7
Reacher wachte von allein auf, als der größte Ansturm zum Lunch vermutlich vorbei war. Trotz der Anstrengungen des Vorabends fühlte er sich gut. Keine Abschürfungen, keine wirklichen Schmerzen. Er begutachtete sich im Spiegel. Von dem Kopfstoß bei dem vierten Kerl hatte er einen schwachen blauen Fleck auf der Stirn. Und sein rechter Unterarm war druckempfindlich, weil er drei der Typen ganz allein außer Gefecht gesetzt hatte. Volle fünfzig Prozent der Angreifer. Die Haut am Ellbogen sah gerötet aus und wies trotz des Hemdsärmels mehrere kleine Wunden wie von Nadelstichen auf. Das kam vor. Meistens von Zähnen oder Knochensplittern von gebrochenen Nasen oder Augenhöhlen. Kollateralschäden. Aber nicht der Rede wert. Er war in guter Verfassung. Ganz der Alte an diesem weiteren einsamen Tag.
Er duschte, zog sich an, ging zu dem leerer werdenden Restaurant hinüber und bestellte von der den ganzen Tag gültigen Frühstückskarte. Als er dann zahlte, ließ er sich ein paar Quarter für das Münztelefon am Ausgang geben. Er wählte eine alte Nummer, die er auswendig wusste.
Nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben.
»West Point«, meldete sich eine Frauenstimme. »Büro des Superintendenten. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, Ma’am«, sagte Reacher. »Ich bin Absolvent der Akademie und habe eine Anfrage, die bestimmt auf Ihrem Schreibtisch landen wird. Deshalb wollte ich gleich bei Ihnen beginnen.«
»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Sir?«
Reacher nannte ihn und gab außerdem sein Geburtsdatum, seine Dienstnummer und seinen Jahrgang an. Er hörte, wie die Frau sich alles notierte.
Sie sagte: »Wobei geht es bei Ihrer Anfrage?«
»Ich muss eine Kadettin des Jahrgangs 2005 identifizieren. Sie hat die Initialen S.R.S. und ist ziemlich klein. Mehr habe ich vorläufig nicht.«
Er hörte, wie sie auch das notierte.
Sie sagte: »Sind Sie ein Journalist?«
»Nein, Ma’am.«
»Sind Sie bei der Polizei?«
»Nicht im Augenblick.«
»Wozu müssen Sie sie dann identifizieren?«
»Ich möchte einen verlorenen Gegenstand zurückgeben.«
»Den können Sie uns schicken. Wir leiten ihn gern weiter.«
»Ich weiß, dass Sie das könnten«, erwiderte Reacher. »Und ich weiß, weshalb Sie dieses Verfahren vorschlagen, nämlich wegen Sicherheitserwägungen. Der Datenschutz spielt auch eine Rolle. Ich verstehe sehr gut, dass die Bestimmungen sich seit meiner Zeit geändert haben. Sie sollten mir eigentlich gar nichts erzählen. Dafür habe ich volles Verständnis. Glauben Sie mir, ich will Sie keinesfalls in Schwierigkeiten bringen.«
»Dann verstehen wir uns also.«
»Tun Sie mir nur einen Gefallen. Schlagen Sie sie nach … und informieren Sie sich anschließend über mich. Bedenken Sie alle möglichen Umstände. Dann sind Sie irgendwie froh, mir keinen Namen genannt zu haben, oder bedauern vielleicht, es nicht getan zu haben. Ich rufe später noch mal an und frage danach. Rein aus Interesse.«
»Wieso sollte ich bedauern, nach Vorschrift gehandelt zu haben?«
»Weil Sie letzten Endes erkennen werden, dass dies der erste Hinweis darauf war, dass eine Absolventin mit den Initialen S.R.S. in Schwierigkeiten stecken könnte. Vielleicht einsam und hilfsbedürftig. Später werden Sie sich wünschen, Sie hätten auf mich gehört und die Sache gleich ernst genommen. Sie werden bedauern, mir die erbetene Auskunft verweigert zu haben.«
»Wer sind Sie genau?«
»Informieren Sie sich über mich.«
Die Frau sagte: »Rufen Sie mich zurück.«
Reacher ging das Motel entlang zu dem Bereich in der Nähe der Zapfsäulen, wo es eine inoffizielle Anhalterbörse gab, die ein Mann betrieb, der wie ein Obdachloser aussah und seinen Mantel mit einem Strick zusammengebunden hatte. Er ließ sich von jedem Neuankömmling das gewünschte Fahrtziel nennen und rief es den an den Zapfsäulen wartenden Truckern beim Herumgehen zu. Früher oder später zeigte sich ein Fahrer einverstanden, jemanden mitzunehmen, und der glückliche Anhalter gab dem Vermittler einen Dollar Trinkgeld und stieg ins Fahrerhaus hinauf.
Zweckmäßig. Reacher zahlte gern einen Buck, obwohl er weder Hilfe noch Glück gebraucht hätte. Alle Fahrer waren nach Rapid City unterwegs. Es war dreihundertfünfzig Meilen entfernt, aber der erste vernünftige Stopp. Vorher gab es nicht viel. Danach konnte man sich für eines von drei Zielen entscheiden: Wyoming, Montana, Idaho. Aber jeder musste über Rapid City fahren.
Binnen wenigen Minuten bekam er eine Mitfahrgelegenheit in einem riesigen roten Sattelschlepper, der einen weißen Auflieger zog. Im Fahrerhaus befand sich hinter den Sitzen eine Viererkoje, die größer war als manche Motelzimmer, die Reacher kannte. Für Umzüge von Küste zu Küste, erklärte der Fahrer. Die ganze Crew konnte im Fahrzeug schlafen. Das sparte Übernachtungskosten.
Der Kerl war alt wie viele Trucker. Vielleicht würde es diesen Beruf bald nicht mehr geben. Vielleicht war er zu schwer geworden. Reacher vermutete, dass der Frontier-Mythos mit ihm untergehen würde. Der Beruf passte nicht mehr in diese Zeit, in der jeder abends zu Hause sein wollte.
Der Kerl sagte, nach Rapid City würden sie fünf Stunden und fünf Minuten brauchen. Das sagte er zuversichtlich wie jemand, der hier schon unzählige Male unterwegs gewesen war. Sie rollten an, saßen hoch über der Fahrbahn mit freiem Blick bis zum Horizont, schalteten weiter durch die Gänge hoch, bis sie in der Ebene gut siebzig Meilen und auf Gefällestrecken noch mehr machten. So erschienen fünf Stunden und fünf Minuten durchaus realistisch.
Wie immer wollte der Fahrer wissen, wohin sein zeitweiliger Passagier unterwegs war – und weshalb. Als wäre er das fürs Mitnehmen schuldig. Eine lange Story für lange Strecken. Aus irgendeinem Grund erzählte Reacher ihm die Wahrheit. Das Leihhaus, der Ring, sein Drang, die Verbindung zwischen beiden zu finden. Den er sich selbst nicht erklären konnte, wie er sagte.
Der Trucker dachte volle zehn Meilen darüber nach.
Dann meinte er: »Meine Frau würde sagen, dass Sie sich wegen irgendwas schuldig fühlen.«
Reacher äußerte sich nicht dazu.
»Sie liest Bücher«, sagte der Fahrer. »Sie denkt über vieles nach.«
»Ich weiß nicht mal, wer diese Frau ist. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich bin ihr nie begegnet. Wie kann ich also Schuldgefühle haben? Ich weiß nur, dass sie ihren Ring verkauft hat.«
»Muss nicht mit ihr zusammenhängen. Dafür gibt’s ein Wort. Übertragung, glaub ich. Oder Projektion, obwohl das etwas ganz anderes sein könnte. Meine Frau würde sagen, dass Sie sich wegen einer anderen Sache schuldig fühlen.«
»Würde sie damit zusammenhängen?«
»Im weitesten Sinn ja, vermute ich. Nicht unbedingt deswegen, weil Sie eine Frau dazu gebracht haben, ihren Schmuck zu verkaufen. So offensichtlich braucht die Sache nicht zu sein. Meine Frau würde sagen, dass irgendein anderes Versagen, eine andere Ungerechtigkeit vorliegen könnte.«
Reacher schwieg.
»Meine Frau würde fragen, ob Sie eine Ehefrau oder Freundin haben, mit der Sie darüber reden könnten.«
Chang würde die Hälfte des ersten vollen Arbeitstages nach ihrer Rückkehr hinter sich haben. Vielleicht gab es neue Fälle. Vielleicht war sie schon wieder am Flughafen.
»Bestellen Sie Ihrer Frau, dass sie weiterlesen soll«, sagte Reacher. »Sie muss eine sehr clevere Frau sein.«
Wie so oft war die letzte Strecke vom Highway in die Stadt die schwierigste Etappe. Der rote Truck war zu groß für die Innenstadt. Um 19.50 Uhr stieg Reacher am Interstate-Kleeblatt aus – nach exakt fünf Stunden und fünf Minuten. Er streckte sich, atmete tief durch und versuchte, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Verkehr gab es genug. Jede Menge Pick-ups, SUV s und gewöhnliche Pkw. Aber ihre Fahrer waren in der falschen Stimmung. Alle kamen von dem Highway. Dies war ihr Endspurt. Fast da, fast daheim, fast an der Bar. Fast wieder bei der Freundin. Fast an jedem anderen Ziel. Alle rasten vorbei. Keiner hatte Lust, noch jemanden mitzunehmen. Nicht jetzt. Das erschien widersinnig. Anhalter nahm man zu Beginn einer Fahrt mit, nicht an ihrem Ende.
In dieser Situation hoffte man am besten auf einen Typen, der dreihundert Meilen zuvor den Kopf geschüttelt und das seither bereut hatte. Das hing meist mit dem coolen Bild zusammen, das er von sich selbst besaß. Solch ein Typ hielt auf den letzten Meilen an, weil er vielleicht insgeheim hoffte, sein limitiertes Angebot würde dankend abgelehnt, was ihm kostenlos ein gutes Gewissen verschaffen könnte. Andererseits war er verrückterweise bereit, einen Mann mitzunehmen und für ihn einen fünf oder zehn Meilen weiten Umweg zu fahren. Nach Reachers Erfahrung musste bei so dichtem Verkehr alle zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten ein Kerl dieser Art vorbeikommen. Sichtbarkeit war der Schlüssel zum Erfolg. Je früher er einen sah, desto besser waren die Chancen. So hatte seine Coolness mehr Zeit, sich durchzusetzen. Mehr Platz, um in aller Ruhe anzuhalten und sich lächelnd nach rechts zu beugen.
Letztlich dauerte es vierzig Minuten. Punkt 20.30 Uhr hielt ein Dodge mit Doppelkabine bei ihm. Der Fahrer setzte ein gönnerhaftes Lächeln auf, erklärte aber entschuldigend, er fahre leider nur bis in die Stadt. Reacher sagte, das sei großartig. Er sagte, er brauche das Viertel mit den billigen Motels. Der Kerl sagte, er fahre nahe daran vorbei und wolle ihm gern den Weg zeigen.
Der billige Teil der Stadt wirkte düster. Inzwischen war es längst Nacht. An einigen Straßenecken gab es Lampen, von denen einige brannten, aber sie reichten nicht aus. Reacher stieg aus dem Dodge, ging einen langen Straßenblock nach Westen, ohne im Dunkeln viel zu erkennen, bog dann links ab und fand wie versprochen zwei Motels nebeneinander. Sie standen in einer Ladenzeile, in der sich auch ein Diner, eine Tankstelle und ein Reifenhändler befanden, was darauf hindeutete, dass dies eine beliebte Ausfallstraße war. Das rechte Motel warb mit einem hohen Leuchtschild, auf dem alle möglichen Anreize wie Holzscheite gestapelt waren: Kostenloses Frühstück. Kostenloses Kabelfernsehen. Kostenloses WLAN . Kostenlose Upgrades.
Das linke Motel warb mit Alles kostenlos .
Was Reacher bezweifelte. Bestimmt nicht auch die Übernachtung. Andererseits: Nur wer wagt, gewinnt. An der Rezeption stand eine alte Lady. Sie war schlank und elegant. Ihr blaues Haar war fein wie Seide. Sie musste mindestens achtzig sein. Vielleicht war sie die ursprüngliche Besitzerin aus längst vergangenen Zeiten. Als Reacher seine Frage stellte, antwortete sie lächelnd, nein, er müsse sein Zimmer bezahlen, aber alles andere sei kostenlos. Das sagte sie mit halb amüsiertem Blick, und er spürte, dass sie Alles kostenlos teils als Antwort auf die Angeberei ihres Nachbarn verstand, was gutmütig, spöttisch oder irritiert gemeint sein konnte, aber auch als resignierte Klage darüber, dass man heutzutage nichts mehr tun konnte, ohne dass sich jemand fand, der bereit war, es billiger zu machen. Aber wer hätte kostenlos noch unterbieten können?
Reacher zahlte für ein Zimmer.
Er fragte sie: »Wo könnte ich hier meine Sachen waschen?«
»Welche Sachen?«, fragte sie. »Sie haben kein Gepäck.«
»Theoretisch. Nehmen wir mal an, ich hätte welches.«
»Sie würden in einen Waschsalon gehen.«
»Wie viele haben Sie denn?«
»Wie viele bräuchten Sie?«
»Manche sind vielleicht besser als andere.«
»Haben Sie Angst wegen Wanzen? Nicht nötig. Dafür gibt es Waschsalons. Stellen Sie den Trockner auf heiß, das überlebt keine. Das mache ich hier. Mit der Bettwäsche.«
»Gut zu wissen«, meinte Reacher. »Aber wie viele Waschsalons gibt es in Rapid City? Ich bin nur neugierig. Ich weiß gern Bescheid.«
Sie überlegte, schien antworten zu wollen und war dann doch zu gewissenhaft, um sich allein auf ihr Gedächtnis zu verlassen. Sie wollte eine Bestätigung. Sie holte ein dünnes Branchenverzeichnis aus einer Schublade, schlug unter W nach, dann unter M wie Münzwaschsalon.
»Drei«, sagte sie.
»Kennen Sie die Besitzer?«
Sie dachte wieder nach: anfangs skeptisch, als wäre die Frage seltsam und solche Bekanntschaften unwahrscheinlich. Aber dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, als sie an alte Gewerbeverbände und gemeinsame Kampagnen, an Dinner und Cocktailpartys dachte.
Sie sagte: »Tatsächlich kenne ich zwei der drei.«
»Wie heißen sie?«
»Ist das wichtig?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens Arthur Scorpio.«
»Das ist der dritte Besitzer«, sagte sie. »Den kenne ich überhaupt nicht.«
»Aber Sie kennen seinen Namen.«
»RC ist eine Kleinstadt. Wir tratschen.«
»Und?«
»Über ihn wird nicht gut gesprochen.«
»In welcher Beziehung?«
»Alles nur Klatsch, den ich nicht wiederholen sollte. Aber von einer Freundin mit einem Neffen bei der Polizei weiß ich, dass Mr. Scorpios Akte drei Zoll dick ist.«
»Er kauft und verkauft Diebesgut«, sagte Reacher. »Das habe ich gehört.«
»Sind Sie Polizeibeamter?«
»Nein. Nur ein gewöhnlicher Kerl.«
»Was wollen Sie von Arthur Scorpio?«
»Ich will ihm eine Frage stellen.«
»Sie sollten sehr vorsichtig vorgehen. Mr. Scorpio steht in dem Ruf, gewalttätig zu sein.«
»Ich frage ihn höflich«, sagte Reacher.
Vorn im Branchenverzeichnis gab es einen Stadtplan von Rapid City. Die alte Lady trennte ihn sorgfältig heraus, kreuzte ihr Motel an und markierte Scorpios Waschsalon. Sie faltete das Blatt zweimal zusammen und reichte es Reacher. Für morgens, nahm sie bestimmt an, aber er machte sich sofort auf den Weg. Inzwischen war es kurz vor zehn Uhr abends. Er folgte stockfinsteren Straßen, orientierte sich auf dem Stadtplan, wenn er eine funktionierende Straßenlampe fand, und sah dann Neonlicht durch die Nacht leuchten. Ein Spätverkauf an einer Straßenecke. Auf dem Stadtplan der alten Lady war Scorpios Waschsalon einen halben Block entfernt auf der anderen Straßenseite eingezeichnet.
Reacher fand ihn, wo er sein sollte. Knapp jenseits eines abgestorbenen Baums. Er lag in der Mitte des Blocks, im Zentrum eines größeren Gebäudekomplexes, der von einer Straßenecke bis zur anderen reichte. Im Augenblick war er geschlossen. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Die zweiflüglige Tür war abgesperrt und mit einer Kette mit Vorhängeschloss durch die Türgriffe gesichert. Neben dieser Glastür befand sich ein breiteres Fenster. Dahinter waren unförmige, geisterhaft weiße Maschinen zu erahnen – und ihnen gegenüber Plastikstühle und Automaten für Kleingeld und Waschmittel, Weichspüler und Trocknerbälle. Alles schien einen Dollar zu kosten.
Auf der anderen Straßenseite gab es links außen den beleuchteten Spätverkauf, dann einen Schuhdiscounter, mehrere leer stehende Geschäfte genau gegenüber und etwas rechts der Mitte einen Coffeeshop. Eine richtige Bruchbude. Das Fenster zur Straße hinaus war verhältnismäßig klein, aber für Beobachtungszwecke gut geeignet. Bestimmt bekam man dort ein gutes Frühstück. Und guten Kaffee. Das merkte Reacher sich vor.
Er ging um den Block herum und fand den Hintereingang des Waschsalons an der Lieferantenzufahrt. Die Tür war eine massive Brandschutztür aus Stahl. Nichts Besonderes. Vielleicht im Bebauungsplan oder von einer Versicherung vorgeschrieben. Sie war abgeschlossen.
Er kehrte um. Schritt die Gebäudetiefe von der Zufahrt bis zur Straße ab. Zu viel. Ungefähr doppelt so tief, wie man durchs Fenster des Waschsalons sehen konnte. Folglich lag dahinter ein gleich großer weiterer Raum. Vielleicht ein Lagerraum – oder Büros, in denen Geschäfte abgewickelt wurden, über die man tratschte.
Er blieb noch eine Minute im Dunkeln stehen und ging dann auf demselben Weg zurück. An der nächsten Ecke betrat er den Spätverkauf. Eine Tasse Kaffee wäre eine gute Idee, fand er. Vielleicht auch ein Sandwich. Im Laden befand sich ein anderer Mann, der das Gleiche wollte. Er stand an der Esstheke und trank aus einem To-go-Becher. Ein kleiner Mann, sportlich und kompakt, in einem dunklen Anzug mit Krawatte. Er hatte offenbar eine Spezialität bestellt, zu der ein Spiegelei und viel geriebener Käse gehörten. Cholesterin machte ihm anscheinend keine Sorgen. Der Grillkoch stellte seine Kreation fertig und verpackte sie in Papier, dann noch mal in Alufolie. Er übergab sie dem Kunden. Der Kerl im Anzug machte kehrt und ging um Reacher herum zur Tür.
Reacher bestellte ein Roastbeef-Sandwich mit Emmentaler, Majo und Senf auf Weißbrot. Dazu Kaffee. Der Grillkoch drehte sich um und ließ seine Schneidemaschine anlaufen. Reacher fragte ihn: »Was wissen Sie über den Waschsalon hier in der Straße?«
Der Mann drehte sich um. Hinter ihm lief die Maschine leise pfeifend weiter. Er wirkte erst verwirrt und dann ein wenig feindselig, als hätte er den Verdacht, jemand wolle sich über ihn lustig machen. Dann wirkte er abgelenkt, als kämpfte er mit einem schwierigen mathematischen Problem, und gelangte zu einer Antwort, der er nicht vertraute, obwohl sie ihm gefiel.
Er sagte: »Das hat der andere Typ vorhin auch gefragt.«
Reacher sagte: »Der mit dem Spiegelei-Sandwich?«
»Aber wozu braucht ein Mann wie er einen Waschsalon? Der Anzug kommt in die Reinigung, die Hemden werden für anderthalb Bucks gewaschen und gebügelt. Hab ich recht?«
»Bin gleich wieder da«, sagte Reacher.
Er ging auf den Gehsteig hinaus.
Keine Spur von dem Mann in Anzug und Krawatte.
Kein Echo von in der Nacht verhallenden Schritten.
Reacher kam zurück und trat wieder an die Esstheke, und der Kerl, der sein Sandwich machte, sagte: »Vielleicht müsste er seine Unterwäsche waschen. Und die Socken. Aber in jedem Hotel liegen Wäschesäcke im Kleiderschrank. Ein Typ wie er würde sich nicht hinhocken und zusehen, wie die Waschlauge kreiselt.«
»Glauben Sie, dass er in einem Hotel wohnt?«
»Er ist nicht von hier. Haben Sie ihn sich angesehen? Er ist irgendein Profi. Ich würde auf einen Anwalt tippen, der sich wegen eines wichtigen Falls in der Stadt aufhält – aber er hat nicht reich genug ausgesehen. Also denke ich jetzt an die Steuerfahndung oder so. Ein leitender Beamter. Und dann stellen Sie die gleiche Frage. Nach dem Waschsalon. Sie halte ich nicht für einen Steuerfahnder, aber Sie könnten ein Cop sein. Deshalb denke ich jetzt, dass Arthur Scorpio vielleicht Schwierigkeiten bekommt.«
»Wie stehen Sie dazu?«
»Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob’s diesmal klappt. Mr. Scorpio hat schon öfter Schwierigkeiten gehabt. Aber ihm ist nie was nachzuweisen.«