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Der alte Mann in dem alten Postamt hatte
gesagt, Porterfield habe in einem Blockhaus in den Hügeln, etwa
zwanzig Meilen auf der unbefestigten Straße, auf einer der
ehemaligen Ranches gelebt, die Reacher im Atlas der Universität of
Wyoming hinter Weidezäunen dünn wie ein Strich auf einem
Hundertdollarschein eingezeichnet gesehen hatte. Das Navi von
Bramalls Land Cruiser zeigte die unbefestigte Straße, aber sonst
nicht viel. Also fuhren sie nach Westen und zählten dabei die
Meilen. Der SUV war so proper und
kompetent wie Bramall selbst. Er schwebte über alle Unebenheiten
der Straße hinweg und machte den Eindruck, unendlich weit fahren zu
können.
Reacher fragte: »Wann haben die Schwestern
sich zuletzt gesehen?«
Bramall antwortete: »Vor sieben Jahren. Nach
Sandersons drittem Auslandseinsatz. Der Besuch war kein großer
Erfolg. Danach haben sie nur noch miteinander telefoniert.«
»Sanderson ist irgendwann verwundet
worden.«
»Das wusste ich nicht. Das hat Mrs.
Mackenzie nie erwähnt.«
»Vielleicht hat sie es nicht erfahren, weil
Sanderson es ihr nicht erzählt hat.«
»Wieso nicht?«
»Das kommt häufig vor. Die Dynamik ist sehr
komplex. Wahrscheinlich wollte sie ihre Familie nicht beunruhigen.
Oder irgendwie beeinträchtigt wirken. Oder schwach. Oder den
Eindruck erwecken, um Mitleid zu betteln. Oder um Hilfe. Oder um
›Ich-hab’s-dir-gesagt‹-Kommentare zu vermeiden. Ihre Schwester mag
die Army nicht, vermute ich.«
»Wie schwer verwundet?«
»Keine Ahnung«, sagte Reacher. »Ich weiß
nur, dass sie ein Purple Heart bekommen hat. Dahinter kann von
einem Kratzer bis zum Verlust mehrerer Gliedmaßen alles stehen.
Manche Leute kommen schrecklich entstellt zurück.«
Der Meilenzähler stand bei acht. Bramall
machte eine lange Pause, dann fragte er: »Wollen Sie die Sache
wirklich durchziehen? Ich glaube nicht,
dass sie gut ausgehen kann. Sanderson ist ein Wrack oder ein Junkie
oder beides. Vielleicht will sie nicht gefunden werden.«
»Dann lasse ich sie einfach in Ruhe. Ich
versuche nicht, die Welt zu retten. Ich will’s nur wissen.«
Zehn Meilen abgespult. Auf beiden
Straßenseiten wurde das Gelände höher. Die Ausläufer des Gebirges
bildeten Grate und Einschnitte, zwischen denen Waldzungen bis über
die Straße ausgriffen. Der weite Himmel war unbeschreiblich blau:
am Horizont wie ein Saphir, über ihnen dunkelblau. Wie auf einem
Kodakfoto. Wie der Rand der Erdatmosphäre. Der Wind nahm etwas zu.
Die Staubfahne hinter ihnen trieb nach Süden ab.
»Und dazu noch eine posttraumatische
Belastungsstörung«, sagte Bramall. »Mit der kommen wohl alle
zurück.«
»Vermutlich«, sagte Reacher.
Vierzehn Meilen. Auf felsigen Hängen
leuchteten Espenhaine wie Farbkleckse. Ganze Wäldchen mit Hunderten
von Bäumen, die jedoch eine gemeinsame Wurzel hatten. Jeder
Espenwald war ein einziger Organismus. Die größten Lebewesen der
Erde.
Bramall fragte: »Hat der Kerl zwanzig Meilen
bis zu dem Haus oder zwanzig Meilen bis zu seiner Zufahrt
gemeint?«
»Bis zur Zufahrt«, antwortete Reacher.
»Vermutlich. So war’s bei Billys Haus. Nur hat er sich verschätzt.
Es waren zwanzig Prozent zu wenig.«
»Die zwanzig Meilen könnten also auch
fünfundzwanzig sein.«
»Außer er schätzt manchmal auch zu hoch.
Vielleicht neigt der Mann allgemein zu Ungenauigkeit, willkürlich
und auf allen Ebenen. Dann könnten seine zwanzig Meilen sechzehn
sein. Was ein neun Meilen großes Fenster öffnen würde.«
»Dann müssten wir logischerweise die erste
Zufahrt nehmen, die wir sehen. Meilenweit gibt es vermutlich keine
zweite. Wir sind hier in Wyoming. Deshalb ist die erste Zufahrt
wohl unsere, unabhängig davon, wie früh oder spät sie kommt.«
»Fürs FBI
nicht schlecht«, sagte Reacher.
Die Zufahrt tauchte exakt in der Mitte der
neun Meilen langen Strecke auf, fast genau zwanzig Meilen von dem
Postamt entfernt. Ein Punkt für den alten Mann. Sie führte rechts
der Straße unter einem hohen Ranchtor hindurch, auf dem ein Name
stand, der so verwittert war, dass Reacher ihn nicht lesen konnte. Die Zufahrt führte knapp
eine Meile weit nach Norden, bevor sie nach Westen abknickte und
steiler ansteigend zwischen Bäumen verschwand, sodass nicht zu
erkennen war, wo sie endete.
Bramall hielt an.
Er sagte: »Aus meiner Sicht ist diese Sache
völlig normal. Ich fahre vor Hunderten von Häusern vor. Manchmal
gibt es Gebrüll, manchmal auch Hunde, aber bisher hat noch niemand
auf mich geschossen. Wir sollten darüber reden, was sich Ihrer
Ansicht nach daran ändern kann, wenn ich mit Ihnen auf dem
Beifahrersitz aufkreuze.«
»Soll ich aussteigen und zu Fuß gehen?«,
fragte Reacher. »Fühlen Sie sich dann sicherer?«
»Dies ist eine taktische Diskussion.
Schlimmstenfalls hat Billy nicht nur Porterfields Geschäft, sondern
auch sein Haus übernommen und hält sich jetzt dort auf. Schließlich
war er nicht in seinem Haus.«
»Wozu würde er zwei Häuser wollen?«
»Manchen Leuten gefällt das.«
»Nicht zwanzig Meilen entfernt. Sie haben
ein Wochenendhaus am See.«
»Es hat keine Erben oder Verwandten gegeben.
Warum sollte Billy es sich nicht aneignen?«
»Ob er’s getan hat, spielt keine Rolle. Ob
er jetzt dort ist, auch nicht. Er hat Scorpios Nachricht bisher
nicht gehört. Also weiß er nicht, wer ich bin. Er wird uns für
Mormonen halten, die missionieren wollen.«
»Sie sind nicht wie ein Mormone
angezogen.«
»Dann gehen Sie allein hin und klopfen an
seine Haustür. Für alle Fälle. Ist er da, erzählen Sie ihm, dass
Sie ein Mormone sind, der zufällig auch im Schneepfluggeschäft
tätig ist und mit ihm über eine Versicherung gegen die Erderwärmung
reden möchte.«
Der SUV fuhr
weiter. Die Zufahrt führte fünf Meilen weit durch die bewaldeten
Hügel, immer unwegsam, oft als tiefe Fahrspur, dann wieder über
Geröll und tischgroße Felsplatten. Der Land Cruiser holperte und
schwankte, ackerte jedoch unbeirrbar weiter. Bis durch die letzte
Kurve, dann ein kurzes Steilstück hinauf zu einem stadiongroßen
Plateau mit vielen Bäumen, außer im hinteren Drittel der Fläche, wo
das ehemalige Ranchhaus stand. Es war ein langes, niedriges
Blockhaus mit breiten Veranden auf allen Seiten mitten auf einem
planierten halben Hektar und hinter einem lockeren Zaun aus
Holzpfosten und Planken, die von Wind und Wetter krumm und grau
aussahen. Bramall fuhr hin und parkte in respektvollem Abstand vor dem Gebäude. Am
Verandageländer rechts und links des Eingangs hingen noch Reste des
Flatterbands einer Polizeiabsperrung. Als wäre das Ranchhaus damals
vollständig abgeriegelt gewesen.
»Dies war kein Tatort«, sagte Bramall. »Der
Kerl ist im Wald gestorben.«
»Er ist im Wald aufgefunden worden«,
entgegnete Reacher. »Vielleicht hat der Sheriff geglaubt, das sei
etwas völlig anderes. Wir wissen, dass er das Haus durchsucht hat.
Er hat ein Auto mit vielen Meilen auf dem Tacho und im
Kleiderschrank zehn Mille gefunden.«
»Wo ist Billy jetzt?«
»Wieso machen Sie sich seinetwegen
Sorgen?«
»Das tue ich nicht. Aber Sie sollten’s tun. Scorpio hat einen Mord
befohlen.«
»Aber nicht hier. Wie wahrscheinlich wäre
das? Außerdem hat er die Nachricht noch nicht abgehört. Er weiß
nicht, dass Scorpio mir den Namen Porterfield genannt hat. Wozu
sollte er hier rausgefahren sein? Wie wahrscheinlich war, dass wir
dieses Haus überhaupt finden würden? Wer konnte ahnen, dass der
alte Kerl im Postamt so gut Entfernungen schätzen kann? Nein, Billy
ist anderswo, und dieses Haus ist leer.«
»Okay«, sagte Bramall.
Er stieg aus und ging los, um an der Haustür
zu klopfen.
Mit zielbewusstem Schritt.
Reacher sah ihn anklopfen und hörte das
Geräusch, laut und deutlich, wegen der Entfernung kaum merklich
verzögert wie eine nicht ganz synchrone Filmtonspur.
Er verfolgte, wie Bramall höflich einen
Schritt zurücktrat.
Niemand kam an die Tür.
Nirgends eine Bewegung.
Bramall klopfte nochmals an.
Wieder keine Reaktion.
Er kam zurück, stieg wieder ein und sagte:
»Dieses Haus ist leer.«
Reacher fragte: »Was halten Sie davon, wenn
wir uns drinnen umsehen?«
»Hier ist alles abgeschlossen.«
»Wir könnten ein Fenster einschlagen.«
»Juristisch müssen wir uns fragen, ob es
jetzt vielleicht dem County gehört. Was womöglich der Fall sein
könnte. Wegen der unbezahlten Steuern. In Eigentum des Countys
einzubrechen wäre riskant. Mit Behörden
legt man sich lieber nicht an.«
»Vielleicht haben Sie etwas Verdächtiges
gerochen oder geglaubt, etwas gehört zu haben. Vielleicht einen
Hilfeschrei. Etwas, das eine Durchsuchung ohne richterliche
Anordnung rechtfertigen würde. Haben Sie was gehört?«
»Nein«, sagte Bramall.
»Sie sind pensioniert«, erklärte Reacher.
»Sie brauchen sich nicht mehr an den FBI -Bullshit zu halten.«
»Wie würde die Army vorgehen? Das Haus in
Brand stecken?«
»Nein, so würde das Marine Corps handeln.
Die Army würde das Äußere des Hauses sorgfältig absuchen und durch
einen glücklichen Zufall eine Fensterscheibe entdecken, die
Unbekannte zuvor eingeschlagen haben – vielleicht vor langer Zeit
oder erst kürzlich, was eine kritische Situation im Hausinneren
nahelegt, die wiederum eine gründliche Durchsuchung rechtfertigt.
Ich glaube nicht, dass der Oberste Gerichtshof das verurteilen
würde.«
»Vor Kurzem eingeschlagen oder vor langer
Zeit?«
»Was Sie dann in Echtzeit hören, bin ich,
wenn ich versehentlich auf Glasscherben trete, die seit dem Vorfall
mit den Unbekannten auf der Veranda herumliegen. Das klingt so
ähnlich, als schlüge jemand eine Fensterscheibe ein. Eine häufige
Täuschung.«
»Das ist auch ein Standardtrick beim
FBI . Wir haben nicht nur Mist
gemacht.«
»Einige Ihrer Kerle sind zur Ausbildung zu
uns gekommen.«
»Und einige Ihrer Leute zu uns.«
»Ich durchsuche jetzt das Haus sorgfältig«,
sagte Reacher und stieg aus.