35
Um acht Uhr morgens trafen sie sich in der
Hotelhalle. Nach dem Frühstück im Diner fuhren sie zum Supermarkt,
um für Rose einzukaufen. Vor allem Lebensmittel, teils
Vollwertkost, teils nicht, aber auch Seife, rosa Socken, einen Kamm
mit weiten Abständen zwischen den Zinken und ein paar
Taschenbücher. Kleinigkeiten, die als Erstes gestrichen wurden,
wenn das Haushaltsgeld nicht reichte.
Und sie legten zwei Stück von allen
angebotenen antiseptischen Cremes in den Einkaufswagen.
Bramalls Handy klingelte, als sie an der
Kasse standen. Nach einem Blick aufs Display sagte er: »Special
Agent Noble von der DEA .« Er
meldete sich, hörte zu und gab verständnisvolle, aber
unverbindliche Laute von sich. An einer Stelle zögerte er kurz, als
wollte er etwas sagen, was er dann doch nicht tat. Als hätte er
sich dagegen entschieden. Zwei Feds, die gegeneinander Schach
spielten. Reacher kannte die Anzeichen dafür.
Bramall beendete das Gespräch und sagte:
»Billy ist gestern Abend in einer Kleinstadt in Oklahoma
festgenommen worden. Noble hat ihn telefonisch vernommen. Bisher
leugnet er alles. Er behauptet, keine Frau zu kennen, die Rose
Sanderson heißt. Erst recht will er nicht wissen, wo sie
wohnt.«
»Nachrichten von gestern«, meinte Mackenzie.
»Billy brauchen wir nicht mehr.«
Die Fahrt zu Roses Haus war ein für Wyoming
typischer Zeitsprung. In ihrer Vorstellung brauchten sie nicht
allzu weit zu fahren. Das Ganze war nur ein Ausflug in die nähere
Umgebung. Mule Crossing war in wenigen Minuten zu erreichen, und
Rose lebte gleich westlich davon. Tatsächlich benötigten sie jedoch
volle zwei Stunden bis zu ihrem Haus. Die lange, lange State Road,
dann die unbefestigte Straße, auf der sie endlos lange durch
unendliche Weiten unterwegs waren, und zuletzt Roses Zufahrt, die
eigentlich nur eine mit Schlaglöchern
übersäte Fahrspur war. Der Himmel sah stahlgrau aus. Nicht
bedrohlich, aber irgendwie warnend. Der Winter kündigte sich
an.
Die drei Cowboys empfingen sie, als der
Toyota auf die letzte Lichtung hinausfuhr. Sie taten nichts.
Warteten und beobachteten nur, bildeten dreißig Meter vor dem Haus
eine unregelmäßige Phalanx, eine Art Verteidigungslinie.
Sie hat unseren Beschützerinstinkt
geweckt . Bramall ging sofort vom Gas, um nicht aggressiv zu
wirken, und parkte an derselben Stelle wie am Tag zuvor. Reacher
lud ihre Einkäufe aus und stapelte sie auf der Veranda. Mackenzie
trug sie nacheinander ins Haus. Dann schloss sie die Tür hinter
sich.
Auf der Lichtung wurde es wieder
still.
Reacher sah Bramall am Rand der Schlucht
stehen – ein kleiner adretter Mann in einem dunklen Anzug mit
Krawatte. Er hätte in dieser Umgebung fehl am Platz wirken müssen.
Aber das tat er nicht. Er wirkte im Gegenteil so, als gehörte er
hierher. Das zeigte, wie wandlungsfähig er war. Er dachte über
irgendetwas nach. Das sah Reacher seinem Gesicht an. Ein Problem.
Ein innerer Kampf wegen irgendeines ethischen Dilemmas.
Reacher wusste ziemlich sicher, worum es
ging.
Billy.
Nicht um Nachrichten von gestern.
Um Nachrichten von morgen.
Reacher gesellte sich zu Bramall.
»Ich weiß«, sagte er in einem Tonfall, der
hoffentlich mitfühlend klang.
»Was wissen Sie?«, lautete Bramalls
Gegenfrage.
»Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil Sie
dem Boy Detective nicht erzählt haben, dass Sie Rose ohne Billys
Hilfe gefunden haben.«
»Hätten Sie es ihm gesagt?«
»Nein«, antwortete Reacher. »Er braucht
nicht alles zu wissen. Was ist in Oklahoma passiert?«
»Er ist über eine rote Ampel gefahren. Das
System hat seinen Namen und sein Foto ausgespuckt. Noble hat mit
ihm telefoniert und versucht, etwas aus ihm rauszubekommen. Die
Frage ist nun, warum er das getan hat. Aus reinem Mitgefühl, weil
Mrs. Mackenzie ihm in ihrer Situation leidtut? Schließlich hat sie
ihn gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten. Vielleicht hat er nur
so getan, als würde er an sie denken. Vielleicht aber auch nicht.
Oder es war ein Auftakt zu mehr. Vielleicht hat er sich überlegt,
dass er, nachdem ihm Billy auf einem
Silbertablett serviert worden ist, ebenso gut einen umfassenden
Bericht schreiben könnte. Er ist kein Mann, der gern etwas im
Ungewissen lässt. Wenn er weiß, wo Rose sich aufhält, wäre sein
erster logischer Schritt laut Vorschrift, sie als Zeugin zu
vernehmen oder als Käuferin illegaler Betäubungsmittel zu
verhaften. Oder beides. Zu diesem Zeitpunkt darf ich beides nicht
riskieren. Aus vielerlei Gründen. Vor allem deshalb nicht, weil
meine Klientin nicht möchte, dass das System ihre Schwester in die
Finger bekommt. Also hab ich’s ihm nicht erzählt. Und ja, mir ist
nicht ganz wohl dabei. Normalerweise ziehe ich es vor, Leuten wie
ihm nichts vorzuenthalten.«
»Ist Ihr Vertrag verlängert worden?«
»Für die Dauer der aktuellen Krise.«
»Wie lange dauert die noch?«
Bramall schaute zu dem Haus hinauf.
»Schwer zu beurteilen«, sagte er.
»Wie lange hält Billy dicht?«
»Wenn Noble ihn in die Mangel nimmt?«
»Selbst wenn er’s nicht tut, könnte Billy
jederzeit was Dummes sagen, fürchte ich. Irgendein versehentlicher
Hinweis, der den Boy Detective die Ohren spitzen lässt. Schließlich
geht’s hier um viel. Nach Aussage von Leuten, die den Unterschied
kennen, gibt es hier erstklassigen Stoff. Made in America, direkt
aus der Fabrik. Große Mengen in sauberen Kartons. Also genau das,
was der Boy Detective für unmöglich hält. Ich wette, dass er das
persönlich nimmt. Er wird alles daransetzen, dieses letzte Leck zu
stopfen. Dies ist nicht der richtige Augenblick, eine
Entziehungskur zu riskieren. Ihre Klientin hat bestimmt auch den
Wunsch geäußert, ihre Schwester von der geschlossenen Abteilung
eines Krankenhauses fernzuhalten.«
Bramall sah wieder zu dem Haus hinauf.
Er sagte: »Die Entscheidungen, die wir zu
treffen haben, können vermutlich nicht rasch getroffen
werden.«
»Normalerweise wohl nicht«, sagte Reacher.
»Aber dieses Mal darf auch nicht getrödelt werden.«
»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Mein Instinkt rät mir, in zwei bis drei
Tagen zu verschwinden.«
»Bis dahin sollten wir etwas von Noble
hören.«
»Einfach für mich«, sagte Reacher. »Aber Sie
haben eine Lizenz des Staates Illinois.«
»Was Sie nicht sagen! Außerdem
habe ich glaubwürdige Beweise dafür. Dass ein Mann namens Arthur
Scorpio in Rapid City, South Dakota, für das bestimmt die Western
Division zuständig ist, ein der DEA
unbekanntes Netzwerk aufgezogen hat, das mindestens Wyoming und
Montana umfasst und aus einer letzten Quelle beliefert wird, deren
Entdeckung ein großer Triumph und der Eckpfeiler einer regionalen
Erfolgsgeschichte wäre. Das alles könnte ich ihm auf einem
Silbertablett präsentieren. Professionell wäre ich sogar dazu
verpflichtet, genau das zu tun. Wenn und falls ich glaube, dass
eine Straftat verübt wird oder werden soll. Und darüber hinaus habe
ich natürlich die ethische Verpflichtung, Noble alles zu berichten,
was ich weiß.«
»Aber nicht schon jetzt«, sagte
Reacher.
»Weil die illegalen Lieferungen weiter
geduldet werden müssen. Zumindest bis meine Klientin eine andere
halbwegs legale Lieferquelle auftut.«
»Entspannen Sie sich«, sagte Reacher. »Sie
sind pensioniert.«
»Zweite Karriere.«
»Weniger Regeln als die erste.«
»Aber mehr als für Sie.«
»Oh, ich habe Regeln«, erwiderte Reacher.
»Sogar jede Menge. Eine davon ist, dass für eine invalide Veteranin
immer die Unschuldsvermutung gilt. Aber eine weitere besagt, dass
man immer abhauen soll, bevor der Staat auf der Bildfläche
erscheint. Also bin ich Ihrer Meinung. Wir müssen endlich Nägel mit
Köpfen machen.«
Das Haus blieb still, seine Tür geschlossen.
Reacher lieh sich Bramalls Smartphone und nahm es an den Ausgang
der Schlucht mit, wo man den besten Empfang hatte.
Er wählte die Nummer, die er auswendig
wusste.
Wieder meldete sich dieselbe Frau.
»West Point«, sagte sie. »Büro des
Superintendenten. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Reacher.«
»Hallo, Major.«
»Ich möchte General Simpson sprechen.«
»Augenblick, Major.«
Der Super hob ab und fragte:
»Was gibt’s Neues?«
»Wir haben sie gefunden«, antwortete
Reacher.
»Zustand?«
»Nicht unproblematisch«, sagte Reacher. »Das
Purple Heart war für schwere Gesichtsverletzungen. Sie ist von den
starken Schmerzmitteln abhängig, die sie im Lazarett erhalten hat.
Wovon sie lebt, ist nicht ganz klar.«
»Kann ich irgendwie helfen?«
»Vorläufig nur mit Informationen. Ich muss
wissen, wie es um ihre geistige Gesundheit steht. Das könnte uns im
nächsten Stadium weiterhelfen.«
»Welche Informationen brauchen Sie?«
»Sie ist durch eine Sprengfalle am
Straßenrand verwundet worden. Ich möchte mehr darüber wissen. Warum
war sie dort? Wer ist außer ihr verwundet oder getötet
worden?«
»Ich will’s versuchen.«
»Und ich möchte mehr über Porterfield
erfahren. Sie hat gesagt, es sei sicherer, nichts zu wissen. Ich
habe keine Ahnung, was sie damit meint. Wer war dieser Mann? Wir
wissen nur, dass er vor vierzehn Jahren ein frischgebackener
Leutnant war, der den ersten Cut nicht geschafft hat. Welches
Element der folgenden zwölf Jahre hat ihm solche Aufmerksamkeit
eingebracht?«
»Sanderson müsste es wissen.«
»Ich kann sie nicht unter Druck setzen, um
eine Antwort zu bekommen. Sie ist emotional sehr labil.«
»Haben Sie ihr den Ring
zurückgegeben?«
»Sie hat um Aufschub gebeten. Bis
glücklichere Zeiten kommen.«
»Werden die kommen?«
»Schon möglich«, sagte Reacher. »Der Anfang
wird am schwierigsten.«
Er gab Bramall das Handy zurück. Dann
warteten sie wieder an denselben Stellen wie am Vortag: Reacher auf
den Verandastufen, Bramall auf einem Felsblock am Rand der
Schlucht. Die Cowboys standen am Ende der Zufahrt beisammen, als
rechneten sie damit, dass bald jemand aufkreuzen würde.
Bei Stackley handelte es sich um einen Mann,
nach dessen Überzeugung Fakten und
Informationen sofort ausgewertet werden sollten. Im modernen
Geschäftsleben war das die Regel Nummer eins. Oder vielleicht nach
strikter Kostenkontrolle die Regel Nummer zwei. Darüber waren die
Wirtschaftsmagazine sich nicht immer einig. Um sicherzugehen,
beherzigte er beide Regeln. In seinem Truck sitzend las er jeden
Morgen seine Textnachrichten und hörte seine Voicemails ab. Deshalb
wusste er an diesem Tag sofort, dass der große Kerl von der
Bildfläche verschwinden musste. Seine ersten Telefongespräche
befassten sich damit, wie das über die Bühne gehen sollte.
Delegieren sei das Markenzeichen einer erfolgreichen Führungskraft,
fand er. Regel Nummer eins in heutigen Zeiten. Oder zwei oder drei.
Oder welche auch immer. Aber sie war jedenfalls wichtig.
Als Stackley in Mule Crossing abbog, hatte
er sich seine Strategie zurechtgelegt. Als er an der Einfahrt des
Hauses seines Vorgängers Billy vorbeikam, hatte er sich für einen
Köder entschieden. Und als er an der Einfahrt zu dem Haus
vorbeikam, das früher einem Mann namens Porterfield gehört hatte,
stand auch fest, wo und wie er ihn auslegen würde.
Er fuhr viele Meilen weiter und bog auf die
vorletzte Einfahrt rechts ab, auf die – wie er vom Vortag wusste –
vier langsame, unwegsame Meilen folgten. Nicht gut für seinen
Truck. Aber er war ein Mann, nach dessen Überzeugung Produktivität
die volle Nutzung aller Gegenstände des Anlagevermögens erforderte.
In heutigen Zeiten war das die Regel Nummer eins.
Reacher hörte, wie die Haustür hinter ihm
aufging, und drehte sich um. Er sah, wie Mackenzie ins Freie trat.
Im Schatten hinter ihr war eine kleine Gestalt zu erahnen. Etwas
Silbriges. Mackenzie schloss die Tür und kam die wenigen Stufen
herunter. Sie schaute zu den Cowboys hinüber, die immer noch an der
Zufahrt standen. Dann ging sie zu Bramall, und Reacher folgte ihr.
Sie suchte sich einen Felsblock und nahm darauf Platz. Reacher
entschied sich für einen zwei Meter entfernten Felsen. Bramall
blieb sitzen, wo er war. So wirkten sie wie drei Schiffbrüchige an
einer Felsenküste, die einen Plan schmiedeten. Die endlos weite
Ebene hinter ihnen glich einem Ozean.
Mackenzie sagte: »Wir machen Fortschritte,
glaube ich. Mehr, als ich in so kurzer Zeit für möglich gehalten
hätte. Aber nur, wenn sie wirklich meint, was sie sagt. Manchmal
kommt’s mir vor, als wäre sie viel zu rasch mit allem einverstanden. Weil alles in der
Zukunft liegt. Sie weiß, dass sich heute nichts ändern wird. Das
scheint ihr ganzer Horizont zu sein. Aber jeder Tag wird zum Heute,
wenn man ihn erreicht. Sie muss diese Sache ernst nehmen. Sie muss
begreifen, dass irgendwann der Tag kommt, an dem ich sie mitnehmen
werde.«
»Wann wird das sein?«, fragte Bramall.
»Eine geeignete Wohnung und ein
verständnisvoller Arzt sind die wesentlichen Komponenten. Die Suche
danach kann sofort beginnen, während wir noch hier warten. Gleich
ab morgen, wenn wir wollen. Übrigens habe ich beschlossen, hier
einzuziehen. Ich denke, das sollten wir alle. Hier stehen überall
leere Häuser. Die Fahrerei ins Hotel und zurück ist
lächerlich.«
Bramall fragte: »Einziehen?«
»Effizienter, finden Sie nicht auch? Bin ich
die ganze Zeit in ihrer Nähe, kann ich mich die ganze Zeit um sie
kümmern. Vielleicht kommen wir so schneller weiter.«
Bramall sagte: »Wir wissen nicht, wem dieses
Haus gehört.«
»Jemandem, der sich drei Jahre nicht mehr
hat blicken lassen. Warum soll er gerade jetzt auftauchen? Wir
bleiben nicht lange hier.«
Bramall fragte: »Wie lange, denken
Sie?«
»Das hängt ganz von der Wohnungs- und
Arztsuche ab.«
»Ungefähr?«
»Geistig richte ich mich auf einen Monat
ein«, sagte sie. »Schlimmstenfalls zwei.«
Von der Zufahrt her waren Motoren- und
Fahrgeräusche zu hören, und die Cowboys traten etwas zur Seite.
Reacher sah einen verbeulten alten Pick-up unter den Bäumen
hervorkommen. Auf der Ladefläche trug er einen Campingaufbau aus
Kunststoff. Diesen Wagen hatte er schon mal gesehen. Auf der
unbefestigten Straße. Entgegenkommend, mit einem Kerl am Steuer,
vielleicht Ende dreißig, nach vorn starrend, nicht auf sie
achtend.
Mackenzie drehte sich um.
»Das muss Stackley sein«, erklärte sie.
»Rose hat gehofft, er würde heute wieder vorbeischauen.«