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Die Scheinwerfer sahen trüb und gelblich
aus, was auf ein altes Fahrzeug schließen ließ. Höhe über dem
Asphalt und Abstand waren normal, was auf ein altes Auto in
Normalgröße hindeutete. Kein riesiger Pick-up. Kein aufgeblasener
SUV . Es fuhr auf das Gebäude zu,
und im reflektierten Scheinwerferlicht war eine mindestens zwanzig
Jahre alte Limousine zu erkennen. Kantig, viertürig, matter Lack,
undefinierbar dunkel. Keine Radkappen. Eine abgeknickte
Antenne.
Der Wagen stieß zurück und parkte mit
reichlich Abstand neben dem Tor. Ein Kerl stieg aus.
Schätzungsweise fünfzig. Bierbauch, mit brillantineglänzendem, am
Schädel klebendem Haar. Er trug Jeans und ein mit einer
Firmenwerbung bedrucktes graues Sweatshirt. Er trat an das Rolltor
und machte irgendwas mit einem Schlüssel. Dann ging er wie ein
Gewichtheber in die Hocke und hob den unteren Rand hoch, worauf das
Tor sich metallisch rasselnd schneller und schneller öffnete, als
würde es von einem Gegengewicht aufgezogen.
Der Mann verschwand in der Garage und
schaltete das Licht ein. Eine Minute später wiederholte sich das
metallische Rasseln, als er das Rolltor auf der anderen Seite
öffnete. In der linken Hälfte der Garage standen riesige gelbe
Schneepflüge aufgereiht. Die rechte Hälfte war leer, aber jemand
hatte mit Kreide schräge Abstellplätze auf dem Beton markiert. Sie
waren von eins bis zehn durchnummeriert. Die Eins lag am anderen
Ende, die Zehn bei Reachers Tor.
Der Kerl im grauen Sweatshirt kehrte zu
seinem Wagen zurück, beugte sich hinein und nahm ein Schreibbrett
vom Beifahrersitz. An dem Brett hing ein Bleistift an einer Schnur.
Irgendeine Art Liste. Der Kerl ging zum Tor zurück und bezog dort
Posten.
Am Tor steht immer
ein Wachposten .
Der Kerl zog eine Pistole und überzeugte
sich davon, dass sie durchgeladen war.
23.45 Uhr.
Vier Minuten später waren neue
Scheinwerfer auf der Zufahrt zu sehen. Höher, weiter auseinander
und heller als bei der alten Limousine des Kerls. Ein SUV , ein Dodge Durango. Er hielt neben dem
Wachposten. Das Fahrerfenster wurde geöffnet, und einige Worte
wurden gewechselt. Der Kerl kontrollierte seine Liste und winkte
den Truck durch. Er parkte auf einem der schräg angeordneten
Plätze.
Eine Minute später kam ein rostiger
Silverado die Zufahrt entlang. In keinem besseren Zustand als
Stackleys alter Pick-up. Aber ohne Campingaufbau. Seine Ladefläche
lag unter einer Kunststoffabdeckung. Dicht hinter ihm tauchte ein
alter schwarzer Geländewagen auf. Beide parkten auf den
zugewiesenen Plätzen.
Fünf Minuten vor Mitternacht waren neun der
mit Kreide gekennzeichneten Plätze besetzt. Nur die Nummer fünf
blieb leer. Den Kerl in dem Sweatshirt schien das nicht weiter zu
stören. Regeln waren Regeln. Die anderen neben ihren Wagen
stehenden Männer wirkten erfreut. Ein Zehntel mehr für jeden von
ihnen.
Der Wachposten schaute auf seine Uhr.
Sein Handy klingelte.
Er hörte zu.
Und rief laut: »Zwei Minuten, Jungs! Er ist
fast da!«
Zwei Minuten später raste ein weißer
Kastenwagen die Zufahrt entlang, bremste dann scharf und hielt vor
dem Tor. Er war in New Jersey zugelassen. Der Kerl in dem
Sweatshirt gab dem Fahrer ein Zeichen, bevor er kehrtmachte und in
die Garage rannte. Der Kastenwagen stieß ein kurzes Stück zurück
und rollte dann außen an dem Gebäude vorbei zu dem Tor auf der
anderen Seite. Dort fuhr er aus entgegengesetzter Richtung in die
Garage. Er hielt auf Höhe des Pick-ups auf Platz Nummer eins, wo
der Wachposten ihn schon erwartete. Der Fahrer stieg aus.
Womit ihr Plan auf den Kopf gestellt war.
Nachträglich ärgerte Reacher sich darüber, dass er den Nummern auf
dem Boden nicht mehr Bedeutung zugemessen hatte. Anfangs hatte er
geglaubt, die stellten eine geografische Zuordnung dar oder
bezeichneten eine Rangordnung nach Dienstjahren. Oder sie
bedeuteten auch nichts. Vielleicht waren sie nur aus Spaß
aufgemalt. Zeichnet man mit Kreide Parkplätze auf, kann man sie
ebenso gut mit Nummern versehen. Damit die Sache professionell
aussieht.
Aber hier repräsentierten sie
eine Rangordnung. Eine Art Statusleiter. Vielleicht war die Nummer
eins für den Kerl mit dem höchsten Umsatz reserviert. Sozusagen für
den Verkäufer der Woche. Eine Art Preis, der ihm das Recht gab,
schnell verschwinden zu dürfen. Als Erster bedient, als Erster zum
Tor hinaus. Ein lohnender Anreiz.
Das ließ sich durch alle möglichen
mechanischen Mittel sicherstellen. Alle möglichen
Steuerungsmechanismen. Aber die bei Weitem einfachste Methode
bestand darin, den Kastenwagen durchs rückwärtige Tor einfahren zu
lassen.
Reacher befand sich am vorderen Tor.
Er hatte vorausgesehen, dass der Wachmann
und der Fahrer des Kastenwagens zu Beginn des Umladens
beisammenstehen würden. Sobald der Fahrer seine Hecktür öffnete –
nichtsahnend, aus eigenem Antrieb, ganz ohne Zwang, damit niemand
ein schlechtes Gewissen zu haben brauchte –, sollte Reacher einen
Schuss über ihren Kopf hinweg in den hallenden Raum abgeben, um sie
erstarren zu lassen. Während er Besitz von dem Fahrzeug ergriff,
würde Sanderson sich hinter den Männern bemerkbar machen. Sie
würden sich alle umdrehen und eine geheimnisvolle Gestalt sehen,
die sie mit einer Pistole bedrohte. Nur ein Fachmann hätte erkannt,
dass es sich bei der Ruger lediglich um eine Kleinkaliberpistole
handelte. Nur ein Fachmann mit Röntgenblick hätte erkennen können,
dass sie fast leer war. Reacher ging davon aus, dass sein Plan
funktionieren würde. Erst der Wachposten und der Fahrer, dann die
übrigen Kerle. Zwei verschiedene Kategorien. Die Reihenfolge war
wichtig, fand er.
Er stand auf der falschen Seite der
Garage.
Alles war auf den Kopf gestellt.
Er war jetzt Sanderson.
Sie war jetzt er.
Mit Adrenalin und Kampfhormonen und
Fentanyl, vielleicht halb Fentanyl, halb Entzug, schwitzend und
zitternd. Im Augenblick würde sie den Fahrer beobachten, darauf
warten, dass er die Hecktür öffnete. Mit einem Code oder einem
Spezialschlüssel. Oder auch nicht. Vielleicht war es nur eine
gewöhnliche Hecktür. Dann würde alles schneller gehen. Für eine
Pistole war die Ruger nicht sehr laut, aber ihr Schussknall wäre
trotzdem eindrucksvoll. In der hallenden Garage reichte eine
Pistole Kaliber .22 völlig aus.
Wenn sie die Sache
übernahm.
Wenn sie ihn ersetzte.
Bisher passierte nichts.
Noch immer nichts. Wahrscheinlich war dies
ein langer Rechenvorgang. Wie bei einem Computer. Alle möglichen
Buchstaben, Groß- und Kleinschreibung. Ziffern und Symbole.
Nichts.
Dann ein ohrenbetäubender Schussknall und
ein brutales Peng!, als das
Geschoss einen Träger der Dachkonstruktion traf.
Alle erstarrten.
Sie baute sich vor den Männern auf und
befahl: »Bleibt, wo ihr seid!«
Wie er’s gemacht hätte.
Er tauchte hinter ihnen auf und sagte:
»Keine Bewegung!«
Wie sie’s gemacht hätte.
Die Kerle drehten sich nach ihm um. Die
Smith & Wesson zielte tiefer als ihre Hüften. Er wusste, dass
dieser Schusswinkel die Leute nervös machte. Irgendein
atavistischer Reflex.
Sie schüttelte den Kopf. Die Kerle waren ihm
zugewandt. Die nächste Aufforderung musste von ihm kommen.
Er setzte seine MP -Stimme ein.
Er sagte: »Ziehen Sie alle Schusswaffen und
Handys aus Taschen, Holstern und anderen Verstecken. Legen Sie sie
vor sich auf den Fußboden. Versuchen Sie nicht zu schummeln. Ich
durchsuche Sie anschließend. Finde ich eine versteckte Schusswaffe,
schieße ich Sie damit hinten ins Knie. Finde ich ein Handy, schieße
ich Sie mit meiner Pistole hinten ins Knie. Auf diese Versprechen
können Sie sich verlassen. Bitte denken Sie einen Augenblick
darüber nach. Wir sind keine Cops oder Federal Agents, sondern
privat unterwegs. Für Sie nur vorübergehend lästig. Seien Sie also
vernünftig. Sie können für den Rest Ihres Lebens auf eigenen Beinen
gehen oder im Rollstuhl sitzen. Überlegen Sie sich, was für Sie am
besten ist.«
Elf Männer, elf Handys, zwölf Schusswaffen.
Der Wachposten hatte zusätzlich eine kleine Pistole Kaliber .38 in
einem Beinholster. Mackenzie trat vor, um sie einzusammeln. Sie
wirkte wie aus einem Gangsterfilm. Die schöne Königin der
Unterwelt. Alle starrten sie an. Reacher forderte die Kerle auf,
ihre Handys und Waffen nach vorn zu kicken. Mackenzie hob sie
einzeln auf und legte sie in eine Tragetasche, die sie hinten in
dem Kastenwagen gefunden hatte. Die Tasche war mit einem fröhlichen
Logo in Grün- und Blautönen bedruckt,
die an Gras und Himmelsbläue erinnerten.
Reacher und Sanderson trieben die elf Männer
in der Parkbucht Nummer fünf zusammen. Dort hatten sie kaum Platz,
waren zwischen zwei massiven Fahrzeugen eingeklemmt. Reacher und
Sanderson bewachten sie auf beiden Schmalseiten. Operativ nicht
nötig, weil ein Bewacher genügt hätte. Aber zwei wirkten
beruhigend. Sie verhinderten unkluge Gedanken – und damit Verluste.
Eine humanitäre Verwendung von Ressourcen. Die moderne Army.
Anfangs glaubte er, sein Plan klappe wie
vorgesehen. Die elf Kerle waren ungewöhnlich kleinlaut und wie
betäubt, stumm, niedergeschlagen, sichtlich mitgenommen. Irgendwie
demoralisiert.
Leicht angewidert.
Dann merkte er, woran das lag.
Sandersons Kapuze war noch immer
zurückgeschlagen.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Bramall
mit dem Toyota durchs hintere Tor kam. Er stieß rückwärts dicht an
die offene Hecktür des Lieferwagens. Dann machten Mackenzie und er
sich daran, Kartons umzuladen. Weiß und glatt und glänzend.
Unmengen von Kartons. Die beiden arbeiteten Hand in Hand. Im
Laderaum wurde der Platz knapp. Reacher verfolgte, wie sie
Gepäckstücke über die Lehne nach vorn auf den Rücksitz
warfen.
Er trat einen Schritt zurück und sah die
geparkten Fahrzeuge entlang. Der Dodge Durango gefiel ihm am
besten. Ein moderner Wagen, der leicht zu fahren wäre.
Er deutete darauf.
Er fragte: »Wem gehört der?«
Einer der Kerle hob die Hand.
Reacher fragte: »Steckt der
Schlüssel?«
Der Kerl nickte.
»Benzin?«
Der Kerl nickte erneut.
»Fertig!«, rief Bramall hinter ihm. »Wir
können fahren.«
»Okay«, sagte Reacher. »Jeder weiß, was er
zu tun hat. Eins, zwo, drei und raus hier!«
Schritt Nummer eins bestand darin, dass
Mackenzie die Schlüssel aller Wagen – nur die des Durangos nicht –
einsammelte und ebenfalls in ihre Tragetasche warf. Die meisten
Fahrzeuge waren alt genug, um sich
kurzschließen zu lassen, doch bei dem Lieferwagen des
Fentanyl-Herstellers handelte es sich um einen neuen Mercedes
Sprinter mit programmierbarem Schlüssel. Ihn würde niemand
wegfahren, was nur gut war. Der Boy Detective musste ihn hier
gestrandet sehen. Der Kastenwagen erklärte alles. Er war der
entscheidende Hinweis.
Schritt Nummer zwei war, dass Mackenzie und
Bramall in den Toyota stiegen und wegfuhren.
Was sie taten.
Bei Schritt Nummer drei sollte es darum
gehen, dass Reacher sich mittig vor den elf Männern aufbaute und
sie mit seiner mit beiden Händen gehaltenen Smith & Wesson in
Schach hielt, während Sanderson rückwärtsgehend den Durango
erreichte und mit einer Hand hinter sich nach dem Türgriff tastete,
bevor sie einstieg und den Motor anließ. Sie stieß rückwärts aus
der schrägen Lücke, aber dann versperrte der Kastenwagen ihr den
Weg, sodass sie rückwärts durchs vordere Tor hinausfuhr.
Und erst einmal verschwand.
Reacher wartete. Auf sich allein gestellt.
Vor ihm elf Kerle zusammengepfercht. Er spürte, wie sie sich
regten. Spürte ihren Zorn. Zuerst auf sich selbst. Elf gegen einen.
Lächerlich! Sind wir etwa Schlappschwänze? Das waren gefährliche
Gedanken. Wenn sie so weitermachten, würde er früher oder später
einem von ihnen ins Bein schießen müssen. Um sie zu disziplinieren.
Aber das war dann ihre eigene Schuld.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er,
wie Sanderson mit dem Durango rückwärts durch das Tor hereinstieß,
das der Kastenwagen benutzt hatte. Jetzt war sie auf der richtigen
Seite der Fahrzeugreihe, hatte das offene Rolltor vor sich. Zehn
Meter von ihm entfernt. Er hörte das Getriebe klicken. Vom
Rückwärtsgang in den ersten Gang. Motor im Leerlauf. Fuß auf der
Bremse. Startbereit.
Er bewegte sich rückwärts, zielte etwas
höher, aber nicht sehr, und wechselte dabei willkürlich von einem
Kerl zum anderen. Von links nach rechts, dann wieder zu einem Kerl
in der Mitte, während er den Abstand zu ihnen stetig vergrößerte.
Die Beifahrertür des Durangos öffnete sich leise quietschend, als
Sanderson sie von innen aufstieß. Dann erreichte er den Wagen,
spürte den Sitz im Rücken und hielt die Männer weiter mit seiner
Smith & Wesson in Schach. Aber sie hatten aufgegeben. Keine
Waffen, keine Handys, keine Autos. Sie dachten bereits voraus,
überlegten, wie sie verdammt schnell
von hier wegkommen konnten, bevor das Fallbeil fiel.
»Los!«, befahl Reacher.
Sanderson gab Vollgas, lenkte einmal rechts,
einmal links und war ungefähr sechzig Meilen schnell, als sie die
nach Westen führende Einfahrt erreichte.