schwarzen Punkt an der Spitze, der größer und größer wurde, bis sie den Wagen erkennen konnten. Es waren die drei Kerle in ihrem Pick-up mit Doppelkabine. Wie zuvor hielten sie etwa fünfzehn Meter entfernt, stiegen aus und gingen die letzten Meter zu Fuß.
Reacher, Bramall und Mackenzie kamen ihnen entgegen. Alle machten halt: sechs Personen in Dreiergruppen mit höflichen zwei Meter Abstand.
Der Mann mit den Schlangenlederstiefeln sagte: »Nur Mrs. Mackenzie.«
Mackenzie sagte: »Nein, nur zu dritt.«
Der Mann sagte nichts.
Reacher wartete wieder. Auf ihren Plan B. Er wusste, dass sie einen hatten. Es wäre dumm gewesen, ohne einen zu kommen.
Der Mann sagte: »Okay.«
Er wandte sich ab und ging mit den anderen zurück. Dann stiegen die drei wieder in ihren Truck mit Doppelkabine. Bramall, Mackenzie und Reacher stiegen in den Toyota. Der Pick-up wendete und fuhr nach Westen. Bramall folgte ihm, ließ sich zurückfallen und wechselte mal nach links, mal nach rechts, um dem dichtesten Staub auszuweichen.
Der Pick-up mit Doppelkabine bog bei der zweiten Einfahrt rechts ab. Bramall folgte ihm. Die Zufahrt war breit, aber in schlechtem Zustand. Baumwurzeln, Felsbrocken, Geröll. Vor ihnen wippte und schaukelte der große SUV . Auf beiden Seiten standen Bäume, hauptsächlich Nadelbäume, von denen einige windverkrümmt waren, während andere stattlich aufragten. Abseits der Zufahrt leuchtete es an einigen Stellen golden, vor allem in Rinnen und kleinen Schluchten, die Espen besonders liebten. Der Trail schlängelte sich um Bäume und lastwagengroße Felsblöcke herum, die teilweise aufeinanderlagen und Überhänge bildeten.
Nach über vier langsamen Meilen erreichten sie ein Blockhaus, das wie ein Feriendomizil aussah. Bewohnbar, aber nicht auf Dauer. Kein ständiges Heim. Schmutzige Fensterscheiben. Unbewohnt. Vielleicht sogar verlassen. Der Pick-up hielt nicht an, sondern ackerte mit Allradantrieb weiter und passierte nach einer halben Meile ein ganz ähnliches Blockhaus. Staubige Fensterscheiben, unbewohnt. Vielleicht sogar verlassen. Reacher rechnete sich aus, dass sie sich in einer Anlage befanden, die wie ein altmodisches Ferienlager angelegt war und deren einsam im Wald gelegene Blockhäuser durch kurvenreiche Zufahrten miteinander verbunden waren, die theoretisch irgendwann zu einer Art Hauptgebäude führen mussten.
So war es auch. Der Trail führte um einen bewaldeten Bergrücken herum und erreichte nach einer kurzen letzten Steigung ein kleines Hochplateau mit unendlich weitem Blick nach Norden und Osten. Hier stand ein weitläufiges Blockhaus aus massiven Stämmen. Kein kommerzielles Unternehmen. Kein Büro oder irgendein Klubhaus. Lediglich das Haus einer Familie. Vielleicht waren die anderen Blockhäuser für ihre Gäste bestimmt gewesen. Oder für ihre Kinder und Enkel. Oder Urenkel. Irgendein Patriarchentraum. Vielleicht war der Besitzer ein großer Mann in diesem County gewesen.
Der Pick-up mit Doppelkabine hielt nicht an.
Sie folgten ihm weiter, von dem großen Haus weg, auf einem anderen kurvenreichen Trail, durch eine lang gezogene Kurve zwischen Bäumen und dann durch eine in Gegenrichtung, bis sie eine neue Lichtung erreichten, auf der sich am Ausgang einer kleinen Schlucht ein Blockhaus auf einem hohen Steinfundament erhob. Im Bereich der nach Südwesten verlaufenden Schlucht war der Wald so ausgedünnt, dass sich ein weiter Blick auf die Ebene und bis zum Horizont bot. Von der Veranda aus musste die magische Stunde vor Sonnenuntergang spektakulär sein. Das Blockhaus glich einer Kinderzeichnung, schlicht und einfach: mit einer Tür in der Mitte, je einem Fenster links und rechts davon, einem grünen Blechdach und einem Natursteinkamin. Zivilisiert, dachte Reacher. Einigermaßen groß. Jedenfalls kein Baumhaus. Außerdem einsam gelegen, wirkungsvoll versteckt, so geheim wie nur möglich, aber mit wundervoller Aussicht von der Veranda.
Wozu so was aufgeben?
Neben dem Haus stand ein geräumiger Schuppen mit offenem Tor.
In dem Schuppen parkte ein alter SUV , ein Uraltmodell, kantig und verbeult, mit Rost und einer roten Staubschicht bedeckt, die festgebacken zu sein schien.
Vor ihnen hielt der große Pick-up.
Bramall stoppte ebenfalls.
Der Kerl mit den Schlangenlederstiefeln stieg aus. Er ging zur Beifahrertür des Toyotas und zog sie auf.
Er sagte: »Mrs. Mackenzie zuerst.«
Sie stieg aus. Der Kerl führte sie über festgefahrene Erde und die Verandastufen zur Haustür hinauf. Er klopfte an, und sie wartete. Eine zierliche Gestalt, ihr Gesichtsausdruck ernst, ihr Haar eine wilde Mähne.
Der Kerl bekam eine Antwort aus dem Hausinneren, öffnete die Tür und hielt sie wie ein Hotelpage auf. Mackenzie zögerte einen Augenblick, dann ging sie an ihm vorbei und betrat das Haus. Der Kerl schloss die Haustür hinter ihr, dann verließ er die Veranda und ging zu seinem Truck zurück.
Kein Laut.
Keine Bewegung.
»Rose Sanderson ist dort drinnen?«, fragte Bramall.
»Ja«, antwortete Reacher.
»Das wissen Sie, weil Sie zwei Dinge wissen?«
»Insgesamt drei«, entgegnete Reacher. »Die dritte Sache habe ich nicht erwähnt.«
»Sie wissen, dass Rose hier lebt, und Sie wissen, dass in der Stadt niemand ihre Schwester erkennt.«
»Und ich weiß, dass sie mit einem Purple Heart ausgezeichnet worden ist.«
Bramall schwieg eine halbe Minute lang.
»Es war eine Gesichtsverletzung«, sagte er dann.
Reacher nickte.
»Es muss eine gewesen sein«, sagte er.
»Wie schlimm?«
»Schlimm genug, dass niemand ihre Schwester erkennt. Schlimm genug, dass sie sich fortwährend versteckt. Schlimm genug, dass sie ihr Gesicht abwendet. Schlimm genug, dass sie sich im Schlafzimmer verkriecht, wenn der Dachdecker am Haus arbeitet.«
Bramall blieb im Wagen sitzen, aber Reacher fühlte sich vom langen Sitzen steif. Er stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Um lockerer zu werden wie bei der Pinkelpause in Wisconsin. Er zog den Ring aus seiner Tasche. Die goldene Filigranarbeit, der schwarze Stein, die winzige Größe. S.R.S. 2005 . Vor dem Hintergrund der Wildnis, die ihn auf allen Seiten umgab, wirkte der Ring unwahrscheinlich zart und fein gearbeitet.
Er schlenderte zum Ausgang der Schlucht, um die Aussicht zu bewundern, und konnte mindestens fünfzig Meilen weit sehen. Ein Stück von Colorado, aber überwiegend Wyoming. Dünne klare Luft, ausgedehnte gelbbraune Ebenen, spitz zulaufende Bäume, schroffe Felsformationen, diesige Berge. Nirgends eine Bewegung. Er fühlte sich allein wie auf einem unbesiedelten Planeten und konnte sich vorstellen, sich hier zu verstecken. Niemanden zu sehen. Von niemandem gesehen zu werden. Das war nirgends besser möglich.
Vielleicht will sie nicht gefunden werden.
Reacher wandte sich ab und ging zu dem Schuppen, um sich den alten Geländewagen anzusehen. Der SUV war ein uralter Ford Bronco, der gleiche Wagen, in dem er von Casper nach Laramie gefahren war – mit dem Mann, der Baumstämme mit einer Kettensäge in Skulpturen verwandelte. Das war ein Fahrzeug ohne Extras gewesen, aber Rose Sandersons Ford wirkte noch schlichter. Wind und Sand hatten seinen Lack bis aufs blanke Metall abgeschmirgelt. Das Karosserieblech war verkratzt und narbig, hier und da von kleinen Kollisionen eingedellt. Die Reifen sahen abgefahren aus. Vor der Motorhaube stehend nahm er deutlichen Benzingeruch wahr.
Er ging zu dem Toyota zurück. Inzwischen hielt Mackenzie sich seit einer Stunde in dem Haus auf. Bramall hatte sein Fenster heruntergefahren. Vermutlich um frische Luft hereinzulassen. Dünn und klar, warm in der Sonne, kühl im Schatten.
Bramall sagte: »Einer dieser Tage.«
»Ich hab’s beim Aufwachen gewusst«, sagte Reacher.
»Klienten, die die Dinge selbst in die Hand nehmen, sind immer ein Problem. Ich hätte sie darauf vorbereiten müssen. Ich hätte ein paar Dinge glätten können.«
»Damit dürfte Ihr Job beendet sein. Fahren Sie bitte nicht ohne mich weg. Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt zurück.«
»Nachdem Sie ihr den Ring gegeben haben.«
»Nicht mehr wichtig. Nicht im Weltmaßstab. Mrs. Mackenzie kann ihn ihr geben.«
»Ich fahre nicht gleich«, erklärte Bramall. »Schon deshalb nicht, weil ich glaube, dass Mrs. Mackenzie meinen Vertrag verlängern wollen wird. Sie braucht jetzt Hilfe. Wenn nicht von mir, wird sie mindestens erwarten, dass ich sie in die Stadt zurückbringe. Oder zum Flughafen.«
»Funktioniert Ihr Handy hier oben?«
»Zwei Balken, wenn man die Schlucht im Rücken hat.«
»So steht auch das Haus. Sie kann von hier aus telefoniert haben, als sie gesagt hat: ›Halt die Klappe, Sy, ich telefoniere gerade.‹ Das war hier oder in Porterfields Haus. Nur diese beiden kommen infrage.«
»Sie haben vor, sie wegen Porterfield auszufragen? Ich tendiere hier zur Mehrheitsmeinung. Die Sache mit dem Bären ist höchstwahrscheinlich Bullshit.«
»Dieser Plan hat sich geändert. Wegen der Klientin, die die Dinge selbst in die Hand genommen hat. Die Story ist zur großen Wiederbegegnung geworden. Rose redet jetzt nicht mehr mit uns. Wieso auch? Wenn nach Jahren plötzlich die Zwillingsschwester vor der Tür steht, lädt man den Taxifahrer nicht ins Haus ein. Man hat nicht das Bedürfnis, Konversation zu machen.«
»Sie wollten die ganze Story wissen.«
»Ich kenne sie weitgehend«, sagte Reacher. »Bis zu dem Teil, wo sie ungefähr zwanzig Meilen vor dem Ende der Straße aufhört.«
Zwanzig Minuten später öffnete sich die Haustür, und Mackenzie trat auf die kleine Veranda. Sie drehte sich um und schloss die Tür. Stand über eine Minute lang still, atmete langsam ein und aus. Dann ging sie die wenigen Stufen hinunter. Bramall und Reacher stiegen aus, um ihr entgegenzukommen. Sie hatte geweint. Das war nicht zu übersehen.
Anfangs sagte sie nichts, als hätte sie die Sprache verloren. Ihre Lippen bewegten sich, und sie machte Geräusche, brachte aber kein Wort heraus.
»Ganz ruhig«, sagte Bramall.
Sie holte tief Luft.
Sie sagte: »Meine Schwester möchte jetzt Mr. Reacher sprechen.«
Reacher sah sie an, erst überrascht, dann, als wollte er sie etwas fragen, was er aber nicht tat, denn was hätte er sagen können? Ist ihr Zustand erschreckend? War’s schlimmer, als Sie befürchtet haben?
Sie erwiderte seinen Blick niedergeschlagen und zuckte halb nickend leicht mit den Schultern, als wollte sie gleichzeitig Ja und Nein zu etwas sagen.
Er schritt übers Geröll, das unter seinen Schritten knirschte, und stieg zur Veranda hinauf.