29
Für Joanne war der
September immer schon der rom antischste Monat gewesen. Auch den
Juni liebte sie, denn da hatte sie Geburtstag und Donny Namenstag,
aber schon als kleines Mädchen freute sie sich am tag, aber schon
als kleines Mädchen freute sie sich am meisten auf den tiefblauen,
golddurchwirkten Schulanfangsmonat September mit dem wunderbaren
Geruch von Bleistiftanspitz-Kräuseln und Kleber, der Aussicht auf
Freundschaften und Verpflichtungen (Joanne hatte seit der
Grundschule immer gerne den Klassendienst übernommen). Sie hatte
auch im September geheiratet und
war im selben Monat in die Flitterwochen nach Rom gefahren.
Aber an diesem Septemberabend dachte sie nicht
an solche Dinge, als sie noch in ihrer Schwesternkleidung zu Donny
fuhr. Es war ein langer Tag gewesen, und umso länger, als man Grace
noch nicht ersetzt hatte, deren Abwesenheit - schon seit über zwei
Wochen - die Intensivstation sehr belastete. Joanne kümmerte sich
alleine um fünf Patienten, darunter zwei Frischoperierte, die voll
intubiert waren - zwei Hauptschläuche, zwei periphere intravenöse,
ein Urin- und ein Arterienkatheter - und künstlich beatmet wurden.
Es war die reine Hölle. Sie wollte jetzt bloß zu Donny fahren,
duschen und vor dem Fernseher einschlafen.
Als sie endlich dort ankam und die Tür öffnete,
stand Donny ihr gleich gegenüber.
»He, Puppe.« Donny wirkte erleichtert, als hätte
er sich um sie gesorgt. »Ich habe die ganze Nacht auf dich
gewartet.«
»Ich sagte doch, dass ich bis acht Uhr arbeite«,
meinte Joanne und schob sich an ihm vorbei, den Helm unter dem Arm.
»Donny, wie schön es hier aussieht! Hast du tatsächlich geputzt?
Ich rieche Putzmittel.«
»Nichts ist zu gut für meine Jo«, meinte Donny
und zupfte sich am Ohrläppchen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Joanne, der erst
jetzt auffiel, dass Donny ein weißes Hemd und eine schwarze,
elegante Hose trug. Donny zog sich sonst nie gut an. »Warst du auf
einer Beerdigung? Wer ist denn gestorben?«
Donny schniefte dreimal hintereinander. Seine
Augen tränten.
»Baby, was ist denn los?«, fragte Joanne und
dachte, vielleicht war tatsächlich jemand gestorben.
Donny lächelte sie verkniffen und traurig an und
reichte ihr eine kleine Schachtel, wie für einen Ring. »Hier,
Schäfchen. Einen schönen Hochzeitstag!«
»Oh, mein Gott!«, rief Joanne. Sie war entsetzt,
dass sie den Tag vergessen hatte. »Unser Hochzeitstag.«
Dann legte sie den Helm auf den Tisch und
öffnete das Kästchen. Drinnen lag ein Ring aus Edelstahl, in den
xoxo eingraviert war.
»Donny!«
»Das bedeutet Liebe und Küsse«, erklärte Donny.
»Schau, ich habe auch einen.« Er hob die Hand hoch und wackelte mit
einem Finger.
»Donny, das ist so süß von dir!«
»Yeah«, meinte Donny mit glänzenden Augen. »Ich
möchte, dass wir unser Ehegelübde noch einmal ablegen.«
Damit umfasste er Joannes Gesicht mit beiden
Händen. »Ich möchte unsere beiden Familien dabeihaben«, sagte er.
»Vielleicht auch den Priester, Pater Soundso. Ich möchte mich
wieder voll zu dieser Ehe verpflichten, Jo.«
Als Donny sich ihr näherte, um sie zu küssen,
spürte Joanne, wie sie innerlich erstarrte. Dafür war sie noch
nicht wieder bereit. Sie merkte bei dem Kuss, dass sie dies
eigentlich noch nicht gewollt hatte, denn sonst hätte sie daran
gedacht, es sich ausgemalt, es sich gewünscht und sich danach
gesehnt.
Sie spürte, wie Donnys Kuss drängender wurde,
als müsste er ihr seine neue Ernsthaftigkeit irgendwie einbrennen.
Doch statt an Donny zu denken, schweiften Joannes
Gedanken ab zu einem Spaziergang im strömenden Regen (»Noch nie
vom Regen erwischt worden?«, hatte er gesagt). Und zu einem Gefühl
von Wohlbehagen, so tief und dauerhaft wie das Meer. Nichts an
Donnys Kuss kam der zärtlichen Kraft gleich, die Joanne an diesem
Tag beim Captain gespürt hatte, als er ihr aus dem Boot half und
später in den tropfnassen Kleidern vor Nightingales vor ihr gestanden hatte. Sie sehnte
sich danach, das wieder zu spüren. Daher löste sie sich ungeduldig
von ihrem Mann.
»Eine Zeremonie?«, lachte sie, um ihren Ärger zu
verbergen. »Das ist aber süß, Don. Aber wir sind doch schon
verheiratet.«
»Du verstehst das nicht«, meinte Donny flehend.
»Ich brauche das. Ich habe es vermasselt. Jahrelang. Das weißt du,
Jo. Aber du bist immer bei mir geblieben, und das ist mehr, als
irgendein Typ auf diesem Planeten verdient.« Seine Augen waren
feucht.
»Oh, Donny!« Joanne war gerührt, aber
tieftraurig merkte sie auch, dass dies zu spät kam.
»Du bist mir treu geblieben, Joanne, und ich
möchte nicht, dass du das jemals bereust. Ich werde dich zur
glücklichsten Frau auf der Welt machen.« Zum ersten Mal in seinem
Leben schien Donny das aus ganzem Herzen zu sagen. Und Joanne
musste sich in Erinnerung rufen, dass sie das alles schon einmal
gehört hatte: die ausschweifenden emotionalen Versprechen, die
unweigerlich auf einen Streit folgten oder einem vorausgingen. Und
jedes Mal war sie darauf hereingefallen.
»Donny, ich schätze das wirklich. Es ist sehr
romantisch. Aber ich finde es einfach nicht nötig.«
»Für mich ist es aber wichtig. Das versuche ich
dir beizubringen.« Donny nahm ihre Hand und führte sie an die
Lippen. Dabei blickte er ihr leidenschaftlich in die Augen. »Wir
fangen noch einmal von vorn an, Jo. Wir ziehen aus diesem Schuppen
aus und machen jede Menge Babys, wie wir es immer schon vorhatten.
Ein ganzes Haus voll. Ich sorge für alles.«
»Aber du liebst diesen Schuppen hier«, meinte
Joanne. »Ich meine, denken wir besser zuerst darüber nach. Wohin
würden wir denn ziehen?«
»Wie meinst du das?«, fragte Donny. »Wir können
überallhin, wohin wir wollen und wo es kranke Menschen und Haare
gibt. Wir können als Nomaden herumziehen. Das ist doch das
Schöne.«
»Erst einmal, Donny, möchte ich kein Nomade
sein. Du musst mich mit einer deiner Freundinnen
verwechseln.«
Donny sah sie verletzt an. »Eh, das war aber
unter der Gürtellinie. Heute ist unser Hochzeitstag.«
»Jaja, Donny.«
»Was ist denn los, Jo?«
»Nichts!«, bellte Joanne zurück.
Donny fiel der Unterkiefer herab. Seine Augen
wirkten glasig.
»Lass mich jetzt besser in Ruhe, Donny«, sagte
Joanne. »Ich habe eine langen Tag hinter mir und kann darüber jetzt
nicht nachdenken.«
Aber Donny schien zu begreifen. »Tu mir das
nicht an, Jo.«
»Was denn, Donny? Wovon redest du?«
»Du willst mich klein machen«, sagte er
vorwurfsvoll.
»Und du versuchst mir alles heimzuzahlen. An
unserem Hochzeitstag. Das ist nicht recht von dir, Jo.«
Plötzlich wurde Joanne wütend, dass er den
Hochzeitstag dazu benutzte, bei ihr Punkte zu sammeln. Was sie
betraf, war das genauso schlimm wie ihn vergessen.
»Weißt du, was ich gerade gemerkt habe, Donny?«,
sagte sie. Sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Ich habe erkannt, dass ich dir nicht trauen kann. Du bist einfach
nicht vertrauenswürdig. Einmal ein Betrüger, immer ein Betrüger, so
heißt es doch. Woher soll ich wissen, dass du heute Nachmittag
nicht mit einer Hure aus dem Salon im Bett warst? Eh, Donny? Soll
ich im Bett nach Ohrringen suchen? Einem Haar?«
»Ich lüge dich nicht mehr an, Jo«, flehte Donny.
»Das war der alte Donny. Hier steht der neue Donny. Ich habe mich
feingemacht und alles.«
»Dann sag mir ehrlich, hast du in den letzten
drei Monaten mit einer anderen Frau geschlafen?«
»Hä?«
»Sieh mir in die Augen, Donny, und sag die
Wahrheit. Ich möchte, dass du beim Leben deiner Mutter
schwörst.«
»He, lass meine Mutter aus dem Spiel, ja? Die
Frau hat genug Probleme.«
»Schwöre bei ihrem Leben!«
»Okay, okay. Beim Leben meiner Mutter schwöre
ich, dass ich in den letzten drei Monaten mit niemand anderem
zusammen war. Okay?«
»Hast du jemanden geküsst?«
Danny zuckte zusammen. »Ich heiße zwar Don, aber
ich bin kein Don Juan.«
»Ja oder nein.«
»Nein! Zum Teufel!«
»Beim Leben deiner Mutter?«
Donny wandte den Blick ab und sagte rasch: »Ich
habe beim Leben meiner Mutter niemanden geküsst.« Dann sah er
Joanne mit dem beklommenen und hasserfüllten Blick eines Menschen
an, der in die Ecke gedrängt war. »Zufrieden?«
Joanne sah ihn an und schüttelte langsam den
Kopf. »Du bist ein solcher Lügner, Donny. Und du hast das beim
Leben deiner Mutter geschworen. Deiner eigenen Mutter!«
»Ich lüge aber nicht, Jo!«, sagte Donny nun in
einem Ton erschöpfter Geduld, der andeutete, dass sie sich das
alles nur einbildete und ihn nun schlecht behandelte. »Hast du
jemals daran gedacht, dass du vielleicht paranoid sein
könntest?«
»Und wessen Schuld wäre das?«
Donny sträubte sich gegen diese Anspielung auf
seine Vergangenheit, die Joanne eigentlich nicht mehr erwähnen
wollte.
»Was ist denn mit dir?«, fragte Donny nun mit
der moralischen Entrüstung eines Mannes, der den Spieß umdreht.
»Mit wie vielen Typen bist du denn im letzten Jahr im Bett
gewesen?«
»Mit niemandem!«, brüllte Joanne, die über die
Frage ebenso entrüstet war wie über ihre Antwort. »Ich bin
verheiratet!«
Aber mit diesem Aufplustern verdeckte sie nur
ihr kleines Geheimnis. Donny war natürlich nicht schlau genug, zu
fragen, ob sie für irgendjemand Gefühle entwickelt hatte.
»Und der Alte aus der Kneipe«, fragte Donny nun
wissend, »der mit der Skipper-Mütze?«
Joanne zwinkerte überrascht. Hatte Donny ihre
Gedanken gelesen? Oder hatte er seit jenem Morgen daran gedacht,
als er zu Nigthtingales kam und seine Frau
in eine Unterhaltung mit dem Captain vertieft fand? Falls Joanne
gedacht hatte, er hätte das vergessen (bisher hatte er es nie
erwähnt) oder es wäre ihm überhaupt nicht aufgefallen (seit wann
fiel Donny auf, wenn Männer ihr Beachtung schenkten?), dann sah sie
jetzt, dass er es bloß verdrängt hatte. Vielleicht hatte es ihn
damals zu sehr aufgebracht, doch jetzt stürzte er sich in seiner
Verzweiflung darauf.
»Was ist mit dem alten Mann in der Kneipe?«,
fragte Joanne, Spott in jedem Wort, doch dabei huschte ein
verschmitztes, schuldbewusstes Grinsen über ihr Gesicht. Sie
versuchte es zu unterdrücken, indem sie sich auf die Lippe
biss.
»Was mit dem ist?«, fragte Donny. »Willst du
mich verarschen? Weißt du nicht, dass ich im selben Moment, als ich
in die Kneipe kam, wusste, was los war?«
»Da ist nichts passiert«, erwiderte Joanne. Sie
war froh, das ehrlich behaupten zu können. »Wir unterhielten uns
bloß.«
»Unterhalten? Du hast ihm praktisch einen
geblasen!« Joanne lachte verächtlich. »Oh, wie wunderbar,
Donny.«
»Du wirst ja ganz rot.«
»Stimmt nicht.«
»Doch! Du hast mit ihm geflirtet. Streitest du
das etwa ab?«
»Wir sind Freunde«, sage Joanne. »Ich gehe oft
in diese
Kneipe. Wir reden miteinander. Er zapft ein gutes Bier. Außerdem
ist er doppelt so alt wie ich.« Sie warf die Hände hoch. »Das ist
doch lächerlich. Tatsache ist …« Sie suchte nach Worten. »… ich
muss …«
»Muss was, Jo?«
Joanne berührte ihre Schläfen, als würde ihr
gleich der Kopf platzen. »Ich muss jetzt alleine sein!«
Donny wurde blass. »Wie meinst du das?« Seine
Stimme klang ganz erschrocken.
Joanne erkannte, dass sich ihre wahren Absichten
in der Angst in Donnys Augen spiegelten, so, als wüsste er, was auf
ihn zukam, noch ehe sie es selbst wusste. »Ich finde, dass zwischen
uns zu viel passiert ist, Donny. Zu viel Schlimmes.« Sie hasste es,
wie er nun zusammensackte, aber sie musste es herausbringen.
»Donny, sieh mal, ich liebe dich immer noch. Du bist immer noch
mein verrückter Donny. Aber momentan muss ich einfach für mich
sein, okay?«
Donny blähte die Nasenflügel auf in dem Versuch,
sich zusammenzureißen. »Nein, das ist nicht okay.«
»Nun, so ist es aber.« Außer sich ging Joanne
einen Schritt auf die Tür zu, doch Donny umklammerte ihr Handgelenk
und hielt sie fest.
»Du bist meine Frau«, zischte er.
Zum ersten Mal klang dieses Wort für Joanne zu
besitzergreifend, wie ein Joch, das es abzuwerfen galt oder dem sie
zumindest entfliehen musste. Mit einer ausholenden Armbewegung
löste sie sich aus Donnys Hand und griff nach der Klinke.
»Nein!«, rief Donny und war vor ihr da. Er
öffnete die Tür und schoss zu Joannes Überraschung die Treppe
hinunter, wobei er mehrere Stufen auf einmal übersprang. Joanne
wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie fragte sich, ob
Donny verletzt genug war, um etwas Verrücktes zu tun … etwa, wild
auf die Straße vor einen Bus zu rennen, nur damit sie sich den Rest
ihres Lebens schuldig fühlte.
Da sie Donny in Gefahr glaubte, schoss Joanne
aus der Wohnung, rannte die Treppe hinab und stürzte aus der
Haustür. Auf dem Gehweg blickte sie wild nach links und recht und
sah einen halben Block weiter etwas, bei dessen Anblick sie
ungläubig erstarrte. Ihr Motorrad lag auf dem Gehsteig, das
Vorderrad war hochgebogen wie der verdrehte Kopf eines gestürzten
Pferdes. Donny stampfte mit seinen Retro-Schlangenlederstiefeln auf
die Instrumente und die Lenkstange. Ein paar Leute - eine schwarze
Frau in einem Lederbustier, ein junger Asiate mit rasiertem Schädel
und Kopfhörern - waren in sicherer Entfernung stehen geblieben und
starrten auf die Szene.
»Donny!«, kreischte Joanne und rannte auf ihn
zu. Als er sie kommen sah, schrie er erschrocken auf und lief um
die nächste Ecke. Joanne lief zu Suzi und bückte sich über das
zerbeulte Gestell. Sie wusste instinktiv, dass Donnys Attacke auf
ihr Lieblingsstück vermutlich seiner Wut die Spitze genommen hatte.
Jetzt hatte er wohl nur noch Angst vor ihr.
Mit Tränen in den Augen und einem Herzen, das
vor Wut und Schmerz raste, hob Joanne Suzi hoch und bockte sie
auf.