47
Sanderson ging etwas vom Gas, um einen Mann auf der nächsten Fahrspur vorbeizulassen, fuhr dann auf die Interstate hinaus und beschleunigte wieder auf sechzig. Viereinhalb Minuten bis zur Raststätte. Der Durango rumpelte und war laut. Nicht Bramalls Ansprüchen entsprechend. Aber bestimmt besser als ihr uralter Bronco.
Sie fragte: »Wie viel haben wir erbeutet?«
Das Wichtigste zuerst.
»Weit mehr als für zwei Wochen«, antwortete er. »Das steht verdammt fest. Sie schulden mir jetzt die Story.«
»Ich hab die ganze Arbeit gemacht.«
»Spielt keine Rolle. Sie haben versprochen, mir die Story zu erzählen, wenn wir heute Abend gewinnen. Wer die Arbeit gemacht hat, ist unwichtig.«
»Wenn ich es gesehen habe«, sagte sie. »Wenn ich für mehr als zwei Wochen gesehen habe.«
»Wir haben viel mehr.«
»Ich will darin baden.«
»Das sollten Sie auch. Sie haben sich klasse gehalten.«
»Danke.«
»Geht’s Ihnen immer noch gut?«
»Haben Sie bemerkt, wie die Kerle meine Schwester angestarrt haben?«
»Ja«, sagte Reacher.
»Haben Sie gesehen, wie sie mich angestarrt haben?«
»Ja«, sagte Reacher noch mal.
»So geht’s mir jetzt.«
Sie fuhren gleich wieder von der Interstate ab, nur ein Katzensprung bis zur Raststätte. Sie rollten an den Benzin- und Dieselzapfsäulen vorbei, an den Schnellrestaurants, der Highway Patrol und der Brückenwaage der Straßenmeisterei. Bis zu dem Motel, für das Bramall aus zwei Gründen plädierte. Hier gab es Parkplätze nach hinten hinaus, sodass sein Toyota sich gut verstecken ließ. Und es lag so absurd nahe am Tatort, dass niemand auf die Idee käme, sie dort zu suchen. Dies war South Dakota. Der Instinkt würde dazu raten, am äußersten Rand eines Kreisbogens zu suchen, dessen Radius sich mit jeder Stunde um sechzig Meilen vergrößerte. Niemand würde ganz in der Nähe suchen.
Sanderson fuhr nach hinten auf den Parkplatz, wo der Toyota bereits wartete. Bramall und Mackenzie standen auf beiden Seiten der Hecktür. Die offen stand. Sie hatten die Ladung ordentlich gestapelt.
Die spektakulär war.
Sie bestand aus Dutzenden und Aberdutzenden Kartons, die zu einem Quader mit einem Meter Seitenlänge aufgeschichtet waren. Die Kartons trugen ein Firmenlogo und Etiketten mit Mengenangaben. Es gab Zehner-, Zwanziger-, Fünfziger- und Hunderterpackungen. Wieder und wieder. Ein Karton enthielt zwanzig Packungen zu zwanzig Pflastern. Allein das waren vierhundert Stück.
»Mehr als zwei Wochen«, konstatierte Sanderson.
Sie beugte sich hinein, zog einen Karton heraus, öffnete ihn und entnahm eine Folienpackung von der Größe einer dicken Spielkarte. Sie steckte sie ein. Die reichste Frau der Welt. Der neue Goldstandard für Reichtum. Eine Abhängige mit mehr als einem Hit.
Sie wandte sich Reacher zu und sagte: »Jetzt erzähle ich Ihnen die Story.«
»Später«, sagte er. »Ich muss erst Arthur Scorpio einen Besuch abstatten.«
»Ich komme mit«, erklärte sie. »Scorpio spielt darin eine Rolle.«
Sie durchsuchten den Inhalt von Mackenzies Tragetasche und fanden das Handy, das sie dem Wachposten abgenommen hatten. Einige alte Textnachrichten waren noch gespeichert – auch die eine, in der er Scorpio berichtet hatte: Heute Nacht alles gut, auch der neue Billy . Die neueren klangen weniger zufrieden und waren sehr einseitig. Seit 0.15 Uhr hatte Scorpio immer drängender Informationen angefordert. Was geht hier vor? Verlange dringend Rückmeldung!
Reacher sagte: »Schreibt ihm, dass es eine Verzögerung gegeben hat. Teilt ihm mit, dass der Kerl zum Waschsalon unterwegs ist, um ihn möglichst bald persönlich zu informieren. Schreibt wie er.«
Mackenzie übernahm diese Aufgabe. Sie schien das Technische am besten zu beherrschen.
Sanderson tauschte ihre Ruger mit nur noch einem Schuss gegen Bramalls Colt mit drei Patronen ein.
Dann stieg sie wieder mit Reacher in den Durango, und die beiden fuhren los.
Gloria Nakamura hatte den ganzen Ablauf unter den Bäumen versteckt verfolgt. Nach einiger Überlegung hatte sie herausgefunden, weshalb der Toyota dort geparkt war, wo er stand. Aus demselben Grund, aus dem andere Leute anderswo parkten: Wozu weiter gehen als nötig? Die Leute aus dem Toyota waren in Gegenrichtung unterwegs gewesen. Nicht zurück zu den Toiletten, sondern in das Wäldchen. Anscheinend ziellos, außer das Depot der Straßenmeisterei lag dort. Das musste der Fall sein, denn aus welchem Grund wären sie sonst in diese Richtung unterwegs gewesen? Ein Zirkelschluss, der ihr jedoch logisch erschien.
Sie folgte ihnen.
Sie machte unter den letzten Bäumen halt.
Sie sah Bigfoot. Sie sah Terrence Bramall aus Chicago. Den Privatdetektiv, der ihr den Frühstückstisch weggenommen hatte. Zweimal. Sie sah eine schöne Frau. Sie sah eine grausig entstellte zweite Frau. Ihr gehörte der Ring, das wusste sie instinktiv. Der Ring, den sie einmal kurz getragen hatte. West Point 2005. Der mit dem schwarzen Stein.
Sie beobachtete weiter. Bramall und die schöne Frau gingen durch das Wäldchen zurück. Sie passierten Nakamura mit zehn Meter Abstand, ohne sie zu entdecken. Danach geschah fast eine Stunde lang nichts. Anschließend begannen Autos einzutreffen und in die inzwischen beleuchtete Garage zu fahren. Schließlich kam ein in New Jersey zugelassener weißer Kastenwagen herangerast, genau wie sie’s vorhergesagt hatte. Ein Gespenst von einem Fahrzeug, theoretisch nicht existent, nirgends verzeichnet.
Dann fiel ein Schuss, und der schwarze Toyota kehrte zurück, fuhr hinein und kam heraus. Wenig später folgte ihm ein Dodge Durango. Danach herrschte zunächst Stille, bis ungefähr ein Dutzend Männer sich zögernd ins Freie wagten. Jetzt standen sie beisammen und schienen zu beratschlagen.
Sie wirkten kleinlaut.
Nakamura kam mit ihrer Plakette in einer Hand und ihrer Pistole in der anderen unter den Bäumen hervor.
Die Kerle stoben in elf verschiedene Richtungen davon.
Sie verständigte ihre Dienststelle, aber sie wusste, dass das zwecklos war. Die Interstate gehörte den State Troopers, nicht ihren Kollegen von der Verkehrspolizei, und nachts konnten jede Menge Kerle unentdeckt über alle drei Fahrbahnen rennen und nach Süden oder Norden in eine so weitläufige Dunkelheit verschwinden, dass sie effektiv unendlich war.
Sie waren fort.
Sie inspizierte den leeren Kastenwagen, die acht geparkten Fahrzeuge und die alte Limousine draußen vor dem Tor. Dann ging sie durch das Wäldchen zurück und fuhr wieder nach Rapid City. Sie wollte sehen, was Scorpio machte.
Sanderson und Reacher benutzten die am Klinger’s vorbeiführende vierspurige Straße. Sie kaute die ganze Zeit gleichmäßig. Sie badete nicht in dem Zeug, sondern achtete nur darauf, den Fentanylspiegel zu halten. Er hatte das Gefühl, die erbeutete Riesenmenge Fentanyl habe sie verändert. Als Abhängiger machte man sich vermutlich immer Sorgen. Der nächste Dollar, der nächste Hit, der nächste Tag, die nächste Stunde. Sie hatte keine Sorgen mehr. Sie würde sehr lange keine mehr haben. Vielleicht nie mehr, wenn die Sache mit ihrer Schwester klappte. War sie also noch abhängig? Nicht auf gleiche Weise. Jetzt würde sie nur noch die guten Seiten erleben. Buchstäblich ein Dauerhoch ohne deprimierende Phasen.
Reacher konnte sehen, dass dieses High sich lohnte. Nicht an ihrem Gesichtsausdruck, der unverändert blieb. Aber ihre Augen wirkten lebendig. Und ihr Körper. Sie machte den Eindruck, als wäre dies der beste Tag in ihrem Leben. Ohne eine fast tödliche Dosis. Früher vielleicht notwendig, um zu verdrängen, wie schlimm die übrigen zwölf Stunden des Tages sein würden. Aber nun war damit Schluss. Jetzt konnte sie es ruhig angehen lassen. Vielleicht würde sie wieder fast normal leben können.
Das lag außerhalb seines Erfahrungsbereichs.
Er sagte: »Der Super hat mir erzählt, weshalb Sie am Ende der Straße außerhalb der Stadt gelebt haben.«
Sie sagte: »Das hab ich Ihnen erzählt.«
»Sie erzählten mir, dass Sie das Unterstützungsunternehmen repräsentiert haben. Repräsentieren ist ein Fünfdollarwort. Es wäre vielleicht passend, wenn die Aufforderung von einem höheren Offizier gekommen wäre. Aber Sie waren bereits Major. Man braucht keinen Colonel, der einem erklärt, wie man sich bergauf zurückzieht.«
Sie schwieg einen Augenblick.
Dann fragte sie: »Woher hat der Super das gewusst?«
»Ein Psychiater hat ein Papier veröffentlicht.«
»Und er hat’s gelesen?«
»Er hat Sie gesucht.«
»Bullshit.«
»Er hat Leute angerufen, die ihm verpflichtet waren.«
»Meinetwegen?«
»Er hat gesagt, Sie hätten sich verraten gefühlt.«
»Von dem Psychiater?«
»Von der Situation, meinte er.«
Sie schwieg wieder.
Dann sagte sie: »Ich war lange im Krankenhaus und habe dort viele Leute kennengelernt. Denen ein Arm oder ein Bein fehlte. Glauben Sie mir, keiner von ihnen hatte es leicht. Aber ich habe diese Kerle gehasst. Die Beinamputierten haben Shorts getragen. Sie haben das Beste aus ihrer Lage gemacht. Mit dem Verlust eines Beins hätte ich mich abfinden können. Auch wenn’s nur für einen Gefallen gewesen wäre. Ich war fünfmal im Ausland eingesetzt. Irgendwann musste irgendein Scheiß passieren. Vielleicht sogar ein Arm. Aber nicht mein Gesicht. Sie haben gesehen, wie diese Kerle mich angestarrt haben.«
Er schwieg.
Sanderson sagte: »Sie haben es falsch aufgeschrieben. Haben bloß Kästchen abgehakt. Ich habe mich nie verraten gefühlt. In Wirklichkeit hatte ich das Gefühl, Pech gehabt zu haben. Buchstäblich zum ersten Mal in meinem Leben. Anfangs kannte ich dieses Gefühl gar nicht. Weil es etwas völlig Neues darstellte. Es war, als würde man mit dem Unglück eines ganzen Lebens an einem einzigen Tag überschüttet. Mit allem, was überhaupt schiefgehen konnte. Natürlich war der Typ, der mich gebeten hatte, ihn zu vertreten, irgendwo in der Stadt unterwegs, um sich einen Tripper zu holen. Das musste so sein. Das war unvermeidlich. Mich hat überrascht, dass es nichts Schlimmeres war.«
Er sagte: »Erzählen Sie mir jetzt Porterfields Geschichte.«
Sie senkte den Kopf, sah zu den Straßenschildern auf.
Sie fragte: »Wissen Sie, wo wir sind?«
Er antwortete: »Ein paar Straßen weiter biegen wir rechts ab. Dann irgendwo wieder links.«
»Ich würde lieber erst mal halten.«
»Wozu?«
»Um Ihnen seine Geschichte zu erzählen. Bevor wir dort ankommen.«
Nakamura bremste auf der Querstraße und ließ den Chevy langsam weiterrollen, bis die Sicht perfekt war. Scorpios Hintertür stand einen Spalt weit offen. Sie konnte einen Streifen Licht sehen.
Sie stellte den Motor ab.
Sie stieg aus und legte die halbe Strecke zu Fuß zurück. Das Oberste Gericht sagte, wenn sie sich ziemlich sicher sei, dass an einem öffentlichen Ort eine Straftat begangen wurde, dürfe sie ohne Durchsuchungsbeschluss eingreifen. Scorpios Büro hinter seinem Waschsalon war jedoch kein öffentlicher Ort. In solchen Fällen verlangte das Oberste Gericht praktisch Beweise für einen Notfall. Zum Beispiel Schüsse oder Schreie oder Hilferufe.
Auf der Gasse herrschte Totenstille.
Sie schlich näher heran.
Sie konnte Scorpios Stimme hören. Er sprach leiernd. Ein Monolog am Telefon. Er hinterließ eine Nachricht. Seine Stimme klang besorgt. Er verlangte Antworten. Bestimmt von dem Mann am Tor. Seinem Vertreter vor Ort. Der sich nicht melden konnte. Reacher hatte ihnen die Handys abgenommen. Seine Stimme war selbst unter den Bäumen deutlich zu hören gewesen. Sie hatte felsenfest geglaubt, dass er jeden Verweigerer ins Knie schießen würde.
Sie schlich weiter.
Scorpio telefonierte nicht mehr. Aus seinem Büro drang kein Laut. Vielleicht ein kaum wahrnehmbares Summen. Vielleicht das Geräusch eines Ventilators. Bestimmt keine Schüsse oder Schreie oder Hilferufe.
Sie schlich noch näher heran.
Sie versuchte, durch den Spalt zu spähen.
Der Blickwinkel war ungünstig.
Sie legte ihre Fingerspitzen an die Tür und stieß sie auf.
Sanderson hielt auf dem Parkplatz einer kleinen Ladenzeile, stellte den Wählhebel auf P, ließ aber den Motor laufen. Der Durango war vollgetankt. Bereit für eine lange Fahrt nach irgendwo. Eine Verkaufsfahrt. Vielleicht in Idaho oder im Bundesstaat Washington.
Sie sagte: »Wie sich gezeigt hat, befinden sich in der Leistengegend viele Nerven.«
»Wer wusste davon?«, fragte Reacher.
»Sy hatte dauernd Schmerzen. Abhängig war er natürlich auch. Anfangs hat er die Medikamente direkt vom Marine Corps bekommen. Dann ist die Belieferung eingestellt worden. Ohne Angabe von Gründen. Erst hat er gedacht, irgendein Stabsarzt sei übervorsichtig. Schließlich waren das starke Opiate. Aber er brauchte sie. Er erhob Einspruch, aber das hat nichts genützt. Also fing er an, einen Arzt nach dem anderen aufzusuchen. Fast überall. Dann begann er, Stoff zu kaufen. Was ganz leicht war. Damals gab es noch reichlich davon. Das machte ihn wütend. Alle sonstigen Quellen haben gesprudelt. Wieso war das Corps also übervorsichtig? Er ist wieder dort vorstellig geworden. Sie haben zögerlich zugegeben, dass der wahre Grund nicht übermäßige Vorsicht war. Ihre Vorräte waren praktisch erschöpft. Sie konnten nichts mehr verschreiben.«
»Jemand hatte gestohlen.«
»Sy hat es sich zum Ziel gesetzt, den Dieb zu überführen. Um seinetwillen und um aller verwundeten Marines willen. Für diesen Job war er wie geschaffen. Schließlich kannte er den Markt bereits als Käufer. Er gehörte längst zu dem Netzwerk. Er brauchte nur ein bisschen herumzustochern. Als er herausfand, wer der Kerl war, hat er alles aufgeschrieben und der Defense Intelligence Agency geschickt.«
»Warum ihr?«
»Er hatte eine Theorie. Die DIA ist für alle Teilstreitkräfte zuständig. Dort war seine Anzeige besser aufgehoben als beim Marine Corps. Es hätte sie vielleicht unterdrückt.«
»Wie ist’s weitergegangen?«
»Wir haben gewartet. Wir rechneten mit fünf bis sechs Tagen. Die Postverbindung von dort war schlecht. Aber wir dachten, die DIA würde sich sofort melden. Tatsächlich haben wir ein halbes Jahr lang nichts von ihr gehört. Dann ist Sy der Haftbefehl zugestellt worden.«
»Jemand wollte seinen Arsch retten.«
»Das hat Sy auch geglaubt. Er gab sofort auf. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Gegen den Staat kommt man nicht an. Weil es Frühling wurde, sind wir in den Bergwald umgezogen. Die Bäume trieben gerade erst aus. Sy fühlte sich so glücklich wie selten zuvor. Er war eigentlich ein Kerl von der Ostküste, seinem Wesen nach eher zurückhaltend, aber an diesem Tag hat er herumgepusselt, auf Grashalmen gekaut und den Mountain Man gespielt. Wir haben uns in die Sonne gelegt. Wir hatten Stoff in der Tasche. An einem Tag wie diesem wussten wir, dass wir beide bis ans Limit gehen würden. Wir waren ein Paar, das ein gemeinsames Hobby verband. Wir wollten gemeinsam etwas Episches erleben.«
»Was ist passiert?«
»Er ist gestorben.«
Nakamura stieß die Tür etwas weiter auf. Fünfzehn Zentimeter, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig. Sie machte einen langen Hals und beugte sich in den Raum. Scorpio kehrte ihr den Rücken zu. Er saß allein an einem langen Arbeitstisch voller Computer und Peripheriegeräte, deren Lüfter summten. PC -Tower, Bildschirme, Tastaturen, Mäuse. Sie holte ihre Plakette aus der Tasche, zog ihre Dienstwaffe und stieß die Tür ganz auf.
Das hörte Scorpio. Oder er fühlte den Luftzug oder spürte ihre Gegenwart.
Er drehte sich um.
»Sitzen bleiben«, befahl sie. »Lassen Sie mich Ihre Hände sehen.«
Er sagte: »Das ist Hausfriedensbruch.«
»Sie begehen ein Verbrechen.«
»Sie belästigen mich.«
Sie trat einen Schritt näher, hob ihre Pistole.
Sie sagte: »Auf den Fußboden legen! Auf den Bauch.«
Er sagte: »Lassen Sie diese lächerliche Vorstellung. Ich mache nach einem langen Arbeitstag meine Abrechnung. Damit ich meine Steuern zahlen kann, von denen Ihr Gehalt gezahlt wird. Eine der vielen Lasten, die wir kleinen Geschäftsleute zu tragen haben.«
»Sie hacken die Sicherheitsmaßnamen der Pharmaindustrie, die von staatlichen Stellen überwacht wird. Werden sie russische Software finden? Dann sitzen Sie echt in der Scheiße.«
»Ich führe einen Waschsalon.«
»Den Waschsalon der Zukunft. Hier drinnen sieht’s wie bei IBM aus. Aber Ihr System ist gerade abgestürzt. Kontrollieren Sie Ihr GPS . Ihr Kastenwagen steht in der Halle mit den Schneepflügen. Reacher hat den Schlüssel mitgenommen. Und alles andere.«
Scorpio äußerte sich nicht dazu.
Sie steckte die Plakette ein und zog ihre Handschellen heraus.
Dann zerfiel alles.
Hinter ihr tauchte ein Kerl mit zwei Kaffeebechern aus dem Spätverkauf in der offenen Tür auf. Schwarze Jacke, schwarzer Pullunder, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Über einen Meter achtzig groß. Mit einem Bluterguss am Hals. Sie hatte ihn schon mal gesehen.
Scorpios Faust traf ihren Hinterkopf, und sie sackte zusammen. Ihre Pistole rutschte metallisch scheppernd über den Boden. Sie war sekundenlang so benommen, dass sie kaum spürte, wie sie hochgerissen und durch den Raum geschleift wurde. Als sie wieder klar denken konnte, saß sie auf dem Fußboden und war an ein Tischbein gefesselt. Mit ihren eigenen Handschellen. Ihr Rock war hochgerutscht. Sie zog ihn mit einer Hand herunter. Ihre Umhängetasche war verschwunden. Mit ihrem Handy.
Scorpio fragte sie: »Was haben Sie mit ›und alles andere‹ gemeint?«
Sie antwortete: »Alles eben.«
Der Mann in Schwarz fragte: »Soll ich hinfahren und nachsehen?«
»Ich fahre mit«, sagte Scorpio.
Er betrachtete den Hinterausgang, die innere Tür und zuletzt Nakamura.
»Fahr den Wagen vor«, befahl er. »Ich gehe vorn raus. Sie lassen wir einfach hier.«
Der Mann in Schwarz hastete hinaus. Scorpio sperrte den Hinterausgang ab. Er setzte sich wieder und starrte einen der Bildschirme an.
Nakamura sagte: »Mit Ihrem Geschäft ist Schluss.«
»Nein«, entgegnete er. »Mit meinem Geschäft ist niemals Schluss. Man muss beweglich sein, das ist alles. Eine Tür schließt sich, eine andere öffnet sich. Nichts dauert ewig. Ich muss nur eine andere Bezugsquelle finden. Das habe ich schon mehrmals bewerkstelligt.«
Er ließ sie an den Tisch gefesselt auf dem Fußboden sitzend zurück. Er machte das Licht aus, ging durch die innere Tür in den Waschsalon und schloss sie hinter sich. In dem Büro wurde es stockfinster. Sie hörte, wie die Tür von der anderen Seite abgesperrt wurde. Gleich danach vernahm sie, wie sich die Straßentür öffnete. Das konnte nicht Scorpio sein, der hinausging. Viel zu früh. Er war noch zehn Meter von der Tür entfernt. Das musste jemand gewesen sein, der hereinkam. Vermutlich der Mann in Schwarz, der den Wagen vorgefahren hatte.
Dann hörte sie eine gedämpfte Stimme.
Vertraut.
Sie glaubte zu hören: »Was haben Sie in Ihren Taschen?«
Sanderson sagte: »Nachträglich ist mir klar geworden, dass er nicht auf Grashalmen kaute. Oder nur auf Grashalmen. Das sollte verbergen, was er wirklich tat. Er hatte die Party vorzeitig begonnen und die große Überdosis im Visier. Eine normalerweise tödliche Dosis auf dem Weg den Hügel hinauf und eine weitere, als wir dort ankamen. Er hat sein Leben gehasst. Die Sache mit der DIA gab ihm noch mal Auftrieb. Aber damit war jetzt Schluss. Sie hatten sich gegen ihn verschworen. Er hat aufgegeben. Dieses Mal wollte er hineingehen, wenn sich das Tor für ihn öffnete.«
Reacher schwieg.
»Und warum auch nicht?«, fragte sie. »Damit hatte alles ein Ende. Er war mittellos, was für ihn ein Problem darstellte. Wie mein Unglück für mich. Ich habe zugeschaut, wie er gegangen ist. Er war glücklich und zufrieden. Er wusste, was kommen würde, glaube ich. Er lag von Tannenduft umgeben auf dem Rücken. Seine Atmung wurde langsamer und langsamer. Dann hörte sie ganz auf. So war’s damals.«
»Tut mir leid.«
»Ich war traurig – meinetwegen. Für ihn war ich glücklich. Für ihn war’s das Beste, wie man so sagt. Ich habe ihn dort zurückgelassen. Er liebte diesen Bergwald. Er liebte seine Tierwelt. Ich habe meine Sachen zusammengepackt und bin nach Hause gefahren.«
»Was ist bei dem Einbruch gestohlen worden?«
»Sein Exemplar der Anzeige. In der Schreibtischschublade. Wo jeder es zuerst gesucht hätte.«
»Was hat in seiner Anzeige gestanden?«
»Altmodischer Barverkauf am Tor des Versorgungsdepots. Ein Oberstleutnant in einem Sanitätsbataillon des Marine Corps hat Arthur Scorpio mit Stoff beliefert. Das war Scorpios Geschäftsmodell vor zwei Jahren. Heute hat er eine andere Quelle. Aber damals hat Sy den Stoff gekauft, den er umsonst hätte bekommen sollen. Unglaublich! Wahrscheinlich hat der Oberstleutnant die Anzeige gesehen und das Problem hinter den Kulissen aus der Welt geschafft.«
»Scorpio wusste auch von Sy«, sagte Reacher. »Er nannte mir seinen Namen als Köder.«
»Vielleicht hat er ihn von dem Oberstleutnant erfahren.«
»Möglicherweise war aber auch er es, der ihn dem Oberstleutnant erzählt hat. Wenn der Dachdecker Dinge gesehen hat, hat Billy sie auch gesehen. Vielleicht hat der sie Scorpio erzählt, der sie wiederum dem Oberstleutnant gesteckt hat. Die Ermittlungen hatten noch nicht begonnen. Jetzt würde es nie mehr dazu kommen. Der Kerl hat sie durch den falschen Haftbefehl abgewürgt. Nur dieser zeitliche Ablauf ist logisch.«
»Sie glauben, dass Scorpio ihn verraten hat.«
»Wir sollten weiterfahren«, meinte Reacher. »Wird Zeit, ihm einen Besuch abzustatten.«