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Der Kerl mit der langhalsigen Flasche
erzählte: »Losgegangen ist’s im vorletzten Winter, glaub ich.
Porterfields Dach war wieder mal erbärmlich undicht. Der Freund
meines Kumpels war ständig dort draußen. Manchmal konnte er durch
eines der Fenster ins Haus schau’n. Er hat angefangen, ihre Sachen
zu sehen. Mehr und mehr davon. Aber sie hat er nie zu Gesicht
bekommen. Musste er drinnen arbeiten, war sie oft weg, und wenn sie
da war, hat sie sich im Schlafzimmer vor ihm versteckt. Das glaubte
er felsenfest.«
»Sie war nicht immer da?«, fragte
Reacher.
»Er auch nicht. Sie hat wahrscheinlich ein
eigenes Haus oder Apartment gehabt. Vermutlich haben die beiden
sich mal hier, mal dort aufgehalten.«
»Aber wenn sie da war, hat sie ihre Sachen
nicht versteckt«, sagte Reacher.
»Nein, sie lagen offen herum.«
»Könnte er sich getäuscht haben? Vielleicht
gehörte das alles Porterfield.«
Der Kerl schüttelte den Kopf und sagte:
»Bestimmt nicht, wenn’s um Nachtwäsche geht. Ein sicheres Anzeichen
ist auch, wie’s in einem Haus aussieht. Männer hinterlassen eine
andere Unordnung als Frauen. Dort gab es beide Typen. Und überhaupt
zwei von allem: zwei Menschen, zwei Teller im Ausguss, zwei Bücher
auf dem Sofa, beide Seiten des Doppelbetts mit einem
Körpereindruck.«
»Der Freund Ihres Kumpels hat sich offenbar
sehr genau damit beschäftigt.«
»Ein Dach überdeckt das ganze Haus, Mann. So
sollte’s zumindest sein.«
»Aber der Freund Ihres Kumpels hat sie nie
wirklich kennengelernt.«
»Deshalb nannte er sie seine geheime
Freundin.«
»Er hat sie nie kommen oder gehen oder auf
der Straße gesehen?«
»Niemals.«
»Hat Porterfield sie jemals erwähnt?«
Der Kerl leerte die Flasche, stellte sie auf
den Tisch.
»Er hat sie nie verleugnet«,
erklärte er, »oder hat was Komisches wie ›Hey, ich hab übrigens
keine Freundin‹ gesagt. Aber er hat auch nie gesagt: ›Meine
Freundin macht ein Nickerchen, also bitte nicht ins Schlafzimmer
gehen.‹ Er hat ihn nur aufgefordert, nicht reinzugehen. Punkt.
Immer ohne Begründung. Alles in allem war das für den Freund meines
Kumpels eine unheimliche Erfahrung. Bloß hat das nicht viel
genützt, weil ihr Zeug überall rumlag. Ich denke, ein Mann mit
schlechten Absichten wäre vorsichtiger gewesen.«
Reacher fragte: »Haben Sie die Geschichte
mit dem Bären geglaubt?«
»Haben Sie
Zweifel daran?«
»Ich war nicht dabei. Aber alle, mit denen
ich sprach, haben privat ähnlich reagiert. Das war unvermeidlich.
Ein- oder zweimal im Leben fragt man sich, was man täte, wenn es
einen Menschen gäbe, der wirklich verschwinden müsste. Oder man
fragt sich, was man täte, wenn etwas aus dem Ruder gelaufen, wenn
jemand versehentlich umgekommen wäre. In beiden Fällen würde man
ihn irgendwo im Bergwald abladen. An einem Ort wie dem, an dem
Porterfield aufgefunden wurde. Das ist nur logisch. Vielleicht
hätte man Glück mit einem der großen Raubtiere, vielleicht auch
nicht, aber auf die wäre man nicht angewiesen. Es gäbe Dutzende von
kleineren Räubern, die sich schon die Lefzen lecken würden. Worauf
ich hinauswill: Ich garantiere Ihnen, dass jeder Kerl, der von
Porterfield weiß, sich gesagt hat, yeah, genauso würde ich’s auch
machen. Ich hab’s jedenfalls getan.«
»Auch der Sheriff, denken Sie?«
»Privat bestimmt. Aber öffentlich hat er von
einem Unfall gesprochen.«
»Keine Beweise«, sagte der Kerl. »Das ist
das Schöne daran.«
»Hatte Porterfield Feinde?«
»Er war ein reicher Mann von der Ostküste.
Von denen hat bestimmt jeder Feinde.«
»Was ist aus der Frau geworden?«
»Angeblich soll sie hiergeblieben sein.
Keiner wusste genau, wo. Nach ihr Ausschau halten konnte auch
niemand, weil keiner wusste, wie sie aussah.«
»Was ist aus Porterfields Dach
geworden?«
»Der Sheriff hat dem Freund meines Kumpels
den Auftrag erteilt, es endgültig zu sanieren. Also hat er die
undichten Teile unter einem Blechdach versteckt. Das wollte er
schon immer, aber Porterfield hatte es nicht erlaubt, weil das Dach
vom Architekten anders gezeichnet worden war.«
Sie luden den Mann zu einer weiteren Flasche
seines Lieblingsbiers ein und ließen ihn dort sitzen. Dann gingen
sie zu dem Toyota zurück, der vis-à-vis dem New-Age-Café parkte: am
gegenüberliegenden Randstein ziemlich genau zwischen den beiden
Bars mit ihren Bierreklamen und schmutzigen Fenstern. Unterdessen
brannten die Straßenlampen. Der Himmel war dunkel. Das Café
ebenfalls. Aus den Bars drang trotz geschlossener Türen Lärm.
Um den Toyota herum standen drei Kerle
verteilt. Auf dem Asphalt, wo sie Schatten warfen, anscheinend
bereit, einen feindlichen Angriff abzuwehren. Sie waren groß und
schlaksig. Mit riesigen Pranken. Alle trugen Stiefel zu ihren
Jeans, einer sogar aus Schlangenleder.
Bramall hielt im Schatten inne.
Reacher und Mackenzie blieben hinter
ihm.
Mackenzie fragte: »Wer sind die
Typen?«
»Cowboys«, antwortete Reacher. »Mit
Beefsteaktatar und gegrillten Klapperschlangen aufgezogen.«
»Was wollen sie?«
»Ich vermute, dass sie uns vergraulen
sollen. Zu dieser Art Choreografie gehören meist solche
Manöver.«
»Wieso vergraulen? Was tun wir denn?«
»Wir stochern herum. Wir fragen nach einer
Frau, die unter Umständen in anstößige hiesige Geschäfte verwickelt
ist. Wir machen sie nervös.«
»Was tun wir jetzt?«
»Ich muss mit Seniorpartner abstimmen, wer
vorausgeht.«
Bramall fragte: »Was schlagen Sie
vor?«
»Ich denke, wir sollten zusammenbleiben. Ich
vielleicht einen Schritt voraus. Aber ich möchte, dass ihr ihre
Gesichter seht.«
»Wozu?«
»Verliere ich, könnt ihr an meinem
Krankenbett sitzend den Cops eine Personenbeschreibung
geben.«
»Wobei verlieren?«, fragte Mackenzie. »Ich
wette, dass sie nur mit uns reden wollen. Natürlich werden sie
aggressiv und unfreundlich und so weiter sein, aber ich glaube
nicht, dass es unbedingt zu einer Schlägerei kommen muss. Außer wir
provozieren eine.«
»Wo wohnen Sie gleich
wieder?«
»Lake Forest, Illinois.«
»Okay.«
»Was soll das heißen?«
»Dies ist schon ein Kampf. Das merkt man
daran, wie sie verteilt stehen. Jetzt heißt’s siegen oder
heimfahren.«
»Hat Scorpio sie geschickt?«
»Das wäre die logische Annahme«, entgegnete
Reacher. »Theoretisch sind das seine anstößigen Geschäfte. Offenbar
bis nach Montana hinauf. Aber es ist auch völlig unlogisch. Wozu
hätte Scorpio einem kleinen Gauner wie Billy den Auftrag geben
sollen, mich aus einem Hinterhalt zu erschießen, wenn er jederzeit
drei gut aussehende Cowboys aufbieten kann? Er hätte diese Männer
beauftragt. Vielleicht ist dies irgendein lokaler Unterausschuss.
Ein Akt spontaner Demokratie, von dem Scorpio nichts weiß.«
»Machen sie Ihnen Sorgen?«, fragte Bramall.
»Sie haben von verlieren gesprochen.«
»Cowboys sind die Schlimmsten«, sagte
Reacher. »Denen kann man nicht viel tun, was Pferde ihnen nicht
schon angetan haben.«
Er trat aus dem Schatten, ging durch die
Nacht voraus. Auf dem Beton des Gehsteigs klackten seine Absätze
laut. Hinter ihm beeilten Bramall und Mackenzie sich, keine Lücke
entstehen zu lassen. Sie verließen den Gehsteig und gingen schräg
über die Straße. Direkt auf den Toyota zu.
Die drei Männer setzten sich in Bewegung,
kamen ihnen entgegen und schlossen sich etwas zusammen, sodass sie
mit einem Kerl an der Spitze eine spiegelbildliche Formation
bildeten. Reacher setzte sich wieder mit dem ewigen Dilemma eines
Straßenkämpfers auseinander: Warum nicht den ersten Mann sofort
ausschalten? Mit einem überraschenden Kopfstoß. Ohne dabei aus dem
Tritt zu kommen.
Oft ein cleverer Schachzug.
Aber nicht immer.
Reacher blieb stehen, und die Cowboys
machten ungefähr zweieinhalb Meter von ihm entfernt ebenfalls halt.
Aus dieser Nähe sahen sie wie drei brauchbare Typen aus, fand
Reacher. Zwei schienen Anfang vierzig zu sein, der dritte war etwa
zehn Jahre jünger und der Frontmann. Er trug die Stiefel aus
Schlangenleder.
»Lasst mich raten«, begann Reacher. »Ihr
seid hier, um eine Botschaft zu
überbringen. Das ist in Ordnung. Jeder hat ein Recht darauf,
angehört zu werden. Wir geben euch dreißig Sekunden Zeit. Wenn ihr
wollt, könnt ihr gleich anfangen. Übersetzt alle Dialektwörter oder
-ausdrücke.«
Der Kerl mit den Schlangenlederstiefeln
sagte: »Die Message lautet: Geht zurück, wo ihr hergekommen seid.
Hier gibt’s nichts für euch.«
Reacher schüttelte den Kopf.
»Das kann nicht stimmen«, entgegnete er.
»Wisst ihr sicher, dass ihr die Botschaft richtig mitgekriegt habt?
Im Allgemeinen heißen die Leute hier Fremde willkommen.«
Der Kerl sagte: »Die Message stimmt.«
Sonst nichts.
Reacher sagte: »Verrate mir, wann die Stelle
kommt, wo ihr uns droht, uns in den Hintern zu treten, wenn wir uns
nicht verpissen.«
Der Kerl gab keine Antwort.
Reacher beobachtete ihn. Behielt alle drei
im Auge. Sie wichen nicht zurück. Aber sie traten auch nicht vor,
verharrten statisch. Sie glichen Anfängern, wenn der Plan nicht
mehr funktioniert. Irgendetwas hatte ihn entgleisen lassen. Nicht
Mackenzie. Sie starrten sie mehr an als mitten in einem
Verschwindet-aus-der-Stadt-Showdown angebracht, aber das war rein
biologisch bedingt. Auch sie sahen diese Frau zum ersten Mal.
Der Kerl mit den Stiefeln sagte: »Keiner
braucht in den Hintern getreten zu werden.«
»Einverstanden«, sagte Reacher. »Vor allem
wir nicht.«
»Aber ihr solltet aufgeben.«
»Hier mein Gegenangebot«, erklärte Reacher.
»Ihr lasst mich in Ruhe, und ich lasse euch in Ruhe.«
Der Kerl nickte. Nicht zustimmend, sondern
nur, um zu zeigen, dass er den Satz verstanden hatte. »Hören Sie,
Kid«, sagte Reacher und winkte den Kerl wie zu einem vertraulichen
Gespräch unter Spitzenpolitikern zu sich heran.
Reacher umfasste den Ellbogen des Typs mit
einer Hand. Eine freundliche Geste: einbeziehend, vertraulich,
vielleicht sogar verschwörerisch.
Er drückte kräftig zu.
Er flüsterte: »Sagen Sie Ihrem Auftraggeber,
dass er’s diesmal nicht mit dem FBI
, der DEA oder dem ATF zu tun hat. Bestellen Sie ihm, dass es
diesmal die U.S. Army ist.«
Der Mann reagierte. Das spürte Reacher in
seinem Ellbogen. Er ließ ihn los, und
der Abstand vergrößerte sich wieder auf zweieinhalb Meter. Reacher
blieb hoch aufgerichtet stehen. Seine alte professionelle Pose.
Früher oder später dachte jeder an Gewalt. Da war es besser, ihr
gleich zu begegnen, als wollte man sagen: »Soll das ein Witz sein?«
Also stand er hoch aufgerichtet da, den Kopf erhoben, das Kinn
vorgereckt, die Schultern gestrafft, die Hände locker herabhängend,
nicht gerade ein Freak, aber doch merklich größer als gewöhnliche
große Kerle. Dazu die Augen, die blinzeln und dabei ihren Ausdruck
schlagartig verändern konnten, als wechselte das Programm von einer
heiteren Quizshow zu einem düsteren Dokumentarfilm über den
Überlebenskampf der ersten Menschen vor Zehntausenden von
Jahren.
Dann wechselte das Programm ebenso plötzlich
wieder, und Reacher nickte auf selbstironische Weise lächelnd, als
wäre völlig klar, dass zwei Männer wie sie sich nur einen Spaß
erlaubt hatten, den die anderen vier sehr bald begreifen
würden.
Dem anderen Kerl immer eine Chance geben,
das Gesicht zu wahren.
Der Kerl mit den Schlangenlederstiefeln
ergriff sie. Er erwiderte das Lächeln, als wären sie nur zwei Old
Boys, die sich einen Jux machten, was immer passieren konnte, vor
allem in Gegenwart einer so hübschen Lady. Dann wandte er sich ab
und führte seine Männer weg. Reacher blieb auf dem Gehweg stehen
und sah ihnen nach, bis sie ihren Wagen erreichten. Sie stiegen in
einen riesigen Pick-up mit Doppelkabine, der an einem Bauzaun
voraus eingeparkt war. Der Truck stieß zurück und fuhr davon. Er
bog an der ersten Kreuzung links ab und kam außer Sicht.
»Sehen Sie?«, sagte Mackenzie. »Es hat doch
keine Schlägerei geben müssen.«
Reacher schwieg. Er starrte sie nur an. Dann
starrte er die Ecke an, um die der Pick-up verschwunden war.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Mit der falschen Sache.
Er fragte Bramall: »Haben Sie bei uns
Lehrgänge für Vernehmer absolviert?«
Bramall antwortete: »Nur das Semester mit
den Gummischläuchen.«
»Wir haben gelernt, dass ein guter Vernehmer
vor allem zuhören können muss. Seine Ausdrucksweise war seltsam.
Was er gesagt hat. Zuletzt hat er verlangt, wir sollten aufgeben.
Was meinte er damit? Was aufgeben?«
»Unsere Suche«, sagte Mackenzie. »Unsere
Suche nach Rose. Ganz eindeutig. Ich
denke, wenn man was aufgeben soll, muss man es erst mal tun, und
das ist ungefähr alles, was wir bisher getan haben. Sonst gibt’s
nichts anderes, das wir aufgeben könnten.«
»Welche Kategorie von Leuten würde sich am
meisten für unsere Suche nach Rose interessieren?«
»Alle möglichen Leute. Wir könnten auf eine
Menge verschiedener Zehen getreten sein.«
»Aber welche Kategorie von Leuten könnte das
größte Interesse daran haben?«
Mackenzie gab keine Antwort.
Sagen Sie Ihrem Auftraggeber …
In Gedanken hörte Reacher wieder General
Simpsons Stimme am Telefon aus West Point: Vielleicht will sie nicht gefunden werden. Haben Sie
sich das schon überlegt?
Dann dachte er: Nein, das kann nicht
stimmen.