47
Sanderson ging etwas vom Gas, um einen Mann
auf der nächsten Fahrspur vorbeizulassen, fuhr dann auf die
Interstate hinaus und beschleunigte wieder auf sechzig. Viereinhalb
Minuten bis zur Raststätte. Der Durango rumpelte und war laut.
Nicht Bramalls Ansprüchen entsprechend. Aber bestimmt besser als
ihr uralter Bronco.
Sie fragte: »Wie viel haben wir
erbeutet?«
Das Wichtigste zuerst.
»Weit mehr als für zwei Wochen«, antwortete
er. »Das steht verdammt fest. Sie schulden mir jetzt die
Story.«
»Ich hab die
ganze Arbeit gemacht.«
»Spielt keine Rolle. Sie haben versprochen,
mir die Story zu erzählen, wenn wir heute Abend gewinnen. Wer die
Arbeit gemacht hat, ist unwichtig.«
»Wenn ich es gesehen habe«, sagte sie. »Wenn
ich für mehr als zwei Wochen gesehen habe.«
»Wir haben viel mehr.«
»Ich will darin baden.«
»Das sollten Sie auch. Sie haben sich klasse
gehalten.«
»Danke.«
»Geht’s Ihnen immer noch gut?«
»Haben Sie bemerkt, wie die Kerle meine
Schwester angestarrt haben?«
»Ja«, sagte Reacher.
»Haben Sie gesehen, wie sie mich angestarrt
haben?«
»Ja«, sagte Reacher noch mal.
»So geht’s mir jetzt.«
Sie fuhren gleich wieder von der Interstate
ab, nur ein Katzensprung bis zur Raststätte. Sie rollten an den
Benzin- und Dieselzapfsäulen vorbei, an den Schnellrestaurants, der
Highway Patrol und der Brückenwaage der Straßenmeisterei. Bis zu
dem Motel, für das Bramall aus zwei Gründen plädierte. Hier gab es
Parkplätze nach hinten hinaus, sodass sein Toyota sich gut verstecken ließ. Und es lag so absurd
nahe am Tatort, dass niemand auf die Idee käme, sie dort zu suchen.
Dies war South Dakota. Der Instinkt würde dazu raten, am äußersten
Rand eines Kreisbogens zu suchen, dessen Radius sich mit jeder
Stunde um sechzig Meilen vergrößerte. Niemand würde ganz in der
Nähe suchen.
Sanderson fuhr nach hinten auf den
Parkplatz, wo der Toyota bereits wartete. Bramall und Mackenzie
standen auf beiden Seiten der Hecktür. Die offen stand. Sie hatten
die Ladung ordentlich gestapelt.
Die spektakulär war.
Sie bestand aus Dutzenden und Aberdutzenden
Kartons, die zu einem Quader mit einem Meter Seitenlänge
aufgeschichtet waren. Die Kartons trugen ein Firmenlogo und
Etiketten mit Mengenangaben. Es gab Zehner-, Zwanziger-, Fünfziger-
und Hunderterpackungen. Wieder und wieder. Ein Karton enthielt
zwanzig Packungen zu zwanzig Pflastern. Allein das waren
vierhundert Stück.
»Mehr als zwei Wochen«, konstatierte
Sanderson.
Sie beugte sich hinein, zog einen Karton
heraus, öffnete ihn und entnahm eine Folienpackung von der Größe
einer dicken Spielkarte. Sie steckte sie ein. Die reichste Frau der
Welt. Der neue Goldstandard für Reichtum. Eine Abhängige mit mehr
als einem Hit.
Sie wandte sich Reacher zu und sagte: »Jetzt
erzähle ich Ihnen die Story.«
»Später«, sagte er. »Ich muss erst Arthur
Scorpio einen Besuch abstatten.«
»Ich komme mit«, erklärte sie. »Scorpio
spielt darin eine Rolle.«
Sie durchsuchten den Inhalt von Mackenzies
Tragetasche und fanden das Handy, das sie dem Wachposten abgenommen
hatten. Einige alte Textnachrichten waren noch gespeichert – auch
die eine, in der er Scorpio berichtet hatte: Heute Nacht alles gut, auch der neue Billy .
Die neueren klangen weniger zufrieden und waren sehr einseitig.
Seit 0.15 Uhr hatte Scorpio immer drängender Informationen
angefordert. Was geht hier vor? Verlange
dringend Rückmeldung!
Reacher sagte: »Schreibt ihm, dass es eine
Verzögerung gegeben hat. Teilt ihm mit, dass der Kerl zum
Waschsalon unterwegs ist, um ihn möglichst bald persönlich zu
informieren. Schreibt wie er.«
Mackenzie übernahm diese Aufgabe. Sie schien
das Technische am besten zu
beherrschen.
Sanderson tauschte ihre Ruger mit nur noch
einem Schuss gegen Bramalls Colt mit drei Patronen ein.
Dann stieg sie wieder mit Reacher in den
Durango, und die beiden fuhren los.
Gloria Nakamura hatte den ganzen Ablauf
unter den Bäumen versteckt verfolgt. Nach einiger Überlegung hatte
sie herausgefunden, weshalb der Toyota dort geparkt war, wo er
stand. Aus demselben Grund, aus dem andere Leute anderswo parkten:
Wozu weiter gehen als nötig? Die
Leute aus dem Toyota waren in Gegenrichtung unterwegs gewesen.
Nicht zurück zu den Toiletten, sondern in das Wäldchen. Anscheinend
ziellos, außer das Depot der Straßenmeisterei lag dort. Das musste
der Fall sein, denn aus welchem Grund wären sie sonst in diese
Richtung unterwegs gewesen? Ein Zirkelschluss, der ihr jedoch
logisch erschien.
Sie folgte ihnen.
Sie machte unter den letzten Bäumen
halt.
Sie sah Bigfoot. Sie sah Terrence Bramall
aus Chicago. Den Privatdetektiv, der ihr den Frühstückstisch
weggenommen hatte. Zweimal. Sie sah eine schöne Frau. Sie sah eine
grausig entstellte zweite Frau. Ihr gehörte der Ring, das wusste
sie instinktiv. Der Ring, den sie einmal kurz getragen hatte.
West Point 2005. Der mit dem
schwarzen Stein.
Sie beobachtete weiter. Bramall und die
schöne Frau gingen durch das Wäldchen zurück. Sie passierten
Nakamura mit zehn Meter Abstand, ohne sie zu entdecken. Danach
geschah fast eine Stunde lang nichts. Anschließend begannen Autos
einzutreffen und in die inzwischen beleuchtete Garage zu fahren.
Schließlich kam ein in New Jersey zugelassener weißer Kastenwagen
herangerast, genau wie sie’s vorhergesagt hatte. Ein Gespenst von
einem Fahrzeug, theoretisch nicht existent, nirgends
verzeichnet.
Dann fiel ein Schuss, und der schwarze
Toyota kehrte zurück, fuhr hinein und kam heraus. Wenig später
folgte ihm ein Dodge Durango. Danach herrschte zunächst Stille, bis
ungefähr ein Dutzend Männer sich zögernd ins Freie wagten. Jetzt
standen sie beisammen und schienen zu beratschlagen.
Sie wirkten kleinlaut.
Nakamura kam mit ihrer Plakette in einer
Hand und ihrer Pistole in der anderen
unter den Bäumen hervor.
Die Kerle stoben in elf verschiedene
Richtungen davon.
Sie verständigte ihre Dienststelle, aber sie
wusste, dass das zwecklos war. Die Interstate gehörte den State
Troopers, nicht ihren Kollegen von der Verkehrspolizei, und nachts
konnten jede Menge Kerle unentdeckt über alle drei Fahrbahnen
rennen und nach Süden oder Norden in eine so weitläufige Dunkelheit
verschwinden, dass sie effektiv unendlich war.
Sie waren fort.
Sie inspizierte den leeren Kastenwagen, die
acht geparkten Fahrzeuge und die alte Limousine draußen vor dem
Tor. Dann ging sie durch das Wäldchen zurück und fuhr wieder nach
Rapid City. Sie wollte sehen, was Scorpio machte.
Sanderson und Reacher benutzten die am
Klinger’s vorbeiführende vierspurige Straße. Sie kaute die ganze
Zeit gleichmäßig. Sie badete nicht in dem Zeug, sondern achtete nur
darauf, den Fentanylspiegel zu halten. Er hatte das Gefühl, die
erbeutete Riesenmenge Fentanyl habe sie verändert. Als Abhängiger
machte man sich vermutlich immer Sorgen. Der nächste Dollar, der
nächste Hit, der nächste Tag, die nächste Stunde. Sie hatte keine
Sorgen mehr. Sie würde sehr lange keine mehr haben. Vielleicht nie
mehr, wenn die Sache mit ihrer Schwester klappte. War sie also noch
abhängig? Nicht auf gleiche Weise. Jetzt würde sie nur noch die
guten Seiten erleben. Buchstäblich ein Dauerhoch ohne deprimierende
Phasen.
Reacher konnte sehen, dass dieses High sich
lohnte. Nicht an ihrem Gesichtsausdruck, der unverändert blieb.
Aber ihre Augen wirkten lebendig. Und ihr Körper. Sie machte den
Eindruck, als wäre dies der beste Tag in ihrem Leben. Ohne eine
fast tödliche Dosis. Früher vielleicht notwendig, um zu verdrängen,
wie schlimm die übrigen zwölf Stunden des Tages sein würden. Aber
nun war damit Schluss. Jetzt konnte sie es ruhig angehen lassen.
Vielleicht würde sie wieder fast normal leben können.
Das lag außerhalb seines
Erfahrungsbereichs.
Er sagte: »Der Super hat mir erzählt,
weshalb Sie am Ende der Straße außerhalb der Stadt gelebt
haben.«
Sie sagte: »Das hab ich Ihnen erzählt.«
»Sie erzählten mir, dass Sie das
Unterstützungsunternehmen repräsentiert haben. Repräsentieren ist
ein Fünfdollarwort. Es wäre vielleicht
passend, wenn die Aufforderung von einem höheren Offizier gekommen
wäre. Aber Sie waren bereits Major. Man braucht keinen Colonel, der
einem erklärt, wie man sich bergauf zurückzieht.«
Sie schwieg einen Augenblick.
Dann fragte sie: »Woher hat der Super das
gewusst?«
»Ein Psychiater hat ein Papier
veröffentlicht.«
»Und er hat’s gelesen?«
»Er hat Sie gesucht.«
»Bullshit.«
»Er hat Leute angerufen, die ihm
verpflichtet waren.«
»Meinetwegen?«
»Er hat gesagt, Sie hätten sich verraten
gefühlt.«
»Von dem Psychiater?«
»Von der Situation, meinte er.«
Sie schwieg wieder.
Dann sagte sie: »Ich war lange im
Krankenhaus und habe dort viele Leute kennengelernt. Denen ein Arm
oder ein Bein fehlte. Glauben Sie mir, keiner von ihnen hatte es
leicht. Aber ich habe diese Kerle gehasst. Die Beinamputierten
haben Shorts getragen. Sie haben das Beste aus ihrer Lage gemacht.
Mit dem Verlust eines Beins hätte ich mich abfinden können. Auch
wenn’s nur für einen Gefallen gewesen wäre. Ich war fünfmal im
Ausland eingesetzt. Irgendwann musste irgendein Scheiß passieren.
Vielleicht sogar ein Arm. Aber nicht mein Gesicht. Sie haben
gesehen, wie diese Kerle mich angestarrt haben.«
Er schwieg.
Sanderson sagte: »Sie haben es falsch
aufgeschrieben. Haben bloß Kästchen abgehakt. Ich habe mich nie
verraten gefühlt. In Wirklichkeit hatte ich das Gefühl, Pech gehabt
zu haben. Buchstäblich zum ersten Mal in meinem Leben. Anfangs
kannte ich dieses Gefühl gar nicht. Weil es etwas völlig Neues
darstellte. Es war, als würde man mit dem Unglück eines ganzen
Lebens an einem einzigen Tag überschüttet. Mit allem, was überhaupt
schiefgehen konnte. Natürlich war der Typ, der mich gebeten hatte,
ihn zu vertreten, irgendwo in der Stadt unterwegs, um sich einen
Tripper zu holen. Das musste so sein. Das war unvermeidlich. Mich
hat überrascht, dass es nichts Schlimmeres war.«
Er sagte: »Erzählen Sie mir jetzt
Porterfields Geschichte.«
Sie senkte den Kopf, sah zu den
Straßenschildern auf.
Sie fragte: »Wissen Sie, wo
wir sind?«
Er antwortete: »Ein paar Straßen weiter
biegen wir rechts ab. Dann irgendwo wieder links.«
»Ich würde lieber erst mal halten.«
»Wozu?«
»Um Ihnen seine Geschichte zu erzählen.
Bevor wir dort ankommen.«
Nakamura bremste auf der Querstraße und ließ
den Chevy langsam weiterrollen, bis die Sicht perfekt war. Scorpios
Hintertür stand einen Spalt weit offen. Sie konnte einen Streifen
Licht sehen.
Sie stellte den Motor ab.
Sie stieg aus und legte die halbe Strecke zu
Fuß zurück. Das Oberste Gericht sagte, wenn sie sich ziemlich
sicher sei, dass an einem öffentlichen Ort eine Straftat begangen
wurde, dürfe sie ohne Durchsuchungsbeschluss eingreifen. Scorpios
Büro hinter seinem Waschsalon war jedoch kein öffentlicher Ort. In
solchen Fällen verlangte das Oberste Gericht praktisch Beweise für
einen Notfall. Zum Beispiel Schüsse oder Schreie oder
Hilferufe.
Auf der Gasse herrschte Totenstille.
Sie schlich näher heran.
Sie konnte Scorpios Stimme hören. Er sprach
leiernd. Ein Monolog am Telefon. Er hinterließ eine Nachricht.
Seine Stimme klang besorgt. Er verlangte Antworten. Bestimmt von
dem Mann am Tor. Seinem Vertreter vor Ort. Der sich nicht melden
konnte. Reacher hatte ihnen die Handys abgenommen. Seine Stimme war
selbst unter den Bäumen deutlich zu hören gewesen. Sie hatte
felsenfest geglaubt, dass er jeden Verweigerer ins Knie schießen
würde.
Sie schlich weiter.
Scorpio telefonierte nicht mehr. Aus seinem
Büro drang kein Laut. Vielleicht ein kaum wahrnehmbares Summen.
Vielleicht das Geräusch eines Ventilators. Bestimmt keine Schüsse
oder Schreie oder Hilferufe.
Sie schlich noch näher heran.
Sie versuchte, durch den Spalt zu
spähen.
Der Blickwinkel war ungünstig.
Sie legte ihre Fingerspitzen an die Tür und
stieß sie auf.
Sanderson hielt auf dem
Parkplatz einer kleinen Ladenzeile, stellte den Wählhebel auf P,
ließ aber den Motor laufen. Der Durango war vollgetankt. Bereit für
eine lange Fahrt nach irgendwo. Eine Verkaufsfahrt. Vielleicht in
Idaho oder im Bundesstaat Washington.
Sie sagte: »Wie sich gezeigt hat, befinden
sich in der Leistengegend viele Nerven.«
»Wer wusste davon?«, fragte Reacher.
»Sy hatte dauernd Schmerzen. Abhängig war er
natürlich auch. Anfangs hat er die Medikamente direkt vom Marine
Corps bekommen. Dann ist die Belieferung eingestellt worden. Ohne
Angabe von Gründen. Erst hat er gedacht, irgendein Stabsarzt sei
übervorsichtig. Schließlich waren das starke Opiate. Aber er
brauchte sie. Er erhob Einspruch, aber das hat nichts genützt. Also
fing er an, einen Arzt nach dem anderen aufzusuchen. Fast überall.
Dann begann er, Stoff zu kaufen. Was ganz leicht war. Damals gab es
noch reichlich davon. Das machte ihn wütend. Alle sonstigen Quellen
haben gesprudelt. Wieso war das Corps also übervorsichtig? Er ist
wieder dort vorstellig geworden. Sie haben zögerlich zugegeben,
dass der wahre Grund nicht übermäßige Vorsicht war. Ihre Vorräte
waren praktisch erschöpft. Sie konnten nichts mehr
verschreiben.«
»Jemand hatte gestohlen.«
»Sy hat es sich zum Ziel gesetzt, den Dieb
zu überführen. Um seinetwillen und um aller verwundeten Marines
willen. Für diesen Job war er wie geschaffen. Schließlich kannte er
den Markt bereits als Käufer. Er gehörte längst zu dem Netzwerk. Er
brauchte nur ein bisschen herumzustochern. Als er herausfand, wer
der Kerl war, hat er alles aufgeschrieben und der Defense
Intelligence Agency geschickt.«
»Warum ihr?«
»Er hatte eine Theorie. Die DIA ist für alle Teilstreitkräfte zuständig.
Dort war seine Anzeige besser aufgehoben als beim Marine Corps. Es
hätte sie vielleicht unterdrückt.«
»Wie ist’s weitergegangen?«
»Wir haben gewartet. Wir rechneten mit fünf
bis sechs Tagen. Die Postverbindung von dort war schlecht. Aber wir
dachten, die DIA würde sich sofort
melden. Tatsächlich haben wir ein halbes Jahr lang nichts von ihr
gehört. Dann ist Sy der Haftbefehl zugestellt worden.«
»Jemand wollte seinen Arsch retten.«
»Das hat Sy auch geglaubt. Er gab sofort
auf. Manchmal gewinnt man, manchmal
verliert man. Gegen den Staat kommt man nicht an. Weil es Frühling
wurde, sind wir in den Bergwald umgezogen. Die Bäume trieben gerade
erst aus. Sy fühlte sich so glücklich wie selten zuvor. Er war
eigentlich ein Kerl von der Ostküste, seinem Wesen nach eher
zurückhaltend, aber an diesem Tag hat er herumgepusselt, auf
Grashalmen gekaut und den Mountain Man gespielt. Wir haben uns in
die Sonne gelegt. Wir hatten Stoff in der Tasche. An einem Tag wie
diesem wussten wir, dass wir beide bis ans Limit gehen würden. Wir
waren ein Paar, das ein gemeinsames Hobby verband. Wir wollten
gemeinsam etwas Episches erleben.«
»Was ist passiert?«
»Er ist gestorben.«
Nakamura stieß die Tür etwas weiter auf.
Fünfzehn Zentimeter, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig. Sie machte
einen langen Hals und beugte sich in den Raum. Scorpio kehrte ihr
den Rücken zu. Er saß allein an einem langen Arbeitstisch voller
Computer und Peripheriegeräte, deren Lüfter summten. PC -Tower, Bildschirme, Tastaturen, Mäuse. Sie
holte ihre Plakette aus der Tasche, zog ihre Dienstwaffe und stieß
die Tür ganz auf.
Das hörte Scorpio. Oder er fühlte den
Luftzug oder spürte ihre Gegenwart.
Er drehte sich um.
»Sitzen bleiben«, befahl sie. »Lassen Sie
mich Ihre Hände sehen.«
Er sagte: »Das ist Hausfriedensbruch.«
»Sie begehen ein Verbrechen.«
»Sie belästigen mich.«
Sie trat einen Schritt näher, hob ihre
Pistole.
Sie sagte: »Auf den Fußboden legen! Auf den
Bauch.«
Er sagte: »Lassen Sie diese lächerliche
Vorstellung. Ich mache nach einem langen Arbeitstag meine
Abrechnung. Damit ich meine Steuern zahlen kann, von denen Ihr
Gehalt gezahlt wird. Eine der vielen Lasten, die wir kleinen
Geschäftsleute zu tragen haben.«
»Sie hacken die Sicherheitsmaßnamen der
Pharmaindustrie, die von staatlichen Stellen überwacht wird. Werden
sie russische Software finden? Dann sitzen Sie echt in der
Scheiße.«
»Ich führe einen Waschsalon.«
»Den Waschsalon der Zukunft. Hier drinnen
sieht’s wie bei IBM aus. Aber Ihr
System ist gerade abgestürzt. Kontrollieren Sie Ihr GPS . Ihr
Kastenwagen steht in der Halle mit den Schneepflügen. Reacher hat
den Schlüssel mitgenommen. Und alles andere.«
Scorpio äußerte sich nicht dazu.
Sie steckte die Plakette ein und zog ihre
Handschellen heraus.
Dann zerfiel alles.
Hinter ihr tauchte ein Kerl mit zwei
Kaffeebechern aus dem Spätverkauf in der offenen Tür auf. Schwarze
Jacke, schwarzer Pullunder, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Über
einen Meter achtzig groß. Mit einem Bluterguss am Hals. Sie hatte
ihn schon mal gesehen.
Scorpios Faust traf ihren Hinterkopf, und
sie sackte zusammen. Ihre Pistole rutschte metallisch scheppernd
über den Boden. Sie war sekundenlang so benommen, dass sie kaum
spürte, wie sie hochgerissen und durch den Raum geschleift wurde.
Als sie wieder klar denken konnte, saß sie auf dem Fußboden und war
an ein Tischbein gefesselt. Mit ihren eigenen Handschellen. Ihr
Rock war hochgerutscht. Sie zog ihn mit einer Hand herunter. Ihre
Umhängetasche war verschwunden. Mit ihrem Handy.
Scorpio fragte sie: »Was haben Sie mit ›und
alles andere‹ gemeint?«
Sie antwortete: »Alles eben.«
Der Mann in Schwarz fragte: »Soll ich
hinfahren und nachsehen?«
»Ich fahre mit«, sagte Scorpio.
Er betrachtete den Hinterausgang, die innere
Tür und zuletzt Nakamura.
»Fahr den Wagen vor«, befahl er. »Ich gehe
vorn raus. Sie lassen wir einfach hier.«
Der Mann in Schwarz hastete hinaus. Scorpio
sperrte den Hinterausgang ab. Er setzte sich wieder und starrte
einen der Bildschirme an.
Nakamura sagte: »Mit Ihrem Geschäft ist
Schluss.«
»Nein«, entgegnete er. »Mit meinem Geschäft
ist niemals Schluss. Man muss beweglich sein, das ist alles. Eine
Tür schließt sich, eine andere öffnet sich. Nichts dauert ewig. Ich
muss nur eine andere Bezugsquelle finden. Das habe ich schon
mehrmals bewerkstelligt.«
Er ließ sie an den Tisch gefesselt auf dem
Fußboden sitzend zurück. Er machte das Licht aus, ging durch die
innere Tür in den Waschsalon und schloss sie hinter sich. In dem
Büro wurde es stockfinster. Sie hörte, wie die Tür von der anderen
Seite abgesperrt wurde. Gleich danach vernahm sie, wie sich die
Straßentür öffnete. Das konnte nicht Scorpio sein, der hinausging.
Viel zu früh. Er war noch zehn Meter von der Tür entfernt. Das
musste jemand gewesen sein, der
hereinkam. Vermutlich der Mann in Schwarz, der den Wagen
vorgefahren hatte.
Dann hörte sie eine gedämpfte Stimme.
Vertraut.
Sie glaubte zu hören: »Was haben Sie in
Ihren Taschen?«
Sanderson sagte: »Nachträglich ist mir klar
geworden, dass er nicht auf Grashalmen kaute. Oder nur auf
Grashalmen. Das sollte verbergen, was er wirklich tat. Er hatte die
Party vorzeitig begonnen und die große Überdosis im Visier. Eine
normalerweise tödliche Dosis auf dem Weg den Hügel hinauf und eine
weitere, als wir dort ankamen. Er hat sein Leben gehasst. Die Sache
mit der DIA gab ihm noch mal
Auftrieb. Aber damit war jetzt Schluss. Sie hatten sich gegen ihn
verschworen. Er hat aufgegeben. Dieses Mal wollte er hineingehen,
wenn sich das Tor für ihn öffnete.«
Reacher schwieg.
»Und warum auch nicht?«, fragte sie. »Damit
hatte alles ein Ende. Er war mittellos, was für ihn ein Problem
darstellte. Wie mein Unglück für mich. Ich habe zugeschaut, wie er
gegangen ist. Er war glücklich und zufrieden. Er wusste, was kommen
würde, glaube ich. Er lag von Tannenduft umgeben auf dem Rücken.
Seine Atmung wurde langsamer und langsamer. Dann hörte sie ganz
auf. So war’s damals.«
»Tut mir leid.«
»Ich war traurig – meinetwegen. Für ihn war
ich glücklich. Für ihn war’s das Beste, wie man so sagt. Ich habe
ihn dort zurückgelassen. Er liebte diesen Bergwald. Er liebte seine
Tierwelt. Ich habe meine Sachen zusammengepackt und bin nach Hause
gefahren.«
»Was ist bei dem Einbruch gestohlen
worden?«
»Sein Exemplar der Anzeige. In der
Schreibtischschublade. Wo jeder es zuerst gesucht hätte.«
»Was hat in seiner Anzeige gestanden?«
»Altmodischer Barverkauf am Tor des
Versorgungsdepots. Ein Oberstleutnant in einem Sanitätsbataillon
des Marine Corps hat Arthur Scorpio mit Stoff beliefert. Das war
Scorpios Geschäftsmodell vor zwei Jahren. Heute hat er eine andere
Quelle. Aber damals hat Sy den Stoff gekauft, den er umsonst hätte
bekommen sollen. Unglaublich! Wahrscheinlich hat der Oberstleutnant
die Anzeige gesehen und das Problem
hinter den Kulissen aus der Welt geschafft.«
»Scorpio wusste auch von Sy«, sagte Reacher.
»Er nannte mir seinen Namen als Köder.«
»Vielleicht hat er ihn von dem
Oberstleutnant erfahren.«
»Möglicherweise war aber auch er es, der ihn
dem Oberstleutnant erzählt hat. Wenn der Dachdecker Dinge gesehen
hat, hat Billy sie auch gesehen. Vielleicht hat der sie Scorpio
erzählt, der sie wiederum dem Oberstleutnant gesteckt hat. Die
Ermittlungen hatten noch nicht begonnen. Jetzt würde es nie mehr
dazu kommen. Der Kerl hat sie durch den falschen Haftbefehl
abgewürgt. Nur dieser zeitliche Ablauf ist logisch.«
»Sie glauben, dass Scorpio ihn verraten
hat.«
»Wir sollten weiterfahren«, meinte Reacher.
»Wird Zeit, ihm einen Besuch abzustatten.«