36
Stackley sah die Cowboys zurücktreten. Er erkannte sie vom Vortag wieder. Dieselben drei Kerle. Teils machten sie ihm Platz, teils bildeten sie eine Art Begrüßungskomitee oder Ehrengarde. Im Innersten genoss Stackley seine Rolle als Dealer. Die Kunden waren immer scheißfreundlich und dankbar. Nicht wie bei manchen anderen Jobs, die er gehabt hatte.
Dann entdeckte er hinter den Cowboys den staubigen schwarzen Toyota. Übergroß. Genau der Truck, dessentwegen er Scorpio angerufen hatte: Er hatte beschrieben, wie er schräg am Straßenrand parkte wie ein Cop – mit zwei Männern und einer Frau besetzt, die herumfragten, wie die Leute sagten. Einer der Kerle war riesig.
Stackley hatte seine Beobachtung gemeldet und klare Anweisungen erhalten.
Er schaute zum Haus. Alles still. Die Tür war geschlossen.
Er schaute nach rechts zum Waldrand.
Nichts Verdächtiges.
Er schaute nach links, suchte die Felsen am Rand der Schlucht ab.
Dort saßen drei Leute auf Felsblöcken.
Ein alter Mann im Anzug.
Eine schöne Frau.
Und ein riesiger Kerl.
Stackley hielt auf der freien Fläche vor dem Haus. Nach kurzem Zögern stellte er den Motor ab. Er stieg aus und ging mit den begierigen Cowboys nach hinten zur Tür des Campingaufbaus. Wo er etwas tat, was er sonst nie machte. Er ließ sie hineinsehen. Er zog die Decke wie aus Versehen etwas zu weit weg, sodass die Kartons zu erkennen waren. Dutzende von Kartons, viele noch in Schrumpffolie, manche geöffnet, aber noch ziemlich voll, alle weiß und sauber und mit amerikanischen Firmennamen bedruckt. Hinter seiner Schulter hörte er aufgeregtes Flüstern, was gut war. Seine neuen Kumpel sollten genau wissen, was er anzubieten hatte.
Er holte sie heran und setzte ihnen auseinander, was sie für ihn tun konnten – und er im Gegenzug für sie. Delegieren. Die Regel Nummer eins im modernen Geschäftsleben. Vor allem bei einem Kerl, der so riesig war.
Reacher beobachtete, wie sie hinter dem Truck zusammenstanden und alle hineinblickten. Vielleicht um die Ware zu begutachten. Sie schienen mit der Qualität oder der Menge oder beidem zufrieden zu sein. Sie erinnerten Reacher an seine Mutter, wie sie vor vielen Jahren mit anderen Soldatenfrauen am Randstein gestanden hatte, wenn der Fischhändler vorbeigekommen war. Dann versammelte Stackley sie enger um sich und begann ein großes Palaver. Vielleicht ging es um den Preis. Auf unterschiedliche Weise für alle wichtig.
Mackenzie sagte: »Rose kommt nicht aus dem Haus. Ich denke, dass ihre Freunde für sie einkaufen. Vielleicht haben sie das immer getan. Das würde bedeuten, dass Billy sie nie gesehen hat. Er hätte uns ohnehin nicht geholfen.«
Reacher sagte: »Wir müssen über Billy reden.«
»Warum?«
»Das System hat ihn vereinnahmt. Der Boy Detective hat schon einmal mit ihm gesprochen.«
»Er leugnet alles.«
»Auf ewig?«
»Ich setze voraus, dass Bramall und Sie nur im Scherz von Gummischläuchen und Schlagstöcken gesprochen haben.«
»Er lässt sich auf einen Deal ein. Oder er verrät alles aus Versehen. Er weiß nicht, welche Puzzleteile noch fehlen. Früher oder später sagt er genau das Falsche. Wir sollten davon ausgehen, dass die Uhr bereits tickt. Vielleicht sollten wir schon früher von hier verschwinden. Zwecklos, noch in der Gegend zu sein, wenn der Nachschub versiegt. Noch zweckloser, wenn die Feds aufkreuzen. Ich weiß, wie schwierig das für Sie beide ist, aber diese neuen Probleme würden alles noch viel schwieriger machen.«
»Sie halten einen Monat für unrealistisch?«
Reacher verfolgte, wie hinter dem verbeulten Truck mit Campingaufbau Geld den Besitzer wechselte.
Er sagte: »Ich denke, wir sollten versuchen, alles ein bisschen zu beschleunigen.«
Er sah, wie kleine weiße Kartons dafür in Gegenrichtung wanderten.
»Wie sehr beschleunigen?«, fragte Mackenzie.
»Ich habe Mr. Bramall gesagt, dass mein Instinkt mir rät, in zwei bis drei Tagen die Kurve zu kratzen.«
»Unmöglich!«
»Wie bald können Sie’s schaffen?«
Der Motor des Pick-ups sprang an. Der Truck wendete und fuhr die Zufahrt hinunter davon. Die Cowboys trugen die kleinen weißen Kartons zum Haus. Die Hälfte davon stapelten sie auf der Veranda neben der Haustür. Die andere Hälfte nahmen sie auf einem Fußweg mit, der sich neben dem Haus durch den Wald schlängelte.
»Es geht darum, den richtigen Arzt zu finden«, sagte Mackenzie. »Sie kann ohne dieses Zeug nicht leben.«
»Fragen Sie Ihre Nachbarn zu Hause.«
»Die kennen nur gute Rehakliniken.«
»Hier sind wir ein leichtes Ziel«, erklärte Reacher. »Ich spüre etwas Unangenehmes kommen.«
Mackenzie verbrachte eine weitere Stunde damit, mit ihrer Schwester zu reden. Dann kam sie heraus und sagte, sie sei jetzt bereit, aus dem Hotel auszuchecken. In vier Stunden würde sie zurück sein, versprach sie. Mit ihrem Gepäck. Bramall zuckte mit den Schultern und schloss sich nun ihrer Entscheidung an. Außerhalb seiner Komfortzone, aber hey, dies war seine zweite Karriere. Reacher sagte, er habe bereits ausgecheckt. Er zahlte nie mehr als eine Nacht im Voraus. Seine Klappzahnbürste steckte in seiner Tasche. Mehr Gepäck besaß er nicht. Alles in allem hätte er es vorgezogen, in dem ruhigen Hotel zu bleiben und sich später wieder mit ihnen zu treffen. Mackenzie betrat noch mal das Haus, um ihre Schwester über den geänderten Zeitplan zu informieren. Anschließend fuhr sie mit Bramall weg.
Reacher setzte sich auf die Verandatreppe. Die war bereits sein Stammplatz. Vor ihm wurde die Schlucht breiter. Der ferne Horizont leuchtete orangerot, und darüber ragten schemenhaft blaue Berge auf. Die Luft war still und klar. Er beobachtete Raubvögel, die in der Thermik segelten, Kondensstreifen in großer Höhe und ein Streifenhörnchen auf einem zehn Meter entfernten Felsen.
Dann wurde hinter ihm die Tür geöffnet.
Das Streifenhörnchen flüchtete.
Die zerbrechliche Stimme fragte: »Major Reacher?«
Er stand auf, wandte sich ihr zu. Sie stand in ihrem silbernen Jogginganzugtop in der Haustür. Die Kapuze war weit nach vorn gezogen. Sie spähte daraus hervor. Schemenhafte Narben und Alufolie. Fester Blick.
Sie sagte: »Ich möchte unser gestriges Gespräch fortsetzen.«
»Welchen Teil?«
»Dass ich geglaubt habe, Sie seien beruflich hier.«
»Das bin ich nicht.«
»Das akzeptiere ich. Mich interessiert nur Ihre Meinung. Sie wissen vielleicht Dinge, von denen ich keine Ahnung habe.«
»Setzen Sie sich zu mir«, sagte er. »Es ist so ein schöner Tag.«
Sie zögerte kurz, dann trat sie ganz aus der Tür und überquerte die Veranda. Sie wirkte zierlich und geschmeidig, bewegte sich wie eine Leichtathletin. Die sie auch war. Die Infanterie war eine leichtathletische Disziplin. Sie ließ sich etwa einen Meter entfernt auf Reachers Stufe nieder. Sie duftete nach Seife und einen Astringens. Das Zeug auf ihrem Gesicht, vermutete er. Unter der Alufolie. Von der Seite sah er nur ihre weit nach vorn gezogene Kapuze.
Das Streifenhörnchen tauchte wieder auf.
Sie sagte: »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich einen Freund hatte, dessen Fall noch immer offen ist.«
»Sy Porterfield«, entgegnete er.
»Sie sind also doch beruflich hier.«
»Nein, aber ich habe unterwegs einiges mitbekommen.«
»Wie viel wissen Sie über ihn?«
»Sehr wenig«, sagte Reacher. »Eigentlich nur, dass er Ihr Freund, ein reicher Absolvent einer Eliteuniversität und ein Marineinfanterist war, dass er verwundet wurde und so viel von Authentizität gehalten hat, dass er lieber Eimer aufstellte, als den Originalzustand des Dachs verändern zu lassen.«
»Das ist eine ziemlich gute Zusammenfassung.«
»Außerdem gibt es im Pentagon drei versiegelte Akten über ihn.«
»Über die darf ich nicht reden.«
»Wie soll ich Ihnen dann einen Rat geben können?«
»Rein theoretisch«, antwortete sie. »Wie können Ermittlungen einfach einschlafen?«
»Das kann alle möglichen Gründe haben. Vielleicht brachten sie nicht das, was man sich von ihnen erwartet hatte. Vielleicht führten sie in eine Sackgasse. Vielleicht waren sie von Anfang an zu ambitioniert. Dazu müsste ich mehr wissen.«
»Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Dann lassen Sie mich raten. Vielleicht sind Sie zwischen zwei Stühle geraten. Das Pentagon scheint über die Originalakte zu verfügen. Vor ungefähr zwei Jahren muss Porterfield ein Problem gehabt haben. Weshalb hätte er sonst das Pentagon anrufen sollen? Das war kein natürlicher Reflex. Vor zwölf Jahren diente er als Leutnant in einer kämpfenden Einheit der Marineinfanterie. Das Pentagon hat in seinem Leben nie eine Rolle gespielt. Ich wette, dass er es nie gesehen hat. Ich wette, dass er seine Telefonnummer nicht kannte. Aber er hat sie rausbekommen und gewählt. Das bedeutet, dass sein Problem einen ziemlich wichtigen militärischen Aspekt gehabt haben muss. Dann hat das Pentagon die DEA informiert, was heißt, dass die Sache auch einen wichtigen Drogenaspekt hatte. Vielleicht gab es eine Kommunikationspanne. Vielleicht dachte das Pentagon, die DEA befasse sich mit dem Fall, während die DEA sich aufs Pentagon verlassen hat. So hat sich zuletzt niemand darum gekümmert.«
»Über Einzelheiten darf ich nicht reden.«
»Wir wissen, dass nach seinem Tod jemand bei ihm eingebrochen hat.«
»Ja, das habe ich gesehen. Ich bin noch mehrmals dort gewesen, um einen Rundgang durchs Haus zu machen.«
»Ich glaube, dass da Profis am Werk waren.«
»Sie haben recht, das war saubere Arbeit.«
»Und Sie wissen, wer dahintersteckt?«
»Ich darf nicht darüber reden.«
»Sie wissen, was gestohlen wurde?«
»Ja.«
»Beantworten Sie mir eine Frage?«
»Kommt darauf an, wie sie lautet.«
»Sie brauchen nur Ja oder Nein zu sagen. Mehr will ich nicht. Keine Einzelheiten, keinen Hintergrund. Nicht mehr, als Sie sagen wollen.«
»Versprochen?«
»Nur Ja oder Nein. Damit ich eine Frage abhaken kann.«
»Welche?«
»Wissen Sie, wie Porterfield gestorben ist?«
»Ja«, sagte sie. »Ich war dabei.«
Special Agent Dirk Nobles Abteilung hatte ihren Sitz in Denver, Colorado. Sein Büro war ein nüchterner beiger Raum, dem das Gold aus Billys Haus in Wyoming vorübergehend etwas Glanz verlieh. Die Schmuckstücke bedeckten fein säuberlich nach Größe geordnet seinen Schreibtisch. Die Kreuze an Halsketten, die Ohrringe, die Armreifen, die Medaillons, die protzigen Goldketten, die modischen Ringe, die Eheringe, die Klassenringe. Er musste ein Verzeichnis davon anlegen. Mit Beschreibungen und geschätztem Wert.
Ein Teil des Schmucks war Talmi. Vergoldetes Zeug, das kein Juwelier genommen hätte. Andere Stücke waren nur mittelmäßig, sieben bis acht Dollar nach Gewicht, vielleicht neun, wenn man Glück hatte. Wieder andere waren besser. Zum Beispiel ein Ehering mit achtzehn Karat, breit und schwer. In jedem Leihhaus locker fünfzig Bucks. Ebenso ein Paar Ohrringe. Achtzehn Karat, solide und schwer. Zwei Paare. Bestimmt sechzig Bucks für beide.
Als er fertig war, überflog er seine Liste. Die rechte Spalte mit den Schätzwerten. Die waren total verrückt. Völlig willkürlich zwischen weniger als einem Dollar und einem ordentlichen Packen Geld. Aber so funktionierte dieses Geschäft nicht. Hier handelte es sich nicht um einen Gewürzladen, in dem man eine Prise von diesem und eine Prise von jenem erwarb. Man kaufte eine Zehndollartüte mit braunem Pulver für zehn Dollar. Oder nicht. Oder man kaufte zwei für zwanzig Dollar. Oder drei für dreißig. Keine Rabatte und eine streng lineare Preisstruktur.
Im Gegensatz dazu war Billys Preisgestaltung auffällig anders. Als verkaufte er Tüten für fünf Dollar, für sechs Dollar, für dreizehn, siebzehn oder neunzehn Dollar. Voller Service. Was auch immer der Kunde verlangte. Vor Ort abgefüllt und gewogen.
Höchst unwahrscheinlich.
Also verkaufte er wahrscheinlich kein Pulver in Tüten. Vielleicht wurde sein Produkt als Stückgut geliefert. Vielleicht ließ es sich für den Weiterverkauf teilen – bis hinunter zu Einzelportionen für Leute mit begrenzten Ressourcen. Oder für Kunden, die über noch weniger Geld verfügten, mit einer Schere in Hälften oder Viertel.
Genau wie in der guten alten Zeit.
Unmöglich.
Er griff nach dem Telefonhörer und rief unten im Gefängnis an.
Er sagte: »Ich erwarte eine Überstellung aus Oklahoma, einen Billy Soundso.«
Die Stimme am Telefon sagte: »Wir haben ihn gerade aufgenommen.«
»Lassen Sie ihn in den Vernehmungsraum bringen. Sagen Sie ihm, dass ich ein paar Fragen an ihn habe. Ich komme in ein paar Stunden runter. Bis dahin soll er im eigenen Saft schmoren.«
Nicht mehr, als Sie sagen möchten, hatte Reacher versprochen, und wie sich zeigte, wollte Rose Sanderson auch nicht mehr sagen. Zumindest nicht über Porterfield. Sie nickte einfach unter ihrer Kapuze vor sich hin, als wäre dieses Thema abgeschlossen.
Dann sagte sie: »Meine Schwester hat mir erzählt, dass Sie gefragt haben, wie es sich anfühlt, schön zu sein.«
»Ja«, sagte er.
»Da wussten Sie schon über mich Bescheid.«
»Das war nur logisch.«
»Jane hat bestimmt eine zwiespältige Antwort gegeben. Sie ist noch immer schön. In ihrem Innersten wissen schöne Menschen, dass andere Leute glauben, sie bekämen etwas ohne Gegenleistung. Deshalb müssen sie verlegen tun, wenn die Rede darauf kommt. Sie müssen behaupten, sie fühlten sich deshalb oberflächlich. Aber ich kann Ihnen sagen, wie’s tatsächlich ist. Es bewirkt, dass man sich großartig fühlt. Als brächte man zu einer Messerstecherei eine Pistole mit. Manchmal habe ich meine Schönheit dazu benutzt, andere damit niederzumähen, peng, peng, peng. Sie ist eine Superpower. Als würde man die Phaser von ›lähmen‹ auf ›töten‹ umstellen. Das lässt sich nicht leugnen. Schönheit ist ein wichtiger evolutionärer Vorteil. Genau wie Ihre Körpergröße.«
»Wir sollten Kinder miteinander zeugen«, sagte er.
Er hörte die Folie unter der Kapuze rascheln. Hoffentlich weil sie lächelte.
Sie sagte: »Diese Zeiten sind vorbei.«
»Porterfield war anscheinend anderer Meinung.«
»Wir waren Freunde, sonst nichts.«
»Im Bett befanden sich zwei Abdrücke.«
»Woher wissen Sie das?«
»Der Mann, der das Dach repariert hat, hat’s einem anderen Kerl erzählt, von dessen Freund wir’s in einer Bar erfahren haben.«
»Der Dachdecker hat sich für mein Bett interessiert?«
»Ihr Bett? Sie stimmen ihm also zu?«
Sie sagte: »Sy war anders.«
Er fragte: »Wie ließe die Infektion sich kurieren?«
»Durch eine lange Behandlung mit intravenös verabreichten Antibiotika. Solche Infektionen sind häufig. Sie treten bei vielen Wunden auf. Die Bakterien umgeben sich mit einem Schutzwall, der schwierig zu knacken ist.«
»Und Sie wollen in kein Krankenhaus.«
»Mir hat’s dort nicht gefallen. Ich habe alle Leute in Verlegenheit gebracht. Ich war die Verkörperung der größten Angst jedes Soldaten. Eine entstellende Verwundung. Vorzeigbar sind nur Arme und Beine. Elektronisch gesteuerte Prothesen aus Titan und Kohlefaser. Manche dieser Beine kosten eine Million Bucks. Sie sehen besser aus als das Original. Männer tragen Shorts, um mit ihnen anzugeben. Bei mir unmöglich. Ich wäre ein PR -Desaster gewesen.«
»Infusionen können Sie zu Hause bekommen«, erklärte Reacher. »Von einem richtigen Arzt. Ihre Schwester findet bestimmt einen. Der auch eine sehr lange Entwöhnungskur vorschlagen dürfte. Bei der Sie noch mindestens ein Jahr lang die jetzige Dosis erhielten, während Sie sich eingewöhnen.«
»Ich glaube ihr nicht.«
»Dass sie Ihnen helfen will?«
»Dass sie’s kann.«
»Sie besitzt Geld. Wir reden hier vom zivilen Gesundheitssystem. Für Geld bekommt man alles.«
»Leute würden mich sehen. Sie lebt in einem Vorort.«
»In Lake Forest, Illinois. Sie könnten sich eine Plastiktüte über den Kopf ziehen. Die Leute würden das für eine Performance halten. In einem Jahr hätten Sie Ihre eigene Fernsehshow.«
»Hier gefällt es mir besser.«
»Weil Stackley Sie beliefert. Weil Billy Sie beliefert hat. Aber dieser Handel ist unterbunden. Sie profitieren von einem allerletzten Leck, das bald aufgespürt werden wird. Die DEA hat Billy geschnappt. Sie ist kurz davor, Sie von jeglicher Belieferung abzuschneiden. Sie müssen das Ganze taktisch betrachten. Wir sollten sofort handeln.«
Rose gab keine Antwort. Sie atmete nur etwas tiefer und versteifte sich innerlich. Das spürte Reacher aus einem Meter Entfernung. Wie schwache Vibrationen, die sich durchs Holz fortpflanzten.
Sie verkündete: »Ich gehe jetzt hinein.«
Er sagte: »Tut mir leid, dass ich Sie aufgeregt habe.«
»In zehn Minuten geht’s mir wieder gut.«
Sie stand auf und stieg zur Veranda hinauf. Er hörte, dass sie haltmachte, sich umdrehte und wartete. Er schaute zu ihr hoch. Sie erwiderte seinen Blick aus den Tiefen ihrer Kapuze. In einem Film hätten ihre Augen rot geleuchtet.
Sie sagte: »Das Problem ist, dass der Übergang nahtlos sein müsste. Leider bin ich von diesem Zeug abhängig. Im Augenblick gibt es für mich nichts Wichtigeres auf der Welt als das nächste Fentanylpflaster. Im Augenblick ist es mehr wert als hundert Ringe oder ein Dutzend Schwestern. Aber zum Glück habe ich ein neues Fentanylpflaster. Ich habe schon beschlossen, es zu lecken. Diese Entscheidung steht bereits fest. Macht Sie das alles betroffen?«
»Ja«, sagte Reacher. »Ein wenig.«
»Mich auch«, entgegnete sie.
Er wartete zehn Minuten, bis das High eingesetzt haben musste, aber sie kam nicht wieder heraus. Also machte er einen Spaziergang am Waldrand entlang, bis er die Cowboys auf ihrem Weg auf sich zukommen sah. Die drei Männer, wie immer mit dem Schlangenlederstiefelkerl an der Spitze. Die Art, wie sie Hallo sagten, zeigte Reacher, dass sie überrascht waren, ihn zu sehen. Er erklärte ihnen, er sei hiergeblieben.
Der Kerl mit den Stiefeln fragte: »Die anderen sind fort?«
»Für ein paar Stunden«, antwortete Reacher.
»Sie haben mit Rose gesprochen?«
»Korrekt«, sagte Reacher.
»Wie geht es ihr?«
»Sie hat erzählt, dass sie dabei war, als Porterfield gestorben ist.«
»Das dürfte stimmen.«
»Wo wart ihr?«
»Wir waren in Colorado. Der Frühling ist dort unten ziemlich spät gekommen. Wir haben Lastwagen mit Heu gefahren.«
»Was hat sie darüber gesagt, als ihr zurückgekommen seid?«
»Über solche Dinge redet sie nie.«
Reacher schwieg. Die drei Männer sahen einander halb zögernd, halb bedeutungsvoll an, als hätten sie plötzlich eine verrückte Idee.
Der Kerl mit den Stiefeln sagte: »Wenn Sie wollen, könnten wir Ihnen die Stelle zeigen, wo er aufgefunden wurde.«
»Liegt sie hier in der Nähe?«
»Ungefähr eine Stunde zu Fuß. Fast immer bergauf.«
»Ist sie sehenswert?«
»Die Wanderung ist interessant. Aufschlussreich. Man bekommt eine Idee davon, welche Art Mann einen Toten so weit hätte schleppen können.«
»Sie haben gesagt, dass das jeder gekonnt hätte.«
»Ich habe gesagt, dass das jeder getan hätte. Das ist ein Unterschied. Leute, die das gekonnt hätten, machen nur einen Bruchteil der Bevölkerung aus.«
»Okay«, sagte Reacher. »Zeigt mir die Stelle.«
Sie überquerten die Lichtung zu einer Hausecke hinüber und hielten auf den anderen Waldrand zu. Der Kerl mit den Stiefeln machte einen Umweg zu ihrem Pick-up und kam mit einem Gewehr zurück. Etwas Vorsicht könne nicht schaden, erklärte er. Schließlich gebe es hier Bären.