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Noble sagte: »Ich habe Wort für Wort aufgeschrieben, was Sie mir erzählt haben, und von einer Software checken lassen, die unsere Datenbanken automatisch darauf überprüft, ob wir irgendwelche Namen schon aus anderen Gründen kennen. Und der Name Seymour Porterfield war blockiert. Also habe ich ein bisschen nachgegraben und festgestellt, dass wir drei verschiedene Akten über den Mann haben – alle gesperrt, alle mit streng geheimen Passwörtern gesichert.«
Reacher fragte: »Über welche Art Mann würde eine Akte dieser Art angelegt werden?«
»Über einen Informanten«, erklärte Noble. »Das ist eine Sicherheitsmaßnahme.«
»Interessant.«
»Ich muss herausfinden, wer Porterfield war.«
»Er hatte eine teure Küche.«
»Sie müssen mir erzählen, was Sie über ihn wissen.«
»Über Porterfield weiß ich praktisch nichts. Er hat gern Jeans getragen und sein Haus geschmackvoll eingerichtet. Aber das ist mir eigentlich egal. Ich bin nicht seinetwegen hier.«
»Eine dieser Akten betrifft Porterfield und eine weitere Person. Den Codes nach war diese zweite Person eine Frau. Ich kann das Datum nicht auslesen, aber die Einordnung lässt darauf schließen, dass sie vor ungefähr zwei Jahren angelegt und kurz vor Porterfields Tod von irgendjemandem geöffnet worden ist.«
»Interessant«, wiederholte Reacher. »Wie tief waren diese Akten vergraben?«
»Sehr tief. Aber ich glaube nicht, dass sie DEA -Originale sind, sondern dass eine andere Dienststelle sie uns zur Information in Kopie übermittelt hat.«
»Welche?«
»Der Code ist ziemlich exotisch. Kein FBI - oder ATF -Code. Er erinnert an den, als wir Special Forces in Kolumbien eingesetzt hatten. Nichts von außerhalb, verstehen Sie? Eher aus dem engeren Umkreis unserer Zentrale.«
»Okay«, sagte Reacher, »ich verstehe. Vergessen Sie nicht, in Oklahoma anzurufen.«
Er trennte die Verbindung. Berichtete den anderen, was er erfahren hatte.
Mackenzie fragte: »Hilft uns das weiter?«
»Weiß ich nicht«, sagte Reacher. »Wer Porterfield vor zwei Jahren war, sagt uns nicht unbedingt, wo Rose sich heute befindet. Wir sollten nicht zu viel Zeit darauf verwenden, sondern lieber vor dem vierten Haus noch mal anhalten. Ich könnte dort telefonieren, während wir warten.«
Sie parkten wie ein Cop mit einer Radarpistole leicht schräg zur Fahrbahn auf dem Bankett. Vor ihnen lagen zwölf Heimstätten, alle weit voneinander entfernt und von hier aus nicht zu sehen, entlang vierzig weiteren Meilen der unbefestigten Straße verteilt. Auf der im Augenblick niemand unterwegs war. Reacher lieh sich Bramalls Smartphone und wählte wieder die alte Nummer, die er noch im Kopf hatte.
Dieselbe Frau meldete sich.
»West Point«, sagte sie. »Büro des Superintendenten. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Reacher.«
»Hallo, Major.«
»Ich möchte den Super sprechen.«
»Sie wissen nicht, wie er heißt, stimmt’s?«
»Im Augenblick nicht.«
»General Simpson. Er wird sich freuen, dass Sie anrufen. Er hat Informationen für Sie. Augenblick, Major.«
Nach mehrmaligem Klicken folgte eine Pause, nach der sich der Super meldete.
Er sagte: »Major.«
Reacher sagte: »General.«
Er verzichtete auf den Namen Simpson. Nur für den Fall, dass er nicht stimmte. In West Point gehörte es einfach dazu, anderen Streiche zu spielen. Obwohl er sehr bezweifelte, dass die Frau am Telefon ihn hatte reinlegen wollen, wusste er das nicht sicher.
Der Super fragte: »Welche Fortschritte haben Sie gemacht?«
»Einige«, antwortete Reacher. »Ich glaube, dass ich dem richtigen Ort ziemlich nahe bin.«
»Der wo liegt?«
»Untere rechte Ecke von Wyoming.«
»Sie ist also wieder zu Hause.«
»Nicht genau, aber nicht weit davon entfernt. In der Nähe eines Orts namens Mule Crossing habe ich Spuren gefunden. Sie war vor ungefähr eineinhalb Jahren dort. Und ich vermute, dass sie noch irgendwo in der Nähe lebt.«
Der Super sagte: »Es gibt etwas, das Sie wissen müssen. Es könnte wichtig sein. Aus Neugier wollte ich einen Blick in Sandersons Personal- und Krankenakte werfen. Aber das konnte ich nicht. Sie ist doppelt und dreifach gegen jeden Zugriff gesichert. Dahinter stecken Ihre Leute, glaube ich.«
»Meine Leute?«
»Militärpolizei.«
»Wann?«
»Schwer zu beurteilen. Nicht erst in letzter Zeit. Vermutlich gleich nach ihrem Ausscheiden aus dem Militärdienst. Vielleicht vor zwei Jahren.«
»Okay«, sagte Reacher. »Jetzt raten Sie mal, weswegen ich anrufe.«
»Wie könnte ich das?«
»Das Haus, in dem ich Hinweise gefunden habe, hat einem Mann gehört, der in einer staatlichen Datenbank ebenfalls eine versiegelte Akte hat. Sogar drei versiegelte Akten. Eine davon ist vor ungefähr zwei Jahren angelegt worden und zeigt den Mann mit einer Frau. Aber das scheinen keine Originalakten zu sein. Die Leute von der Datenbank vermuten, dass sie die Akten von einer anderen Stelle zur Information erhalten haben.«
»Wissen sie, von welcher?«
»Sie tippen aufs Pentagon.«
»Das finde ich interessant«, meinte der Super. »Aber Sie haben nicht nur angerufen, um mich zu unterhalten. Sie wollen, dass ich irgendwas tue.«
»Wen kennen Sie hier unten?«
»Ein paar Leute.«
»Sind die Ihnen was schuldig?«
»Welches Risiko würden sie damit eingehen?«
»Kein sehr großes. Dieser Fall ist seit eineinhalb Jahren kalt. Er ist längst Geschichte. Und sie brauchen sich nicht detailliert zu äußern. Sie sollen nur bestätigen oder verneinen, dass Sanderson die Frau in der Akte des damaligen Hausbesitzers war. Er hat Seymour Porterfield geheißen. Der Sozialversicherung müsste eine Todesmeldung des hiesigen Sheriffs vom Frühjahr letzten Jahres vorliegen.«
»Er lebt nicht mehr?«
»Dies ist Wyoming. Von einem Bären gefressen.«
Reacher buchstabierte Porterfields Namen, auch seinen Vornamen.
Der Super wiederholte beide Namen.
»Danke, General«, sagte Reacher. »Sie können mich unter dieser Nummer erreichen. Allerdings meldet sich Mr. Bramall, mein Partner.«
»Danke, Major.«
Reacher fragte: »Sir, heißen Sie Simpson?«
»Korrekt«, antwortete der Super. »Sean Simpson.«
»Ja, Sir«, sagte Reacher aus reiner Gewohnheit.
Er trennte die Verbindung und gab das Handy Bramall zurück, der es zum Laden einsteckte.
Sie warteten noch eine Stunde am Straßenrand, ohne jemanden zu sehen außer einer kleinen Elchherde, die auf einer Talseite unter den Bäumen auftauchte und auf die andere Talseite wechselte. Hoch über ihnen segelten schwarze Raubvögel ohne einen einzigen Flügelschlag.
Die Straße blieb leer.
»Tut mir leid«, sagte Mackenzie. »Hab mich wieder geirrt. Jede Idee sieht wie eine gute Idee aus. Bis sie sich als falsch erweist.«
»Keiner von uns hatte eine bessere Idee«, sagte Reacher.
»Vielleicht ist es gut, wenn wir sie nicht sehen. Das würde bedeuten, dass sie nicht weiß, was Billy verkauft. Dann wäre alles in Ordnung mit ihr. Jemand hat ihr den Ring gestohlen. Das haben Sie selbst gesagt.«
»Bester Fall.«
»Der aber manchmal eintritt.«
»Manchmal«, sagte Reacher.
»Wie häufig?«
»Öfter als niemals. Seltener als immer.«
»Augenblick!«, sagte Bramall plötzlich. Er deutete nach vorn.
Auf der Straße vor ihnen war jetzt eine Staubfahne zu erkennen. Weit im Westen, am höheren Horizont. Sie ging von einem winzigen Punkt an der Spitze aus, der im Dunst verschwamm, aber rasch näher kam.
Sie warteten. Der Punkt wurde größer, und die Staubfahne wirbelte hinter ihm her, erzeugte sich kegelförmig immer wieder neu und hing wie von internen aerodynamischen Kräften gehalten endlos lange über der Straße, bevor sie endlich schlaff wurde, und Wind und Schwerkraft nachgebend zur Erde sank.
»Ich bin gespannt«, sagte Bramall.
Er nahm sein Handy aus dem Ladegerät und hielt sich bereit, ein Foto zu machen.
Sie warteten.
Ein SUV raste an ihnen vorbei, ein uraltes Modell, kantig, verbeult und klobig, mit einer Schicht aus Rost und rotem Staub bedeckt, die so dick war, als wäre sie festgebacken. Die Scheiben waren genauso verdreckt, nur die Frontscheibe wies zwei verschmierte Halbkreise von den Wischern auf, wo die Staubschicht dünner war. Durch diese Scheibe erhaschten sie für Bruchteile einer Sekunde einen Blick ins Wageninnere.
Nur ein flüchtiger, verschwommener Eindruck.
Eine kleine Gestalt, die sich rasch abwandte.
Und etwas Silbriges.