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Jack Reacher und Michelle Chang verbrachten drei Tage in Milwaukee. Am vierten Morgen war sie fort. Als Reacher mit Kaffee ins Zimmer zurückkam, fand er auf seinem Kopfkissen ein paar Zeilen. Solche kurzen Abschiedsbriefe hatte er schon mehrmals gesehen. Direkt oder indirekt besagten sie alle das Gleiche. Changs Zeilen waren indirekt. Und eleganter als die meisten. Aber nicht, was die Präsentation betraf: mit Kugelschreiber auf ein von Feuchtigkeit gewelltes Blatt Motelpapier gekritzelt. Aber elegant im Ausdruck. Sie hatte eine Metapher gewählt, um zu erklären und zu schmeicheln und sich zu entschuldigen – alles gleichzeitig. Sie hatte geschrieben: Du bist wie New York. Ich besuche es liebend gern, aber ich könnte nicht dort leben .
Er tat, was er immer tat. Er ließ sie ziehen. Er hatte Verständnis. Keine Entschuldigung nötig. Er konnte nirgends auf Dauer leben. Sein ganzes Leben war ein Besuch. Wer hätte das ertragen können? Er trank seinen Kaffee und dann ihren, nahm seine Zahnbürste aus dem Glas im Bad mit und ging durch ein Labyrinth aus Straßen, links und rechts, in Richtung Busbahnhof davon. Sie würde in einem Taxi sitzen, vermutete er. Zum Flughafen unterwegs. Sie hatte eine Gold Card und ein Smartphone.
Am Busbahnhof tat er, was er immer tat: Er kaufte ein Ticket für den nächsten abfahrenden Bus, unabhängig von dessen Ziel. Das erwies sich als eine weit im Nordwesten gelegene Endstation am Ufer des Lake Superior. Im Prinzip die falsche Richtung. Kälter, nicht wärmer. Aber Regeln sind Regeln, deshalb stieg er ein. Unterwegs sah er aus dem Fenster. Wisconsin flitzte vorbei, seine Wiesen stoppelig und voller Heuballen, seine Weiden abgegrast, seine Bäume dunkel und wuchtig. Der Sommer ging zu Ende.
Dies war das Ende mehrerer Dinge. Chang hatte die üblichen Fragen gestellt, die in Wirklichkeit getarnte Feststellungen waren. Ein Jahr konnte sie verstehen. Absolut. Ein Junge, der auf Militärstützpunkten im Ausland aufgewachsen war und später auf solchen Stützpunkten Dienst getan hatte – ohne etwas dazwischen außer vier Jahren West Point, das nicht gerade als Ponyhof bekannt war; dieser Kerl würde sich natürlich ein Jahr Auszeit nehmen, um zu reisen und sich in der Welt umzusehen, bevor er sesshaft wurde. Vielleicht sogar zwei Jahre. Aber nicht mehr. Und nicht auf Dauer. Tatsache war, dass die Nadel des Pathologiemeters ausgeschlagen hatte.
Alles das wurde besorgt, aber ohne moralische Verurteilung gesagt. Keine große Sache, nur ein zweiminütiges Gespräch. Aber die Message war klar, so klar, wie eine Message dieser Art nur sein konnte. Irgendwas mit Verweigerung. Er hatte gefragt: Verweigerung von was? Er hielt seine Lebensweise nicht insgeheim für ein Problem.
Das beweist alles, sagte sie.
Also stieg er in den Bus zu einer Endstation und wäre bis zuletzt an Bord geblieben, weil Regeln eben Regeln sind, aber dann wollte er sich bei der zweiten Pinkelpause die Beine vertreten und sah im Schaufenster eines Pfandleihers einen Ring.
Die zweite Pinkelpause wurde spätnachmittags am trübseligen Rand einer Kleinstadt eingelegt. Vielleicht der Verwaltungssitz eines Countys. Oder der Sitz eines kleinen Teils seiner Verwaltung. Vielleicht war das County Police Department hier untergebracht. In dieser Stadt gab es ein Gefängnis, das war klar. Reacher konnte die Büros von Kautionsstellern und ein Leihhaus sehen. Voller Service gleich hier nebeneinander in der etwas heruntergekommenen Straße, die sich an den Toilettenblock anschloss.
Er war vom Sitzen steif. Er suchte die Straße jenseits des Toilettenblocks ab. Er begann auf sie zuzugehen. Ohne bestimmten Grund. Nur um sich die Beine zu vertreten. Nur um verspannte Muskeln zu lockern. Als er näher kam, zählte er die Gitarren im Schaufenster des Leihhauses. Sieben. Alle mit traurigen Geschichten. Wie die Songs eines Countrysenders. Unerfüllte Träume. Weiter unten im Schaufenster gab es Glasregale mit kleinerem Zeug. Aller mögliche Schmuck. Darunter auch Ringe. Auch Klassenringe. Aus allen möglichen Highschools. Nur einer stach heraus. Auf einem stand West Point 2005.
Der Ring war ein schönes Stück. Konventionelle Form und konventioneller Stil, mit komplizierter Filigranarbeit und einem schwarzen Stein, vielleicht Glas, vielleicht ein Halbedelstein, in einer ovalen Fassung, auf der oben West Point und unten die Jahreszahl 2005 eingraviert war. Lettern im alten Stil. Nach klassischem Muster. Respekt vor alten Zeiten – oder Mangel an Fantasie. West Pointer entwarfen ihre Ringe selbst. Sie waren in der Gestaltung völlig frei. Eine alte Tradition. Oder vielleicht eine Art Erstgeburtsrecht, weil die dortigen Ringe die allerersten Klassenringe gewesen waren.
Der Ring war auffällig klein.
Reacher hätte ihn an keinen Finger stecken können. Nicht mal an den kleinen Finger der linken Hand, nicht einmal über den Nagel. Bestimmt nicht übers erste Fingergelenk. Dieser Ring war winzig, ein Frauenring. Vielleicht eine Kopie für eine Freundin oder Verlobte. Das kam vor. Als Anerkennung oder Souvenir.
Vielleicht auch nicht.
Reacher stieß die Tür des Leihhauses auf. Er trat ein. Der Kerl an der Registrierkasse sah auf. Er war ein großer Bär von einem Mann, zottig und ungekämmt. Schätzungsweise Mitte dreißig, mit reichlich Fett auf einem grobknochigen Körper. Mit einer Art Gerissenheit im Blick. Jedenfalls so viel, dass seine Reaktion auf das plötzliche Erscheinen eines Besuchers, der beinahe zwei Meter groß war und hundertzehn Kilo wog, fast perfekt war. Rein durch Instinkt gesteuert. Der Kerl hatte keine Angst. Er hatte eine geladene Waffe unter dem Ladentisch. Außer er war ein Idiot. Danach sah er nicht aus. Trotzdem wollte der Kerl nicht riskieren, aggressiv zu wirken. Andererseits auch nicht unterwürfig. Eine Frage des Stolzes.
Also fragte er: »Wie läuft’s?«
Nicht gut, dachte Reacher. Ganz ehrlich gesagt. Chang würde längst wieder in Seattle sein. In ihr altes Leben zurückgekehrt.
Aber er sagte: »Kann nicht klagen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Zeigen Sie mir Ihre Klassenringe.«
Der Kerl bugsierte das Glastablett rückwärts aus dem Schaufenster. Er stellte es auf den Ladentisch. Der West-Point-Ring war wie ein winziger Golfball zur Seite gerollt. Reacher griff danach. Der Ring war innen graviert, also keine Kopie für eine Freundin oder Verlobte. Kopien wurden niemals graviert. Auch das war eine alte Tradition. Keiner wusste, warum.
Keine Anerkennung, kein Souvenir. Hundert Prozent original. Der eigene Ring einer Kadettin, in vier harten Jahren verdient. Mit Stolz getragen. Offensichtlich. War man nicht stolz auf den Laden, ließ man sich keinen Ring anfertigen. Dazu gab es keine Verpflichtung.
Innen eingraviert war S.R.S. 2005 .
Der Busfahrer hupte dreimal. Er war abfahrbereit, aber ein Fahrgast fehlte. Reacher legte den Ring zurück, sagte »Danke« und verließ den Laden. Er hastete an dem Toilettenblock vorbei zurück und beugte sich durch die offene Bustür hinein und sagte zu dem Fahrer: »Ich bleibe hier.«
»Keine Erstattung.«
»Will auch keine.«
»Haben Sie einen Koffer im Gepäckabteil?«
»Keinen Koffer.«
»Schönen Tag noch.«
Der Mann zog an einem Hebel. Die Tür schloss sich zischend vor Reachers Gesicht. Der Motor röhrte, und der Bus fuhr ohne ihn davon. Er wandte sich von dem Dieselqualm ab und ging in Richtung Leihhaus zurück.