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Mit dem Fuß auf der Bremse zögerte der
County Cop kurz, dann schlug er scharf ein und hielt am selben
Randstein wie zuvor. Er fuhr seine Scheibe herunter und taxierte
die Szene. Sechs Männer, alle horizontal, von denen einige sich
bewegten. Dazu Reacher, der auf dem Gehsteig stand.
Der Cop sagte: »Sir, treten Sie bitte an den
Wagen.«
Reacher tat wie ihm geheißen.
»Glückwunsch«, sagte der Cop.
»Wozu?«
»Was Sie hier geleistet haben.«
»Nein, das war alles selbst verursacht. Ich
war nur Zuschauer. Sie haben untereinander eine Riesenschlägerei
angefangen. Jemand hat auf dem falschen Bike gesessen, glaub
ich.«
»Das ist Ihre Story?«
»Sie glauben mir nicht?«
»Nur mal theoretisch: Sollte ich das
tun?«
»Der Anwalt des Pfandleihers sagt, dass es
für uns alle besser sei, wenn Sie’s täten.«
»Ich will Sie aus dem County
weghaben.«
»Nichts dagegen. Ich fahre mit dem ersten
Bus.«
»Nicht schnell genug.«
»Soll ich ein Motorrad klauen?«
»Ich fahre Sie.«
»Sie haben’s so eilig, mich
loszuwerden?«
»Das würde uns beiden eine Menge Papierkram
ersparen.«
»Wohin würden Sie mich fahren?«
»Ich vermute mal, dass die Männer Ihre Frage
beantwortet haben. Also wollen Sie jetzt nach Westen. Hinter der
Countygrenze geht’s geradeaus zur I-90. Massenhaft freundliche
Autofahrer. Da kommen Sie per Anhalter weiter.«
Also stieg Reacher ein und vierzig
ereignislose Minuten später wieder aus:
mitten in der Pampa, auf einer dunklen Straße, vor einem Schild,
auf dem stand, er verlasse jetzt ein County und betrete ein
anderes. Er winkte dem Cop ein Lebewohl zu und ging hundert,
zweihundert Meter weit, blieb stehen und schaute sich um. Der Cop
blendete kurz auf, wendete und fuhr davon. Reacher verfolgte, wie
seine Heckleuchten verschwanden, ging dann zu einer etwas breiteren
Stelle des Banketts und wartete dort. Vor ihm lagen ungefähr
sechzig Meilen County Road, dann die I-90. Die durch Minnesota nach
Westen, nach South Dakota führte. Durch Sioux Falls und ganz bis
Rapid City.
Und weiter. Bis nach Seattle, wenn er
wollte.
In diesem Augenblick verspeiste Michelle
Chang über fünfzehnhundert Meilen entfernt an ihrem Küchentisch
eine ins Haus gelieferte Pizza. Nicht mit Wein, sondern einem Glas
Wasser. Keine Feier. Nur Kalorien. Sie hatte den ganzen Nachmittag
geschuftet, um aufzuarbeiten, was sich in einer Woche angesammelt
hatte. Sie war müde und teils froh, allein zu sein, teils nicht.
Sie rechnete sich aus, dass Reacher als Nächstes nach Chicago
gefahren war. Von dort aus ging es in alle Richtungen weiter. Er
fehlte ihr. Aber mit ihnen hätte es nicht geklappt. Das wusste sie.
Das wusste sie so sicher, wie sie jemals etwas gewusst hatte.
Ebenfalls in diesem Augenblick klingelte
fast siebenhundert Meilen entfernt im Rapid City Police Department
das Telefon auf einem Schreibtisch im Dezernat Eigentumsdelikte.
Entgegengenommen wurde der Anruf von Detective Gloria Nakamura. Sie
war klein und schwarzhaarig und seit drei Jahren beim RCPD . Keine Anfängerin mehr, aber auch noch
keine Veteranin. Ihre Schicht würde in einer Stunde zu Ende sein.
Sie sagte: »Eigentum, Nakamura.«
Der Anrufer war ein Techniker im Dezernat
Computerkriminalität, der ihr einen Gefallen tat. Er sagte: »Mein
Mann bei der Telefongesellschaft hat mich angerufen. Ein gewisser
Jimmy aus Wisconsin hat gerade auf Arthur Scorpios Mailbox
gesprochen. Auf seinem Privathandy. Irgendeine Art Warnung.«
Nakamura sagte: »Was für eine
Warnung?«
»Ich maile sie dir.«
»Wäre klasse«, sagte Nakamura
und legte auf. Ihre E-Mail klingelte. Sie klickte die Nachricht an,
klickte auf die angehängte Datei und wählte etwas mehr Lautstärke.
Im Hintergrund waren Geräusche wie in einer Bar zu hören, dann
meldete sich eine nervöse Stimme, die hektisch schnell sprach. Sie
sagte: »Arthur, ich bin’s, Jimmy. Bei mir war gerade ein Kerl, der
nach etwas gefragt hat, das du mir verkauft hast. Er legt es
anscheinend darauf an, die Lieferkette zurückzuverfolgen. Ich hab
ihm nichts erzählt, aber er hat schon mich irgendwie gefunden, also
denke ich, dass er vielleicht auch dich irgendwie findet. Tut er’s,
solltest du ihn ernst nehmen. Das rate ich dir dringend. Dieser
Kerl ist wie Bigfoot aus den Wäldern. Sieh dich vor, okay?«
Dann schepperte etwas, als ein großer alter
Hörer eingehängt wurde. Vielleicht an einem Münztelefon an einer
Wand. In einer Bar in Wisconsin. Die Akte Arthur Scorpio war gut
fünf Zentimeter dick. Bisher konnte man ihm nichts nachweisen. Aber
die Kriminalpolizei Rapid City gab nie auf. Jeder kleinste Hinweis
wurde registriert. Früher oder später würde sich etwas beweisen
lassen. Nakamura legte einen Vermerk an. Nach der Wiedergabe des
Telefongesprächs fügte sie einen eigenen Kommentar an: Kein rauchender Colt, aber interessant wegen des
Hinweises auf eine Lieferkette . Dann öffnete sie eine
Suchmaschine und tippte Bigfoot
ein. Die Bedeutung war klar: ein mythischer Affenmensch, behaart,
über zwei Meter groß, aus den Wäldern im Nordwesten. Sie öffnete
ihr Dokument noch mal und fügte an: Vielleicht bringt Bigfoot Bewegung in die
Sache! Sie mailte ihrem Lieutenant eine Kopie.
Wenig später bedauerte sie das
Ausrufezeichen. Es wirkte kindisch, hatte aber sein müssen.
Eigentlich wollte sie, dass ihr Boss ihren Kommentar las und eine
sofortige Wiederaufnahme der Überwachung anordnete. Nur für den
Fall, dass Scorpios Besucher sich als wichtig erwies. Das verstand
sich eigentlich von selbst. Jimmy aus Wisconsin hatte offenbar
gelogen, als er behauptete, dem Kerl nichts erzählt zu haben. Diese
Behauptung war unlogisch. Ein Kerl, der beängstigend genug war, um
einen Warnanruf zu rechtfertigen, war beängstigend genug, um die
Antwort auf jede beliebige Frage zu bekommen. Also war der Typ
schon unterwegs. Folglich kam es darauf an, schnell zu handeln.
Aber ihr Boss behielt sich solche Entscheidungen grundsätzlich
selbst vor. Anstöße von außen waren kontraproduktiv. Daher der
Versuch, ihren Kommentar zu entschärfen. Damit ihr Lieutenant
glaubte, dies sei seine eigene Idee gewesen.
Dann kam die Nachtschicht zum
Dienst, und Nakamura fuhr nach Hause. Sie beschloss, morgens an
Scorpios Waschsalon vorbeizufahren. Auf dem Weg zur Arbeit. Eine
halbe oder Dreiviertelstunde. Bloß um sich den Laden anzusehen.
Vielleicht war Bigfoot dann schon eingetroffen.
Reacher hatte keinen Grund, dem County Cop
nicht zu glauben, dass im Westen Wisconsins freundliche Leute
wohnten. Das Problem war Quantität, nicht Qualität. Er war
spätabends auf einer einsamen Straße durch die Pampa unterwegs.
Hier gab es keinen Verkehr. Oder, genauer gesagt, fast keinen. Ein
Dodge Pick-up war mit einem Schwall warmer Luft vorbeigerast, und
fünf Minuten später rollte ein Ford F-150 langsamer an ihm vorbei,
um sich den Anhalter anzusehen, bevor der Fahrer wieder Gas gab und
flott weiterfuhr. Jetzt war der Horizont im Osten dunkel und still.
Doch Reacher blieb optimistisch. Schließlich brauchte er nur einen
Autofahrer, der für ihn anhielt. Und die Zeit drängte nicht. Der
Ring hatte einen Monat in der Auslage des Leihhauses gelegen. Es
gab keine heiße Spur, die er dringend verfolgen musste.
Jede Wette, dass dahinter überhaupt keine
Story steckt.
Reacher wartete und sah nach einiger Zeit
weit im Osten Scheinwerfer auftauchen, die wie zwei winzige Sterne
funkelten. Eine Minute lang schienen sie nicht näher zu kommen,
weil er sie genau von vorn sah. Aber dann wurde das Bild
deutlicher. Ein Pick-up, dachte er, oder ein SUV . Wegen der Höhe und des
Scheinwerferabstands. Er trat einen Schritt auf die Fahrbahn hinaus
und reckte den Daumen hoch. Dabei drehte er sich halb zur Seite,
weil diese Hollywoodpose ihn weniger massig erscheinen ließ. An
seiner Größe war nichts zu ändern, aber je weniger bedrohlich man
wirkte, desto besser. Reacher war ein erfahrener Anhalter. Er
wusste, dass Autofahrer impulsive Entscheidungen trafen.
Der Wagen war ein Pick-up. Ein japanisches
Ungetüm mit Doppelkabine. Er wurde langsamer. Kam näher. Das
Gesicht der Fahrerin wurde von der Instrumentenbeleuchtung rot
angestrahlt. Sie hält nicht, sagte
Reacher sich. Sie müsste verrückt sein.
Der Truck hielt.
Er war ein Honda. Dunkelrotmetallic. Die
rechte Scheibe wurde heruntergefahren. Auf dem Rücksitz saß ein
Hund. Wie ein Schäferhund, aber größer. Ungefähr so groß wie ein
Pony. Vielleicht eine verrückte
Mutation. Er hatte Reißzähne von der Größe von Gewehrpatronen. Die
Frau beugte sich über die Mittelkonsole nach rechts. Ihr schwarzes
Haar war zu einem Nackenknoten zusammengefasst. Sie trug eine
dunkelgrüne Bluse. Reacher schätzte sie auf Mitte vierzig.
Sie fragte: »Wohin wollen Sie?«
Reacher antwortete: »Ich muss zur
I-90.«
»Dann steigen Sie ein. Die liegt auf meinem
Weg.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Wohin ich fahre?«
»Dass ich einsteigen soll. Vom
Sicherheitsstandpunkt aus. Sie kennen mich nicht. Ich bin
ungefährlich, aber das würde ich auf jeden Fall behaupten,
stimmt’s?«
»Ich habe hier drinnen einen scharfen
Hund.«
»Ich könnte bewaffnet sein. Logischerweise
würde ich als Erstes den Hund erschießen. Oder ihm die Kehle
durchschneiden. Und dann würde ich Sie mir vornehmen. Darüber würde
ich mir Sorgen machen. Aus professioneller Sicht, meine ich.«
»Sind Sie ein Cop?«
»Ich war bei der Militärpolizei.«
»Sind Sie bewaffnet?«
»Nein.«
»Dann steigen Sie ein.«
Sie sei eine Farmerin, erklärte sie, mit
viel Milchvieh auf viel Land. Recht erfolgreich, vermutete Reacher
wegen des Trucks, der innen fast so geräumig war wie ein Humvee. Er
hatte Ledersitze in Patchwork-Optik und war leise wie eine
Limousine. Sie unterhielten sich. Er fragte, ob sie schon immer
Farmerin gewesen sei, und sie sagte Ja, seit vier Generationen. Sie
fragte, womit er sein Geld verdiene, und er sagte, er sei gerade
auf Jobsuche. Der riesige Hund verfolgte ihr Gespräch vom Rücksitz
aus, wobei er seinen massigen Schädel dem jeweils Sprechenden
zuwandte.
Eine Stunde später hielt sie und ließ ihn am
Kleeblatt der I-90 aussteigen. Er bedankte sich und winkte ihr
nach, als sie davonfuhr. Sie war nett und herzlich gewesen. Eine
der zufälligen Begegnungen, die sein Leben zu dem machten, was es
war.
Dann ging er zur Einfahrt nach Westen und
baute sich dort auf: ein Fuß auf der
gerillten Fahrbahnmarkierung, der andere auf dem Asphalt, den
Daumen weit vorgestreckt.
Fast siebenhundert Meilen entfernt, im Büro
hinter seinem Waschsalon in Rapid City, löschte Arthur Scorpio die
letzten Textnachrichten, E-Mails und Anrufe des Tages von seinem
Handy. Er kam zu Jimmy Rats Nachricht und hörte: Ich hab ihm nichts erzählt, aber er hat schon mich
irgendwie gefunden, also denke ich, dass er vielleicht auch dich
irgendwie findet. Im Klartext hieß das: Ich hab dich verpfiffen, und ein Kerl ist zu dir
unterwegs. Langfristig bedeutete das keine Geschäfte mehr
mit Jimmy Rat, und kurzfristig mussten vielleicht Abwehrmaßnahmen
geplant werden.
Scorpio rief seine Sekretärin zu Hause an.
Sie war gerade dabei, ins Bett zu gehen. Er fragte sie: »Wer oder
was ist Bigfoot?«
Sie sagte: »Ein riesenhafter Affenmensch,
der im Wald lebt. Im Bergland im Nordwesten. Über zwei Meter groß
und dicht behaart. Frisst Bären und Rinder. Ein Rancher hat im Lauf
der Jahre über tausend Stück eingebüßt.«
»Wo war das?«
»Nirgends«, sagte die Sekretärin. »Alles
imaginär.«
Scorpio sagte: »Huh.«
Er legte auf, rief noch zwei zuverlässige
Typen an, die er kannte, sperrte dann seinen Waschsalon ab und fuhr
nach Hause.