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Bramall stieß zu der Stelle zurück, wo der
Felssockel abflachte und der Straßengraben aufgefüllt war. Mit
Blick nach Westen parkte er auf dem leicht abfallenden Bankett.
Reacher trank eine Flasche des geschenkten Wassers, stieg aus, ging
zu der Felskante zurück und setzte sich in die Sonne. Einer der
letzten Sommertage. Keiner von ihnen sprach. Bramall hockte meist
mit ausdrucksloser Miene im Auto: ein Mann, den das Leben gelehrt
hatte, geduldig zu sein. Mackenzie stand überwiegend allein, so
weit von dem SUV entfernt wie
Reacher, aber in Gegenrichtung. Hoch über ihnen kreisten Raben,
erkannten sie als noch lebend und segelten davon.
Letztlich waren es weniger als zwei Stunden,
nämlich dreiundneunzig Minuten, die eineinhalb Stunden und ein paar
Zerquetschte ergaben. In weiter Ferne erschien eine noch winzige
Staubfahne mit einem schwarzen Punkt an der Spitze, der größer und
größer wurde, bis sie den Wagen erkennen konnten. Es waren die drei
Kerle in ihrem Pick-up mit Doppelkabine. Wie zuvor hielten sie etwa
fünfzehn Meter entfernt, stiegen aus und gingen die letzten Meter
zu Fuß.
Reacher, Bramall und Mackenzie kamen ihnen
entgegen. Alle machten halt: sechs Personen in Dreiergruppen mit
höflichen zwei Meter Abstand.
Der Mann mit den Schlangenlederstiefeln
sagte: »Nur Mrs. Mackenzie.«
Mackenzie sagte: »Nein, nur zu dritt.«
Der Mann sagte nichts.
Reacher wartete wieder. Auf ihren Plan B. Er
wusste, dass sie einen hatten. Es wäre dumm gewesen, ohne einen zu
kommen.
Der Mann sagte: »Okay.«
Er wandte sich ab und ging mit den anderen
zurück. Dann stiegen die drei wieder in ihren Truck mit
Doppelkabine. Bramall, Mackenzie und Reacher stiegen in den Toyota.
Der Pick-up wendete und fuhr nach Westen. Bramall folgte ihm, ließ
sich zurückfallen und wechselte mal nach links, mal nach rechts, um dem dichtesten Staub
auszuweichen.
Der Pick-up mit Doppelkabine bog bei der
zweiten Einfahrt rechts ab. Bramall folgte ihm. Die Zufahrt war
breit, aber in schlechtem Zustand. Baumwurzeln, Felsbrocken,
Geröll. Vor ihnen wippte und schaukelte der große SUV . Auf beiden Seiten standen Bäume,
hauptsächlich Nadelbäume, von denen einige windverkrümmt waren,
während andere stattlich aufragten. Abseits der Zufahrt leuchtete
es an einigen Stellen golden, vor allem in Rinnen und kleinen
Schluchten, die Espen besonders liebten. Der Trail schlängelte sich
um Bäume und lastwagengroße Felsblöcke herum, die teilweise
aufeinanderlagen und Überhänge bildeten.
Nach über vier langsamen Meilen erreichten
sie ein Blockhaus, das wie ein Feriendomizil aussah. Bewohnbar,
aber nicht auf Dauer. Kein ständiges Heim. Schmutzige
Fensterscheiben. Unbewohnt. Vielleicht sogar verlassen. Der Pick-up
hielt nicht an, sondern ackerte mit Allradantrieb weiter und
passierte nach einer halben Meile ein ganz ähnliches Blockhaus.
Staubige Fensterscheiben, unbewohnt. Vielleicht sogar verlassen.
Reacher rechnete sich aus, dass sie sich in einer Anlage befanden,
die wie ein altmodisches Ferienlager angelegt war und deren einsam
im Wald gelegene Blockhäuser durch kurvenreiche Zufahrten
miteinander verbunden waren, die theoretisch irgendwann zu einer
Art Hauptgebäude führen mussten.
So war es auch. Der Trail führte um einen
bewaldeten Bergrücken herum und erreichte nach einer kurzen letzten
Steigung ein kleines Hochplateau mit unendlich weitem Blick nach
Norden und Osten. Hier stand ein weitläufiges Blockhaus aus
massiven Stämmen. Kein kommerzielles Unternehmen. Kein Büro oder
irgendein Klubhaus. Lediglich das Haus einer Familie. Vielleicht
waren die anderen Blockhäuser für ihre Gäste bestimmt gewesen. Oder
für ihre Kinder und Enkel. Oder Urenkel. Irgendein
Patriarchentraum. Vielleicht war der Besitzer ein großer Mann in
diesem County gewesen.
Der Pick-up mit Doppelkabine hielt nicht
an.
Sie folgten ihm weiter, von dem großen Haus
weg, auf einem anderen kurvenreichen Trail, durch eine lang
gezogene Kurve zwischen Bäumen und dann durch eine in
Gegenrichtung, bis sie eine neue Lichtung erreichten, auf der sich
am Ausgang einer kleinen Schlucht ein Blockhaus auf einem hohen
Steinfundament erhob. Im Bereich der nach Südwesten verlaufenden Schlucht war der Wald so
ausgedünnt, dass sich ein weiter Blick auf die Ebene und bis zum
Horizont bot. Von der Veranda aus musste die magische Stunde vor
Sonnenuntergang spektakulär sein. Das Blockhaus glich einer
Kinderzeichnung, schlicht und einfach: mit einer Tür in der Mitte,
je einem Fenster links und rechts davon, einem grünen Blechdach und
einem Natursteinkamin. Zivilisiert, dachte Reacher. Einigermaßen
groß. Jedenfalls kein Baumhaus. Außerdem einsam gelegen,
wirkungsvoll versteckt, so geheim wie nur möglich, aber mit
wundervoller Aussicht von der Veranda.
Wozu so was aufgeben?
Neben dem Haus stand ein geräumiger Schuppen
mit offenem Tor.
In dem Schuppen parkte ein alter
SUV , ein Uraltmodell, kantig und
verbeult, mit Rost und einer roten Staubschicht bedeckt, die
festgebacken zu sein schien.
Vor ihnen hielt der große Pick-up.
Bramall stoppte ebenfalls.
Der Kerl mit den Schlangenlederstiefeln
stieg aus. Er ging zur Beifahrertür des Toyotas und zog sie
auf.
Er sagte: »Mrs. Mackenzie zuerst.«
Sie stieg aus. Der Kerl führte sie über
festgefahrene Erde und die Verandastufen zur Haustür hinauf. Er
klopfte an, und sie wartete. Eine zierliche Gestalt, ihr
Gesichtsausdruck ernst, ihr Haar eine wilde Mähne.
Der Kerl bekam eine Antwort aus dem
Hausinneren, öffnete die Tür und hielt sie wie ein Hotelpage auf.
Mackenzie zögerte einen Augenblick, dann ging sie an ihm vorbei und
betrat das Haus. Der Kerl schloss die Haustür hinter ihr, dann
verließ er die Veranda und ging zu seinem Truck zurück.
Kein Laut.
Keine Bewegung.
»Rose Sanderson ist dort drinnen?«, fragte
Bramall.
»Ja«, antwortete Reacher.
»Das wissen Sie, weil Sie zwei Dinge
wissen?«
»Insgesamt drei«, entgegnete Reacher. »Die
dritte Sache habe ich nicht erwähnt.«
»Sie wissen, dass Rose hier lebt, und Sie
wissen, dass in der Stadt niemand ihre Schwester erkennt.«
»Und ich weiß, dass sie mit einem Purple
Heart ausgezeichnet worden ist.«
Bramall schwieg eine halbe
Minute lang.
»Es war eine Gesichtsverletzung«, sagte er
dann.
Reacher nickte.
»Es muss eine gewesen sein«, sagte er.
»Wie schlimm?«
»Schlimm genug, dass niemand ihre Schwester
erkennt. Schlimm genug, dass sie sich fortwährend versteckt.
Schlimm genug, dass sie ihr Gesicht abwendet. Schlimm genug, dass
sie sich im Schlafzimmer verkriecht, wenn der Dachdecker am Haus
arbeitet.«
Bramall blieb im Wagen sitzen, aber Reacher
fühlte sich vom langen Sitzen steif. Er stieg aus, um sich die
Beine zu vertreten. Um lockerer zu werden wie bei der Pinkelpause
in Wisconsin. Er zog den Ring aus seiner Tasche. Die goldene
Filigranarbeit, der schwarze Stein, die winzige Größe. S.R.S. 2005 . Vor dem Hintergrund der Wildnis,
die ihn auf allen Seiten umgab, wirkte der Ring unwahrscheinlich
zart und fein gearbeitet.
Er schlenderte zum Ausgang der Schlucht, um
die Aussicht zu bewundern, und konnte mindestens fünfzig Meilen
weit sehen. Ein Stück von Colorado, aber überwiegend Wyoming. Dünne
klare Luft, ausgedehnte gelbbraune Ebenen, spitz zulaufende Bäume,
schroffe Felsformationen, diesige Berge. Nirgends eine Bewegung. Er
fühlte sich allein wie auf einem unbesiedelten Planeten und konnte
sich vorstellen, sich hier zu verstecken. Niemanden zu sehen. Von
niemandem gesehen zu werden. Das war nirgends besser möglich.
Vielleicht will sie nicht gefunden
werden.
Reacher wandte sich ab und ging zu dem
Schuppen, um sich den alten Geländewagen anzusehen. Der
SUV war ein uralter Ford Bronco,
der gleiche Wagen, in dem er von Casper nach Laramie gefahren war –
mit dem Mann, der Baumstämme mit einer Kettensäge in Skulpturen
verwandelte. Das war ein Fahrzeug ohne Extras gewesen, aber Rose
Sandersons Ford wirkte noch schlichter. Wind und Sand hatten seinen
Lack bis aufs blanke Metall abgeschmirgelt. Das Karosserieblech war
verkratzt und narbig, hier und da von kleinen Kollisionen
eingedellt. Die Reifen sahen abgefahren aus. Vor der Motorhaube
stehend nahm er deutlichen Benzingeruch wahr.
Er ging zu dem Toyota zurück. Inzwischen
hielt Mackenzie sich seit einer Stunde in dem Haus auf. Bramall
hatte sein Fenster heruntergefahren.
Vermutlich um frische Luft hereinzulassen. Dünn und klar, warm in
der Sonne, kühl im Schatten.
Bramall sagte: »Einer dieser Tage.«
»Ich hab’s beim Aufwachen gewusst«, sagte
Reacher.
»Klienten, die die Dinge selbst in die Hand
nehmen, sind immer ein Problem. Ich hätte sie darauf vorbereiten
müssen. Ich hätte ein paar Dinge glätten können.«
»Damit dürfte Ihr Job beendet sein. Fahren
Sie bitte nicht ohne mich weg. Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit
in die Stadt zurück.«
»Nachdem Sie ihr den Ring gegeben
haben.«
»Nicht mehr wichtig. Nicht im Weltmaßstab.
Mrs. Mackenzie kann ihn ihr geben.«
»Ich fahre nicht gleich«, erklärte Bramall.
»Schon deshalb nicht, weil ich glaube, dass Mrs. Mackenzie meinen
Vertrag verlängern wollen wird. Sie braucht jetzt Hilfe. Wenn nicht
von mir, wird sie mindestens erwarten, dass ich sie in die Stadt
zurückbringe. Oder zum Flughafen.«
»Funktioniert Ihr Handy hier oben?«
»Zwei Balken, wenn man die Schlucht im
Rücken hat.«
»So steht auch das Haus. Sie kann von hier
aus telefoniert haben, als sie gesagt hat: ›Halt die Klappe, Sy,
ich telefoniere gerade.‹ Das war hier oder in Porterfields Haus.
Nur diese beiden kommen infrage.«
»Sie haben vor, sie wegen Porterfield
auszufragen? Ich tendiere hier zur Mehrheitsmeinung. Die Sache mit
dem Bären ist höchstwahrscheinlich Bullshit.«
»Dieser Plan hat sich geändert. Wegen der
Klientin, die die Dinge selbst in die Hand genommen hat. Die Story
ist zur großen Wiederbegegnung geworden. Rose redet jetzt nicht
mehr mit uns. Wieso auch? Wenn nach Jahren plötzlich die
Zwillingsschwester vor der Tür steht, lädt man den Taxifahrer nicht
ins Haus ein. Man hat nicht das Bedürfnis, Konversation zu
machen.«
»Sie wollten die ganze Story wissen.«
»Ich kenne sie weitgehend«, sagte Reacher.
»Bis zu dem Teil, wo sie ungefähr zwanzig Meilen vor dem Ende der
Straße aufhört.«
Zwanzig Minuten später öffnete sich die
Haustür, und Mackenzie trat auf die kleine Veranda. Sie drehte sich
um und schloss die Tür. Stand über eine
Minute lang still, atmete langsam ein und aus. Dann ging sie die
wenigen Stufen hinunter. Bramall und Reacher stiegen aus, um ihr
entgegenzukommen. Sie hatte geweint. Das war nicht zu
übersehen.
Anfangs sagte sie nichts, als hätte sie die
Sprache verloren. Ihre Lippen bewegten sich, und sie machte
Geräusche, brachte aber kein Wort heraus.
»Ganz ruhig«, sagte Bramall.
Sie holte tief Luft.
Sie sagte: »Meine Schwester möchte jetzt Mr.
Reacher sprechen.«
Reacher sah sie an, erst überrascht, dann,
als wollte er sie etwas fragen, was er aber nicht tat, denn was
hätte er sagen können? Ist ihr Zustand erschreckend? War’s
schlimmer, als Sie befürchtet haben?
Sie erwiderte seinen Blick niedergeschlagen
und zuckte halb nickend leicht mit den Schultern, als wollte sie
gleichzeitig Ja und Nein zu etwas sagen.
Er schritt übers Geröll, das unter seinen
Schritten knirschte, und stieg zur Veranda hinauf.