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Reacher ging fast eine Meile weit bis zum Campus der University of Wyoming. Im Verwaltungsgebäude fragte er nach dem Department für Geografie. Der Jüngling am Empfang sah wie ein Student aus. Er schien halb zu schlafen. Aber dann verstand er die Frage doch. Er fragte: »Was wollen Sie dort?«
»Ich will eine Landkarte einsehen«, antwortete Reacher.
»Schauen Sie auf Ihr Handy, Mann.«
»Ich habe keines.«
»Echt jetzt?«
»Und ich möchte Details sehen.«
»Rufen Sie ein Satellitenbild auf.«
»Da würde ich nur Bäume erkennen. Außerdem habe ich wie gesagt kein Handy.«
»Echt nicht?«
Der Jüngling zeigte in eine Richtung und sagte: »Immer geradeaus. Also ging Reacher weiter. Fünf Minuten später war er an der richtigen Adresse, diesmal an einem mit einer wacheren jungen Frau besetzten Empfang. Reacher erklärte ihr, was er brauchte. Sie verschwand, kam dann zurück und schleppte einen riesigen topografischen Atlas von Wyoming von der Größe einer Gehwegplatte an. Reacher nahm ihn ihr ab und legte ihn auf einen Tisch unter einem Fenster. Er schlug ihn auf, suchte die Südostecke des Bundesstaats. Fand Laramie und die State Road nach Colorado und die in Mule Crossing abzweigende unbefestigte Straße.
Reacher befand sich in West Point, als Kartenlesen noch als lebenswichtige Fertigkeit gelehrt worden war. Für Bodentruppen waren Geländeformationen wichtig. Ihre Kenntnis konnte den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen. Was er westlich des alten Postamts sah, war eine nicht zu schmale unbefestigte Straße, die nie ganz gerade verlaufend den Konturen der Umgebung folgte, anfangs nur leicht anstieg und nach etwa einer Meile durch die ersten Ausläufer der fünfzig Meilen entfernten Snowy Range führte. Hier und da waren Viehzäune eingezeichnet: dünne Linien wie Details auf einem Hundertdollarschein. Es gab blau eingezeichnete Bäche, grüne Wälder und orangerote Höhenschichtlinien. Auf zwanzig Meilen Strecke zweigten gelegentlich Ranchstraßen ab, die zu weit entfernten Gebäuden führten, die als winzige Quadrate dargestellt waren. Die erste Zufahrt links war ziemlich genau zweieinhalb Meilen von dem alten Postamt entfernt. Sie führte erst durch lichten Nadelwald nach Süden, bog nach Westen ab, ging ein kurzes Stück nach Osten und stieg zuletzt in westlicher Richtung zu einer Anhöhe an, die nach Süden hin von höheren Hügeln umgeben war. Auf der Anhöhe waren zwei winzige braune Quadrate eingezeichnet. Vermutlich ein Haus und eine Scheune.
Billys Ranch.
Die nächste Zufahrt links lag fast drei Meilen weiter westlich. Dort stellte sich die Situation ähnlich dar: eine mäandernde Fahrspur, die sich durch die Hügel und den etwas dichteren Wald schlängelte und zu irgendeinem Wohngebäude führte. Von dieser Zufahrt aus hätte Reacher sich Billys Ranch ungesehen durch den Wald nähern können. Aber um dort hinzugelangen, würde er vom Postamt aus der unbefestigten Straße folgen müssen. Von Billys Ranch aus würde er fast eine Dreiviertelstunde lang zu sehen sein, weil sie mindestens dreißig Meter höher als die Straße lag. Natürlich würde er nur als Punkt erscheinen, aber der Kerl wäre dann vorgewarnt gewesen. Vielleicht hatte er ein Fernglas. Oder ein Zielfernrohr auf seinem Jagdgewehr.
Ein Problem.
Die junge Frau am Empfang fragte: »Alles in Ordnung, Sir?«
»Passt alles«, antwortete Reacher.
Er blätterte um.
Viel interessanter war, was weiter südlich lag. Die nächste, rechts von der State Road abzweigende unbefestigte Straße kam drei Meilen nach Mule Crossing. Sie war eine Forststraße in ein Naturschutzgebiet, das Roosevelt National irgendwas hieß und ganz unten auf der Karte direkt an der Staatsgrenze lag. Das dritte Wort würde auf dem ersten Colorado-Blatt stehen. Wahrscheinlich Forest. Nach Teddy Roosevelt benannt, vermutete Reacher, nicht nach Franklin. Der große Naturfreund, außer wenn er Großwild wie Tiger und Elefanten schoss. Die Menschen waren kompliziert. Von der Forststraße zweigte ein ganzes Spinnennetz aus Sekundärstraßen ab, von denen eine weit ausholend nach Norden und zur Rückseite des u-förmigen Hügelrückens hinter Billys Ranch führte. Die Höhenschichtlinien zeigten, dass der Hügelkamm gut dreißig Meter höher war als seine Anhöhe. Wer von dort kam, konnte sich dem Haus bis auf fünfzig Meter ungesehen nähern, selbst wenn der Kerl noch so viele Ferngläser oder Zielfernrohre parat hielt.
Richtiges Kartenlesen. Manchmal der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage.
Reacher klappte den riesigen Band mit leichtem Knall zu, als würde er eine massive Tür schließen. Die junge Frau am Empfang sagte, er könne ihn dort liegen lassen. Vielleicht hatte sie das Gefühl, ihren Bizeps an diesem Tag schon genug trainiert zu haben. Er bedankte sich, verließ das Gebäude und machte sich auf den Weg nach Westen, in die Stadt zurück: im rechten Rinnstein, den linken Daumen ausgestreckt. Innerhalb einer Minute wurde er von einem freundlichen, langhaarigen, bärtigen Individuum mitgenommen, vielleicht von einem exzentrischen Professor, aber der Typ fuhr nur bis zum Supermarkt, sodass Reacher an der Ecke zur Third Street ausstieg und wie schon am Vorabend nach Süden marschierte. Noch vor der Stadtgrenze hielt ein klappriger alter Pick-up bei ihm. Er stieg ein und bat darum, drei Meilen südlich der Werbetafel mit der Rakete in einer Flasche abgesetzt zu werden. Der Fahrer musterte ihn leicht verwirrt, als fragte er sich, was, zum Teufel, es dort draußen gebe, aber er sparte sich jeglichen Kommentar. Er fuhr einfach. Wir sind hier in Wyoming. Niemand kümmert sich um die Angelegenheiten anderer. Als sie unter der Highway-Brücke hindurchfuhren, sah Reacher über den Grasstreifen nach links. Der schwarze Toyota stand nicht mehr auf dem Parkplatz des Hotels.