Er war gerade erst aus dem
Krieg zurück, und einer der ersten Einsätze war bei einem
Lagerhausbrand in der Bronx. Ein Inferno. Mehr als hundert
Feuerwehrmänner waren im Einsatz. Irgendwann stürzte das Dach ein,
dabei kamen drei Männer ums Leben. Jim hatte Brandwunden an Armen
und Beinen. Er wollte nicht ins Krankenhaus, aber die anderen
überredeten ihn. Sein Einsatzleiter kam zu ihm ans Krankenbett und
berichtete ihm von den Kameraden, die umgekommen waren. Die
Nachricht machte Jim schwer zu schaffen. Die Ärzte gaben ihm etwas,
doch als er am nächsten Tag aufwachte, hätte er sich am liebsten
die Verbände abgerissen, um in die Feuerwache zurückzukehren.
Insgesamt blieb er drei Wochen im Krankenhaus. Zur Besuchszeit war
er nie allein, denn seine Eltern und Kollegen kamen oft, doch am
meisten freute er sich auf eine bestimmte junge Krankenschwester,
die morgens kam, um seine Verbände zu wechseln und ihn zu waschen.
Sie hieß Alice und berührte ihn so sanft, wie er es noch nie erlebt
hatte. Hübsch war sie auch.
Alice redete gerne beim
Arbeiten. Als Jim sie fragte, wo sie wohnte, erzählte sie ihm von
einer kleinen Insel vor der Küste der East Bronx im Long Island
Sound. Eine zweispurige Brücke verband die Insel mit dem Festland.
Jim war aus Yonkers und hatte noch nie von diesem Ort gehört, aber
das war nichts Besonderes. Bis zum heutigen Tag ist die Insel das
bestgehütete Geheimnis von ganz New York.
»Sie heißt Turtle Island«,
sagte Alice. Sie erzählte ihm, dass im achtzehnten Jahrhundert, als
die ersten englischen Siedler ankamen, dort Dutzende von
Riesenschildkröten auf den Felsen gelegen hatten. Die Siedler
hatten keine Mühe gehabt, ihrer neuen Heimat einen Namen zu geben.
Schildkröten nahmen sofort einen wichtigen Platz in ihrem Leben
ein. Das Fleisch aßen sie, die Haut verarbeiteten sie zu Leder, die
Panzer benutzten sie als Schüsseln oder machten daraus Schmuck. Das
Fett verwendeten sie als Öl. Innerhalb von dreißig Jahren waren die
Schildkröten ausgerottet.
Glücklicherweise war das
Meer ringsum voller Fische, und Turtle Island verwandelte sich bald
in ein kleines, stilles Fischerdorf, wie man es in Maine und
Massachusetts oft antraf. Jim fand diese Vorstellung sehr
aufregend. Er war als Junge gerne angeln gegangen. Er sagte zu
Alice, wenn er aus dem Krankenhaus käme, würde er sie gern auf der
Schildkröteninsel besuchen.
Allerdings war Alice eine
schüchterne und unschuldige junge Frau, die nicht genau wusste, wie
sie auf dieses Ansinnen reagieren sollte. Errötend erwiderte sie,
sie sei nicht sicher, ob ihn die Insel wirklich interessieren
könne. Dann fügte sie hinzu, sie sei zwar noch nicht viel
herumgekommen, aber sie könne sich nicht vorstellen, irgendwo
anders zu leben.
Natürlich lag das auch an
dem wunderschönen neuen Haus direkt am Wasser. Der Vater hatte es
im letzten Jahr ihrer Schwesternausbildung fertig gestellt. Eine
Woche, nachdem Alice und ihre Eltern dort eingezogen waren (sie
hatten bisher in der Stadtmitte gelebt), kam ihr Vater bei einem
Kranunfall um. Es war ein schrecklicher Verlust, aber Alice war
froh, dass sie das Haus hatten, das nun wie ein Stück Erinnerung an
ihren Vater war: ein einstöckiges, schindelgedecktes Haus direkt am
Ufer mit Blick auf die Pelham Bay. Zum Schutz vor Überschwemmungen
stand es auf drei Meter hohen Pfosten. Aus den Südfenstern konnte
man die zwölf Meilen entfernten massigen grauen Türme des Empire
State Building und des Chrysler Building sehen. Sie wirkten wie aus
einer anderen Welt. Aus dieser Entfernung schienen die beiden Türme
unterhalb des Horizonts zu stehen, wie die Masten eines sinkenden
Schiffes. Alice betrachtete sie oft aus ihrem Schlafzimmerfenster.
Sie waren wie zwei alte Freunde.
Als Jim ein paar Tage früher
als erwartet aus dem Krankenhaus entlassen wurde, merkte Alice
überrascht, wie traurig sie das machte. Sie war nicht da gewesen,
als man ihn entließ, und hatte sich nicht von ihm verabschieden
können. In den folgenden Tagen dachte sie fortwährend an ihn,
träumte von seinen blauen Augen, seinem tiefen Lachen und stellte
sich vor, wie es wäre, von ihm aus einem brennenden Gebäude
gerettet zu werden. Seine Feuerwache lag irgendwo in der South
Bronx, und Alice überlegte, ob sie einfach den Mut aufbringen und
ihn dort besuchen sollte. Doch sie hatte zu viel Angst, allein in
fremde Viertel der Stadt zu gehen. Sie entschied sich stattdessen
dazu, Jim einen Brief zu schreiben und ihn einzuladen, sie auf der
Schildkröteninsel zu besuchen, wie er es vorgehabt hatte. Doch als
sie den Brief abschicken wollte, verlor sie den Mut. Wenn er nun
nicht antwortete? Wenn er sie für albern hielt? Dieser Gedanke war
zu schrecklich für sie. Doch sie hoffte und betete, dass er sie
eines Tages im Krankenhaus besuchen käme. Jeder Tag, an dem das
nicht geschah, war für sie eine Qual.
Drei Wochen vergingen
langsam und schmerzlich. Alice war dreiundzwanzig Jahre alt und die
einzige Frau ihres Alters in ihrem Bekanntenkreis, die noch nicht
verheiratet war.
Nach einem Monat begann
Alice allmählich, an andere Dinge
zu denken. Sie hatte bei der Arbeit viel zu tun und half außerdem
ihrer Mutter, deren Gesundheit angegriffen war. Sie erlernte das
Stricken. Sie trat einem Chor bei, um zu singen.
Eines Nachts, als sie in
ihrem Zimmer schlief, weckte sie ein hohes, wildes Geräusch von
draußen. In ihrem halbwachen Zustand hielt sie es für die Schreie
von Seevögeln. Auf Turtle Island gab es jede Menge Seevögel: Enten,
Gänse, Möwen, Reiher, Schwäne und große weiße Silberreiher. Aber
die schmalen Strände, auf denen die Vögel sich aufhielten, lagen
auf der anderen Seite der Insel. Gewöhnlich versammelten sie sich
nicht auf der sumpfigen Seite, wo Alice’ Haus stand. Doch wenn es
keine Vögel waren, was hörte sie dann? Vorsichtig und ein wenig
ängstlich sah Alice aus dem Fenster. Dort, kurz hinter den Binsen,
schwamm ein kleines Ruderboot auf dem dunklen Wasser, das im
Mondlicht glänzte. In dem Boot stand ein Mann, und er spielte - das
war das seltsame Geräusch - einen Dudelsack! Alice schaute auf die
Uhr. Es war zwei Uhr morgens.Wütend öffnete sie das Fenster. »He,
hören Sie damit auf, Mister!«, schrie sie. »Wir wollen hier
schlafen!«
»Alice?« ertönte es da.
»Alice Thurston? Die Krankenschwester?«
Alice kniff die Augen
zusammen, um ihn besser zu sehen. Und dann wusste sie es. Es war
Jim, der Feuerwehrmann! Alice erstarrte. Ihr fiel ein, dass sie das
Haus und seine Lage in allen Einzelheiten beschrieben hatte, so
dass er es ohne Probleme gefunden hatte.
»Ich bin hier«, begann Jim,
»um dir einen Heiratsantrag zu machen. Willst du mich heiraten,
Schwester Alice?«
Alice war sprachlos, brachte
aber krächzend eine einzige Silbe heraus: »Ja.«
Ohne ein weiteres Wort
ruderte Jim in die Dunkelheit zurück.
Alice konnte nicht wieder einschlafen.War das wirklich gerade
geschehen? Hatte sie es vielleicht nur geträumt?
Am nächsten Morgen ging
Alice zur Arbeit. Sie fragte sich, was Jim wohl als Nächstes
vorhatte. Dann, gegen Mittag, sah sie ihn auf dem Gang auf sie
zukommen. Er trug einen Anzug mit Krawatte und sah so gut aus wie
eh und je, wenn auch ein bisschen nervös. Aufgeregt zog Alice ihn
in einen leeren Raum, damit sie ungestört sein konnten. Da kniete
Jim vor ihr nieder und bot ihr einen Brillantring dar. Alice fiel
fast in Ohnmacht. Dann stand Jim wieder auf und küsste sie auf den
Mund. Alice war noch nie so geküsst worden.
Das Paar heiratete, und Jim
zog ins Haus auf Turtle Island. Gemeinsam mit Alice kümmerte er
sich um Alice’ Mutter. Sie bekamen einen Sohn, James junior, der
die Schildkröteninsel verließ, um die Universität zu besuchen, und
nie wieder zurückkehrte. Er heiratete ein Mädchen aus dem
Universitätssekretariat, und sie zogen ans Meer in Jersey. Sie
hatten eine Tochter, und das bin ich. Im Sommer besuchten wir oft
die Großeltern auf Turtle Island.Wenn mein Vater und mein Großvater
angeln gingen, nahmen sie mich manchmal mit. Großvater hatte eine
Veranda ans Haus gebaut, von der aus man aufs Meer sehen konnte.
Manchmal saß ich stundenlang da und sah den Booten unter mir zu.Wie
schön es war, in der Ferne die Wolkenkratzer von Manhattan zu
sehen. Das machte die Welt so vertraut. Als Großmutter Alice vor
fünf Jahren starb, - ein Jahr nach Großpapa Jim -, hinterließen sie
mir das Haus.
Ich liebe das Haus, und ich
liebe die Schildkröteninsel. Es ist immer noch so wie in einer
Kleinstadt. Die meisten Leute hier arbeiten in der Innenstadt. Es
gibt hier Feuerwehrmänner, Menschen, die im Krankenhaus arbeiten,
Lehrer, Büroangestellte und ein paar unerschütterliche Fischer.
Manche Leute bleiben auch
auf der Insel und haben dort ein Geschäft. Es gibt zwei
Supermärkte, eine Tankstelle, eine Schule, drei Segelclubs, zwei
Kirchen, verschiedene Läden für Angeln und Köder und jede Menge
Restaurants und Stände für Meeresfrüchte. Vielen ist es hier zu
langweilig, aber genau das ruhige Leben hier gefällt mir so gut.
Und obwohl ich Sie noch nicht besonders gut kenne, habe ich das
Gefühl, als ob es Ihnen auch gefallen würde.