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Am folgenden Morgen verließ Reacher sein
nicht kostenloses Motelzimmer, als eben die Sonne aufging. Er legte
dieselbe Strecke wie nachts zurück, machte aber einen Bogen um die
letzten Straßenblocks, bis er sie umrundet hatte. Dann drehte er
um, erreichte Scorpios rückwärtige Zufahrt von der anderen Seite
aus und warf einen Blick in die Gasse.
Am Hintereingang des Waschsalons hielt ein
Mann Wache. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Mauer und trug
zu einer schwarzen Bomberjacke einen schwarzen Pullover, eine
schwarze Hose und schwarze Schuhe. Ungefähr vierzig Jahre, ungefähr
einen Meter fünfundachtzig, ungefähr fünfundachtzig Kilo.
Reacher machte kehrt und beschrieb einen
ebenso großen Bogen wie zuvor – zwei Blocks geradeaus und dreimal
zwei Blocks links –, um sich dem Coffeeshop ungesehen von hinten
nähern zu können. Er rechnete sich aus, dass es auch dort eine
Lieferantenzufahrt geben würde. Wie hinter Scorpios Waschsalon. Die
war bestimmt nötig. Coffeeshops produzierten Berge von Müll.
Eierschalen, Kaffeesatz, Speisereste, Kartons und Dosen. Und wo es
eine Zufahrt gab, gab es auch eine Küchentür. Die unversperrt sein
würde. Das war gesetzlich vorgeschrieben. Diese Tür während der Öffnungszeiten
NICHT abschließen! Sie sollte als Notausgang fürs
Küchenpersonal dienen. Ein weiteres dringendes Erfordernis. Solche
engen Küchen brannten wie Napalm.
Reacher fand die Zufahrt. Fand die
Küchentür. Er ging durch die Küche nach vorn ins Lokal. Er
konzentrierte sich auf das Fenster und trat einen Schritt nach
links, um besser sehen zu können.
Am Vordereingang des Waschsalons hielt ein
zweiter Mann Wache. Ein Zwilling des anderen Kerls. In der gleichen
Pose. Untätig an der Mauer lehnend, von Kopf bis Fuß schwarz
gekleidet.
Arthur Scorpio hatte Vorsichtsmaßnahmen
getroffen.
Irgendwo dort draußen ist jemand.
Reacher blickte sich in dem Raum um. Und
entdeckte den Typen, den er letzte Nacht
in dem Spätverkauf gesehen hatte. In dem dunklen Anzug mit
Krawatte. Er saß an dem Tisch unter dem Fenster und schaute
hinaus.
Detective Gloria Nakamura wiederholte, was
sie am Tag zuvor getan hatte: Sie stand vor Tagesanbruch auf,
duschte, zog sich an, frühstückte und war eine Stunde früher als
sonst unterwegs. Aber noch nicht zum Dienst. Sie parkte an
derselben Stelle, bog auf Scorpios Straße ab und wurde auf der
gesamten Strecke von dem Kerl am Eingang des Waschsalons
beobachtet. Bis sie den Coffeeshop betrat.
Ihr Tisch war besetzt. Schon wieder. Dort
saß der Kerl von gestern; Bramall,
Terrence, Privatdetektiv, Chicago . Im selben dunklen Anzug,
aber mit frischem Hemd und neuer Krawatte.
Und mitten im Lokal stand Bigfoot.
Ganz ohne Zweifel. Der Mann war riesig. Über
zwei Meter groß. Reichte fast bis zur Decke. Und er war
breit . Wie vier Basketbälle
nebeneinander auf einem Regal in der Turnhalle ihrer Highschool. Er
hatte Fäuste wie Thanksgiving-Truthähne. Zu einer Arbeitshose aus
Baumwollgewebe trug er ein schwarzes T-Shirt in Größe XXXL . Seine muskulösen Unterarme waren mit
Narben übersät. Sein Haar wirkte zerzaust, als hätte er es trocken
frottiert, aber nicht gekämmt. Als besäße er gar keinen Kamm. Er
hatte einen Fünftagebart. Sein Gesicht bestand ganz aus Knochen und
Bartstoppeln. Seine Augen waren blassblau wie ihr Chevy, und er
musterte sie interessiert.
Reacher sah eine zierliche Asiatin, die ihr
schwarzes Kostüm wie eine Uniform trug. Wenig über einen Meter
fünfzig groß, höchstens fünfundvierzig Kilo. Geschätzte dreißig.
Langes schwarzes Haar, große dunkle Augen, bildhübsch. Aber kein
Lächeln. Stattdessen eine ernste Miene, als wäre sie mit einem
wichtigen Auftrag unterwegs. Als müsste sie ernst bleiben, um ihre
Position zu behaupten. Was vermutlich stimmte, wenn man mit einem
Meter fünfzig und fünfundvierzig Kilo ins Rennen ging. Aber sie war
jedenfalls nicht schüchtern, sondern taxierte Reacher ebenso offen
wie er sie. In ihrem Blick lag eine Art Erkennen, das er nicht
verstand. Nicht sofort. Er wusste ziemlich sicher, dass er sie noch
nie gesehen hatte. Daran hätte er sich erinnert. Dann wurde ihm
klar, dass Jimmy Rat eine
Personenbeschreibung mitgeliefert haben musste. In seinem
Alibianruf bei Arthur Scorpio. Ein
riesiger Kerl in einem schwarzen T-Shirt ist nach
RC unterwegs . Vielleicht arbeitete die Asiatin
für Scorpio. Vielleicht war sie vor ihm gewarnt worden.
Oder vielleicht war sie nur eine
Büroangestellte, die missmutig war, weil sie so früh zur Arbeit
musste.
Er sah weg.
Der Typ mit der Krawatte starrte weiter aus
dem Fenster. Sein Gesichtsausdruck war beherrscht und geduldig. Und
vernünftig. Er sah aus wie ein Mann, der auf jede berechtigte Frage
höflich antworten würde. Aber vielleicht nur als professionelle
Tünche. Als stammte er aus einer Hierarchie, in der altväterliche
Höflichkeit das Räderwerk schmierte. Er erinnerte Reacher an
Colonels, die er in der Army gekannt hatte. Kompakt, zurückhaltend,
ein bisschen grau und staubig, aber von stiller innerer Energie und
Selbstbewusstsein angetrieben.
Reacher entschied sich für einen Tisch an
der Wand, von dem aus er über den Kopf des Kerls hinweg aus dem
Fenster sehen konnte. Draußen tat sich nichts. Der Aufpasser lehnte
weiter neben dem Eingang des Waschsalons. Drinnen brannte jetzt
Licht, aber es waren noch keine Kundinnen da.
Als die Bedienung auftauchte, bestellte
Reacher sein Standardfrühstück: Kaffee und einen kleinen Stapel
Pfannkuchen mit Rührei, Bacon und Ahornsirup. Der Kaffee kam
zuerst. Schwarz, frisch, heiß und stark. Ziemlich gut.
Die Asiatin nahm an seinem Tisch
Platz.
Sie zog ein kleines Kunststoffetui aus ihrer
Umhängetasche, klappte es auf und hielt es ihm hin. Links war eine
goldene Plakette eingeschweißt. Hinter dem Klarsichtfenster rechts
steckte ein Dienstausweis mit Foto. Nakamura, Gloria, Detective, Rapid City Police
Department . Dunkle Augen, ernster Gesichtsausdruck.
Sie fragte: »Waren Sie gestern in
Wisconsin?«
Das bewies Reacher, dass Jimmy Rat wirklich
hier angerufen hatte und die hiesige Polizei Scorpios Telefon
abhörte. Was wiederum bedeutete, dass aktiv gegen ihn ermittelt
wurde. Die Mitschrift von Jimmy Rats Anruf bildete vermutlich schon
das oberste Blatt einer dicken Akte.
Laut sagte er jedoch: »Dürfen Sie diese
Frage selbst als Cop stellen? Ich habe ein Recht auf Privatleben
und das Recht, mich frei zu bewegen. Da greift der Erste
Verfassungszusatz. Und der Vierte.«
»Weigern Sie sich, meine Frage
zu beantworten?«
»Das kann ich nicht, fürchte ich. Ich war in
der Army. Ich habe geschworen, die Verfassung zu schützen. Kann
jetzt keinen Rückzieher machen.«
»Wie heißen Sie?«
»Reacher. Vorname Jack. Kein zweiter
Vorname.«
»Was haben Sie in der Army gemacht, Mr.
Reacher?«
»Ich war Militärpolizist. Kriminalbeamter
wie Sie.«
»Und jetzt sind Sie Privatdetektiv?«
Während sie das sagte, sah sie unwillkürlich
zu dem Mann im Anzug hinüber.
Reacher fragte sie: »Ist er ein Privatdetektiv?«
Sie antwortete: »Kein Kommentar.«
Er grinste.
Dann sagte er: »Ich bin kein Privatdetektiv.
Nur ein Privatmann. Was haben Sie aus Wisconsin erfahren?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen
darf.«
»Von Cop zu Cop. Das sind wir
nämlich.«
»Glauben Sie?«
»Wenn Sie’s wollen.«
Sie steckte das Etui wieder in ihre Tasche,
zog ihr Smartphone heraus und rief den Ordner mit Tonaufnahmen auf.
Sie wählte eine aus und drückte auf PLAY . Reacher hörte verzerrte
Hintergrundgeräusche aus einer Bar, dann eine Stimme, die er sofort
erkannte. Jimmy Rat sprach schnell und nervös. Er sagte: »Arthur,
ich bin’s, Jimmy. Bei mir war gerade ein Kerl, der nach etwas
gefragt hat, das du mir verkauft hast. Er legt es anscheinend
darauf an, die Lieferkette zurückzuverfolgen. Ich hab ihm nichts
erzählt, aber er hat schon mich irgendwie gefunden, also denke ich,
dass er vielleicht auch dich irgendwie findet.«
Nakamura berührte das Pause-Symbol.
Reacher fragte: »Wieso sollte ich das
sein?«
Sie drückte wieder auf PLAY .
Jimmy Rat sagte: »Tut er’s, solltest du ihn
ernst nehmen. Das empfehle ich dir dringend. Dieser Kerl ist wie
Bigfoot aus den Wäldern. Sieh dich vor, okay?«
Nakamura drückte auf STOPP .
»Bigfoot?«, fragte Reacher. »Das ist nicht
sehr nett.«
Sie fragte: »Was hat er
gekauft?«
»Ist das wichtig? Ich will Scorpio nur eine
Frage stellen. Dann bin ich wieder weg.«
»Was ist, wenn er nicht antwortet?«
»Jimmy in Wisconsin hat’s getan.«
»Scorpio hat Leute, die ihn
beschützen.«
»Die hatte Jimmy in Wisconsin auch.«
»Was hat er gekauft?«, wiederholte
Nakamura.
Reacher griff in eine Jeanstasche und holte
den Ring heraus. West Point 2005 .
Die goldene Filigranarbeit, der schwarze Stein, die winzige Größe.
Er legte ihn auf den Tisch. Nakamura griff danach. Sie steckte ihn
an ihren rechten Ringfinger. Er passte gut, saß sogar locker.
Andererseits war sie winzig, wog keine fünfzig Kilo, ihre Finger
waren bleistiftdünn.
Sie zog den Ring wieder ab. Wog ihn prüfend
in der Hand. Sie las die innen eingravierten Initialen und fragte:
»Wer ist S.R.S?«
»Keine Ahnung«, sagte Reacher.
»Wie sind Sie zu dem Ring gekommen?«
»Ich habe ihn in einer Kleinstadt in
Wisconsin in der Auslage eines Pfandhauses entdeckt. Ein Stück
dieser Art gibt man nicht leicht weg. Diese Frau musste vier Jahre
durchhalten, um ihn zu bekommen. Alle haben jeden Tag versucht, sie
zum Aufgeben zu bewegen. So funktioniert West Point. Und 9/11 war
gerade erst passiert. Das waren schlimme Zeiten. Und danach ist’s
noch schlimmer geworden: Irak und Afghanistan. Sie hätte vielleicht
ihr Auto oder ihre goldene Uhr – ein Weihnachtsgeschenk ihrer Tante
– verkauft, aber niemals ihren West-Point-Ring.«
»Gehört diesem Jimmy das Pfandhaus?«
Reacher schüttelte den Kopf. »Er ist ein
dortiger Biker. Als Jimmy Rat bekannt. Er hat diesen Ring mit
weiteren Schmuckstücken im Paket verkauft. Mir erzählte er, dass er
ihn von Arthur Scorpio hier in Rapid City bezogen hat. Also will
ich jetzt wissen, woher Scorpio ihn hatte. Das ist die einzige
Frage, die ich ihm stellen will.«
»Er wird’s Ihnen nicht sagen.«
»Von Jimmy Rat hat der Pfandleiher das auch
behauptet.«
Nakamura äußerte sich nicht dazu. Draußen
vor dem Fenster passierte nichts. Die Bedienung servierte Reachers
Frühstück: Pfannkuchen, Rührei, Bacon, Ahornsirup. Es sah gut aus.
Er ließ sich Kaffee nachschenken. Nakamura bestellte Tee und einen
Vollkornmuffin.
Reacher steckte den Ring wieder
ein.
Der Kerl mit der Krawatte stand auf und
ging.
Draußen passierte noch immer nichts.
Reacher fragte: »Was für eine Art
Privatdetektiv ist er?«
Nakamura sagte: »Er hat nicht zugegeben,
einer zu sein.«
»Ich habe Ihnen viel erzählt. Jetzt sind Sie
an der Reihe.«
Die Bedienung brachte Nakamuras Tee und
Muffin. Er war ungefähr so groß wie ihr Kopf. Sie brach ein
erbsengroßes Stück davon ab und steckte es in den Mund.
Sie sagte: »Er ist aus Chicago. Er heißt
Terry Bramall und war früher beim FBI . Er spürt Vermisste auf.«
»Weswegen ist er hier?«
»Weiß ich nicht.«
»Ist Scorpio auch ein Entführer?«
»Nicht dass wir wüssten.«
»Trotzdem beobachtet Mr. Bramall aus Chicago
seinen Waschsalon. Nicht nur heute Morgen. Er war letzte Nacht auch
hier in der Gegend. Ich hab ihn in dem Spätverkauf gesehen.«
»Sie sind gestern Abend eingetroffen?«
Reacher nickte. »Ziemlich spät.«
»Sie sind geradewegs aus Wisconsin
angereist. Diese Sache scheint Ihnen wichtig zu sein.«
»Ich hätte früher da sein können. Ich habe
in Sioux Falls ein Nickerchen gemacht.«
»Wie haben Sie Arthur Scorpios Namen aus
Jimmy Rat rausgekriegt?«
»Ich hab ihn höflich gefragt.«
Sie äußerte sich nicht dazu. Reacher
frühstückte weiter. Sie trank einen kleinen Schluck Tee. Danach
entstand eine lange Pause.
Dann erklärte sie: »Arthur Scorpio ist bei
der Polizei nicht sehr beliebt.«
»Verstanden«, sagte Reacher.
»Trotzdem bin ich verpflichtet, Sie
offiziell davor zu warnen, in unserem Zuständigkeitsbereich eine
Straftat zu begehen.«
»Keine Sorge«, entgegnete er. »Ich will ihm
nur eine Frage stellen. Das ist nicht verboten.«
»Und wenn er die Antwort verweigert?«
»Theoretisch ist das immer möglich, denke
ich«, sagte Reacher.
Sie nahm eine Geschäftskarte aus ihrer
Umhängetasche. Legte sie neben seine
Kaffeetasse auf den Tisch und sagte: »Hier sind meine Nummern.
Dienstlich und privat. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas zu
besprechen haben. Scorpio ist ein gefährlicher Mann. Das dürfen Sie
nie vergessen.«
Sie legte fünf Bucks auf den Tisch. Für
ihren Tee und den Muffin. Dann stand sie auf und ging. Zur Tür
hinaus, den Gehsteig entlang, außer Sicht.
Draußen passierte weiter nichts.
Sie hatte ihren Muffin liegen lassen.
Praktisch unberührt bis auf das verspeiste erbsengroße Stück. Also
aß Reacher den Rest bei einer dritten Tasse Kaffee auf. Dann zahlte
er und ließ sich eine Handvoll Quarter als Wechselgeld geben. Damit
ging er in den Korridor vor den Toiletten, in dem ein Münztelefon
an der Wand hing. Genau wie in der Bar in Wisconsin. Von dem aus
Jimmy Rat auf Arthur Scorpios Mailbox gesprochen hatte. Das
bewiesen die Hintergrundgeräusche. Reacher hatte beobachtet, wie
der Kerl um die Bikes herum zur Rückseite des Gebäudes gegangen
war, wo er den Hintereingang benutzt und das Telefon gesehen haben
musste, worauf er wohl beschlossen hatte, Scorpio auf der Stelle zu
warnen. Sofort. Als Reacher noch draußen war, noch mit dem County
Cop sprach.
Er hatte es verdammt eilig gehabt.
Reacher lehnte an der Wand, von der aus er
die Straße vor dem Fenster im Auge behalten konnte, und wählte
dieselbe alte Nummer, die er noch auswendig wusste.
Dieselbe Frau meldete sich.
»West Point», sagte sie. »Büro des
Superintendenten. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Reacher«, sagte er.
»Augenblick, bitte, Major.«
Sie kannte seinen Dienstgrad. Sie hatte
seine Akte gelesen. Er hörte ein Klicken, dann folgte eine lange
Pause, bis es wieder klickte und eine Männerstimme sagte: »Hier ist
der Super.«
Der Superintendent. Der große Boss. Was in
anderen Colleges der Präsident war.
»Guten Morgen, General«, sagte Reacher
höflich, aber vage, weil er den Namen des Mannes nicht kannte. Er
gehörte nicht zu den Absolventen, die noch engen Kontakt zu West
Point hielten. Aber der Super war immer ein General. Im Allgemeinen
gebildet und kultiviert, manchmal ein Neuerer, nie ein Schwächling.
Der Mann sagte: »Ihre gestrige Anfrage war
höchst irregulär.«
»Ja, Sir«, sagte Reacher rein aus
Gewohnheit. In solchen Situationen waren in West Point nur drei
Antworten zulässig; Ja, Sir; nein, Sir; keine Entschuldigung,
Sir.
Der Mann sagte: »Ich möchte eine Erklärung
dafür.«
Also erzählte Reacher ihm dieselbe Story wie
zuvor Nakamura: von dem Pfandhaus und dem Ring, von seiner Sorge,
die ihn nicht mehr losgelassen hatte.
Der Superintendent sagte: »Hier geht’s also
um einen Ring.«
»Er ist mir wichtig erschienen.«
»Gestern haben Sie angedeutet, die ehemalige
Kadettin könnte in Gefahr sein.«
»Das wäre möglich.«
»Aber Sie wissen nichts Bestimmtes.«
»Sie hat ihren Ring versetzt oder verkauft.
Oder er ist ihr gestohlen worden. Das lässt alles auf ein Unglück
schließen. Ich finde, wir sollten uns darum kümmern.«
»Wir?«
»Sie ist eine der Unseren, General.«
Der Mann sagte: »Ich habe Ihre Akte gelesen.
Sie waren ein guter Offizier. Nicht gut genug, um eine Statue auf
dem Campus zu bekommen, die Sie ohnehin nicht bekommen hätten, vor
allem nicht wegen der vielen Eigenmächtigkeiten, die Sie sich
herausgenommen haben.«
»Keine Entschuldigung, Sir«, entgegnete
Reacher rein aus Gewohnheit.
»Ich habe eine Frage, die auf der Hand
liegt. Was machen Sie heutzutage?«
»Nichts.«
»Was soll das heißen?«
»Das wäre eine lange Geschichte, General. So
viel Zeit sollten wir uns nicht nehmen.«
»Major, Ihnen ist sicher klar, dass alle
möglichen Bestimmungen die Weitergabe persönlicher Daten von
gegenwärtigen oder früheren Militärangehörigen strikt verbieten.
Die einzige Möglichkeit wäre eine streng geheime, inoffizielle
geflüsterte Mitteilung unter West Pointern. Rein als Gefälligkeit.
Genau der eichengetäfelte Bullshit, der uns oft vorgeworfen wird.
Deshalb stellt sich für Sie und mich natürlich die Vertrauensfrage.
Die für Sie vermutlich weniger wichtig
ist als für mich. Sie könnten mich beruhigen, indem Sie mir eine
Einschätzung ermöglichen.«
Reacher antwortete nicht gleich.
»Ich bin ruhelos«, sagte er dann. »Ich halte
es nicht lange an einem Ort aus. Ließe man ihr genug Zeit, könnte
die Veteranenbehörde bestimmt eine Diagnose stellen. Vielleicht
bekäme ich dann einen Scheck vom Staat.«
»Ist das eine Krankheit?«
»Manche würden das so sehen.«
»Leiden Sie darunter?«
»Tatsächlich will ich ohnehin nie lange an
einem Ort bleiben.«
»Wie häufig sind Sie unterwegs?«
»Ständig.«
»Halten Sie das für eine Lebensweise, die
für einen West Pointer passend ist?«
»Ich denke, dass sie sehr passend
ist.«
»In welcher Beziehung.«
»Wir haben für die Freiheit gekämpft. So
sieht wahre Freiheit aus.«
Der Mann sagte: »Es gibt hundert Gründe
dafür, einen Ring zu verkaufen. Oder ihn zu verpfänden. Oder ihn zu
verlieren, ihn sich stehlen zu lassen. Nicht alle Gründe sind
schlimm. Diese Sache könnte völlig harmlos sein.«
»Könnte? Das ist etwas lauwarm, General. Als
ob Sie’s nicht genau wüssten. Selbst nachdem Sie ihre Akte gelesen
haben. Die Sie nicht ganz beruhigt haben kann. Daher sprechen Sie
jetzt in Andeutungen von einem Flüstern. Weil Sie besorgt sind.
Lassen Sie mich also raten. Sie hat die grüne Uniform ausgezogen
und lebt jetzt unter dem Radar.«
»Seit drei Jahren.«
»Und davor?«
»Fünf schwere Kampfeinsätze im Irak und in
Afghanistan.«
»Wo sie was gemacht hat?«
»Vermutlich unangenehme Dinge.«
»Ist sie klein?«
»Wie ein Spatz.«
»Das ist sie«, sagte Reacher. »Jetzt müssen
Sie sich entscheiden, General. Was wollen Sie tun?«
Der Superintendent gab keine Antwort.
Durchs Fenster sah Reacher eine schwarze
Limousine langsamer werden. Sie hielt am
gegenüberliegenden Randstein. Vor dem Waschsalon. Die Fahrertür
wurde geöffnet – ein Kerl stieg aus. Er war groß und knochig.
Schätzungsweise um die fünfzig. Sein graues Haar war kurz
geschnitten. Er trug einen schwarzen Anzug mit bis obenhin
zugeknöpftem weißem Hemd, aber ohne Krawatte. Er blieb einen
Augenblick auf dem Gehsteig stehen und sah den Wachposten fragend
an, der den Kopf schüttelte, als wollte er sagen: Nichts passiert, Boss .
Arthur Scorpio.
Der dem Mann zunickte, an ihm vorbeiging und
im Waschsalon verschwand.
Der Wachposten setzte sich in Bewegung, ging
um Scorpios Wagen herum und nahm hinter dem Steuer Platz. Er fuhr
damit weg. Vermutlich sollte er ihn parken. Auf einer Seitenstraße
oder in der Zufahrt. Also würde er fünf Minuten lang fort sein. Und
abends vermutlich noch mal. Wenn er den Wagen wieder holte. Zwei
fünfminütige Zeitfenster pro Tag.
Gut zu wissen.
Im Telefonhörer hörte er den Super von West
Point sagen: »Vielleicht will sie nicht gefunden werden. Haben Sie
sich das schon mal überlegt? Keiner kommt heil zurück. Nicht nach
fünf Kampfeinsätzen.«
»Ich versuche nicht, ihr eine Ferienwohnung
in Mexiko anzudrehen. Scheint aus der Ferne alles in Ordnung zu
sein, verschwinde ich und lasse sie in Ruhe.«
»Wie wollen Sie sie überhaupt finden? Sie
lebt unter dem Radar. Hilft ihr Name Ihnen überhaupt weiter?«
»Schaden kann er nicht«, meinte Reacher.
»Vor allem in der Schlussphase nicht. Ich verfolge die Spur des
Rings, bis ich jemanden finde, der von ihr gehört hat.«
Der Super sagte: »Sie heißt Serena Rose
Sanderson.«