35
Da Nightingales für Joanne momentan nicht in Frage kam (sie empfand eine seltsame Freude daran, dem Captain ihre Anwesenheit zu versagen; sicher dachte er an sie), verbrachte sie die Abende vor dem Computer. Da irgendjemand es tun musste und Grace nicht dazu bereit war, suchte sie im Internet nach Neuigkeiten über das Privatleben von Matt Conner. Sie wollte Beweise finden, die ihre Theorie bestätigten, dass Matt keine intime Beziehung mit Tania St. Clair hatte, um so Grace einen Weg aufzuzeigen. Es war schlimm, mit anzusehen, wie sie sich nach ihm sehnte, egal, wie oft sie das abstritt. Joanne konnte überhaupt nicht verstehen, warum Grace dem Mann nicht klarmachte, dass sie in ihn verliebt war. Man musste sie wohl ein bisschen dazu motivieren.
Im Laufe ihrer Untersuchung fand Joanne heraus, dass Matt und Tania zusammen einen Film in Los Angeles drehten. Wäre es nicht heldenhaft, dachte sie, und dazu noch dramatisch, hinzufahren, Matt zu konfrontieren und ihm zu sagen, dass Grace in ihn verliebt war und er sich um sie kümmern müsse? War das nicht genau die Art von Aktion, die in einer solchen Situation erforderlich war? Sie hatte die Website des Films gefunden (Mr. and Mrs. Jones), einen Plan für die Dreharbeiten und die Schauplätze. Offensichtlich versuchte der Produzent schon sehr früh, die Werbetrommel zu rühren. Das war eine perfekte Gelegenheit für Joanne.
Alles musste natürlich heimlich geschehen. Grace würde einer solchen Aktion nie zustimmen, aber Joanne fand, wie sie gehofft hatte, in Cherry eine willige Komplizin, die sich mit einer Begeisterung und Faszination darauf stürzte, wie es nur Frauen ohne eine eigene romantische Beziehung können.
Aufgeregt wie zwei Amateurdiebe nahmen sie beide am Donnerstag einen Tag frei und buchten zwei Rückflüge nach Los Angeles, um am selben Abend zurückzukehren. Sie planten einen Blitzangriff. Es war teuer, aber sie fanden beide, dass es ungeheuer wichtig war. Beide waren überzeugt, den romantischen Coup des Jahrhunderts zu landen, der kaum in Dollar auszudrücken war. Irgendwann würden sie für ihre gute Tat entschädigt. Wenn alles klappte, wäre Grace die glücklichste Frau der Welt. Um fünf Uhr am Donnerstagmorgen, als Grace noch im Krankenhaus arbeitete, standen Joanne und Cherry auf, duschten und zogen ihre Uniform an. Sie hatten am Abend zuvor einen Plan ausgeheckt, sich als Mitglieder von Matts Ärzteteam auszugeben (es gab ihres Wissens kein solches Team, aber es klang doch sehr plausibel). So würden sie nahe genug an ihn herankommen, um ihm die Botschaft zu überbringen.
Ein Taxi brachte sie zum Kennedy-Flughafen. Ihr Flug ging um Viertel nach acht. Ausgeruht landeten sie gegen elf Uhr in Los Angeles, weil sie im Flugzeug geschlafen hatten.
Sie mieteten ein Auto mit Navigationssystem und waren bald unterwegs. Cherry fuhr, denn sie hatte die größere Erfahrung. Sie war allerdings noch nie in Kalifornien gewesen und würde heute auch nur wenig davon sehen. »Sieh dir die Palmen an!« war alles, was sie feststellen konnten. Doch sie hatten einen wichtigen Auftrag.
»Der Film klingt interessant«, meinte Joanne auf dem Beifahrersitz. Sie las in den Seiten, die sie vom Internet ausgedruckt hatte. Es war eine romantische Komödie, in der Matt und Tania ein Ehepaar spielten, das verdächtigt wurde, seinen Ehetherapeuten umgebracht zu haben. Jemand hatte die Beweise gefälscht, und nun spielten sie Amaturdetektive, um den wahren Schuldigen zu finden.
»Und dabei gleichzeitig ihre Ehe zu retten«, meinte Cherry.
»Genau«, bestätigte Joanne.
 
Das Navigationssystem führte sie auf eine palmengesäumte Straße nördlich des Sunset Boulevard, in der die spektakulärsten Häuser standen. »Wer wohnt denn hier?«, fragte Cherry staunend über den offensichtlichen Reichtum. Dann sahen sie vor sich die Wagen der Filmcrew vor einer riesigen rosa Villa im spanischen Stil. Das Haus hatte gerundete Mauern, ein Ziegeldach und akkurat gestutzte Hecken ringsum. Auf dem Gehsteig standen ein paar Leute mit Kopfhörern. Cherry fuhr daran vorbei und fand einen Block weiter einen Parkplatz.
»Heute filmen sie die Swimmingpool-Szene«, sagte Joanne, die ihre Arbeit sehr sorgfältig geplant hatte. »Wir müssen hinter das Haus.«
Als sie dort ankamen, näherte sich ihnen ein dürrer, sehr junger Produktionsassistent in Shorts und mit einer Baseballkappe. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Hi«, sagt Cherry in ihrem süßesten Südstaatenakzent. »Wir gehören zu Mr. Conners Ärzteteam.« Dann verstummte sie, als wäre keine weitere Erklärung nötig.
»Ärzteteam?«, fragte der Assistent und ließ den Blick über die Uniformen und die Stethoskope schweifen. Er wollte wohl nicht so wirken, als wäre er darüber nicht informiert. »Klar, gehen Sie hinters Haus. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«
»Keine Sorge«, meinte Joanne. »Dafür sind wir ja da.«
Cherry lächelte dem jungen Mann im Vorbeigehen verführerisch zu. Sie gingen über einen schmalen Pfad zwischen gestutzten Büschen zum hinteren Teil des Hauses, wo um einen leuchtend blauen Swimmingpool herum gerade die Filmkameras aufgebaut wurden. Am Rand standen dicht nebeneinander zwei Sonnenliegen. Auf einer lag Matt Conner in einer knappen schwarzen Badehose und mit Sonnenbrille. Neben ihm lag Tania St. Clair in einem winzigen weißen Bikini und cremte sich gerade die gebräunten Beine ein.
»Bingo«, sagte Joanne. »Und jetzt?« Sie mussten sich nur noch an der Gruppe des Filmpersonals mit ihren Sprechfunkgeräten, Kameras und Kopfhörern vorbeischmuggeln. Zwei Kameras waren auf die Schauspieler gerichtet. Über ihnen schwebte ein Mikrofonverstärker. Alle waren so damit beschäftigt, die Szene zu filmen, dass Joanne und Cherry überhaupt nicht auffielen.
»Ruhe!«, dröhnte eine Stimme. Alle verstummten.
»Sehr beeindruckend«, flüsterte Joanne. Dann griff sie Cherry am Arm und ging mit ihr bis auf drei Meter Entfernung zu den Schauspielern. Sie waren aber noch durch eine Reihe von Technikern und Assistenten von ihnen getrennt. »Und … Action!«, rief der Regisseur von seinem Klappstuhl aus.
Im grellen Licht der Scheinwerfer nahm Tania einen kleinen Schluck von einem blauen Daiquiri.
»Das trinke ich doch sonst immer!«, zischte Cherry.
»Schschhh«, ermahnte Joanne sie und reckte den Hals.
»Wie können wir denn in Verdacht geraten sein?«, fragte Tania, die Mrs. Jones spielte. »Bruce hat uns doch so sehr mit unserer Beziehung geholfen. Wir hatten wirklich ziemliche Probleme - was hauptsächlich meine Schuld war -, aber Bruce hat uns geholfen.«
»Meinst du wirklich, dass er uns geholfen hat?«, fragte Matt.
»Du etwa nicht?«, fragte Tania herausfordernd.
Matt wandte sich an seine »Frau« und sah sie an. Sie erwiderte den Blick. Es schien, als wollten sie sich küssen. Aber das passierte nicht. Sekunden verstrichen. Tania sah sich nach dem Regisseur um.
»Schnitt!«, gellte der Regisseur.
Matt schüttelte den Kopf und nahm die Sonnenbrille ab. »Sorry, Jason«, sagte er. »Fehlzündung. Ich weiß den Text. Nochmal von vorn.«
»Sprich es erst nochmal durch«, erwiderte Jason, dem die Ungeduld anzumerken war. Er war kaum älter als fünfunddreißig. Matt sagte seufzend die Zeilen auf. »Nein, ich glaube nicht, dass er uns geholfen hat. Ich denke, er hat uns bloß Geld abgenommen, das ist alles. Er war ein Betrüger, und wenn du mich fragst, ist er deshalb …« Matt wusste nicht weiter.
»… umgekommen«, ergänzte Tania.
»Umgekommen?«, wiederholte Matt. »Warum sagen wir umgekommen und nicht umgebracht worden? Oder erschossen. Umgekommen
»Jesus Christus«, stöhnte Jason.
Cherry sah ihre Chance. »Komm«, sagte sie, und noch ehe Joanne sie aufhalten konnte, war Cherry bei Jason und sagte: »Hi, wir gehören zum Ärzteteam von Mr. Conner und möchten nur eben kontrollieren, ob alles in Ordnung ist«, - begleitet von einem bewundernden, einschmeichelnden Lächeln. Joanne ergänzte Cherrys Vorstellung mit einer Dosis ärztlicher Autorität und steckte sich das Stethoskop in die Ohren. Zusammen traten sie zu Matts Liege. Matt starrte sie an, ohne sie zu erkennen. Joanne konnte bloß hoffen, dass Cherry wusste, was sie tat, denn sie spürte, wie in den Leuten ringsum Misstrauen aufflackerte.
»Hi, Matt!«, flötete Cherry so freundlich, wie sie zu allen ihren Patienten war. »Wir sind nur gekommen, um dir zu sagen, dass Grace dich wirklich liebt.«
»Ruf sie an«, ergänzte Joanne und setzte das Stethoskop auf seine Brust. »Sie wartet darauf.«
»Wie bitte?«, ertönte da die schrille Stimme von Tania St. Clair hinter ihnen. Die sonnengebräunte langbeinige Schönheit schob sich zwischen Matt und die Krankenschwestern.
»Wer sind Sie?«, forderte sie. »Und wer ist Grace?« Dann fragte sie Matt: »Wer sind die beiden?«
»Keine Ahnung«, meinte Matt achselzuckend. »Ich glaube, sie haben mich in New York gepflegt.«
»Oh mein Gott, und sie verfolgen dich bis hierher?« Dann schrie sie dem Filmteam zu: »Stalker!« Und deutete panisch mit dem Finger auf Cherry und Joanne. »Hilfe! Eindringlinge!«
Dann wurde es sehr unangenehm. Aus allen Richtungen tauchten Männer in Shorts mit Kopfhörern auf, darunter auch ein Mann in einem fliederfarbenen Anzug. Es war Michael Lavender.
»Komm«, zischte Joanne und riss an Cherrys Hand.
Aber Cherry war noch nicht fertig. »Michael Lavender hat ihr weisgemacht, dass Sie in jemand anderen verliebt sind«, sagte sie rasch, ehe Joanne sie wegzerrte. »Darum ist sie aus Texas geflohen!«
Joanne schob sich mit ihr durch den Ring der Filmleute, der sich um sie geschlossen hatte. »Los! Weg!«, rief sie dann. Sie liefen vor das Haus und überquerten die Straße in Richtung ihres Wagens. Als Cherry sich umblickte, sah sie, dass die einzige Person, die sie verfolgte und immer noch gut fünfzig Meter hinter ihnen lag, Michael Lavender selbst war. Er hatte Schwierigkeiten, mit seinen Sandalen schnell zu rennen. Seine lila Krawatte flatterte im Wind, während er nach Luft schnappte.
»Lasst ihn ja in Ruhe!«, kreischte er. »Ich bringe euch alle ins Gefängnis!«
Erregt von dem Adrenalinstoß, kamen die Frauen beim Wagen an und konnten ungehindert losfahren. Im Rückspiegel sahen sie Lavender mitten auf der Straße liegen. Eine Sandale lag weit hinter ihm.
»Er ist gestürzt«, sagte Cherry und hielt den Wagen an. »Wenn er sich nun verletzt hat?«
»Wir müssen hier raus«, sagte Joanne. »Fahr los!«
Lavender stand nun wieder auf und säuberte wütend seinen Anzug. Als Cherry sah, dass er nicht verletzt war, drückte sie aufs Gaspedal.
»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt«, sagte sie. »Meinst du, er hat es begriffen?«
»Ich glaube schon. Frage ist nur, ob er sich später daran erinnert.«
»Nicht, wenn die Barbiepuppe ihre Krallen zeigt. Das wird eine lange Nacht in Mattsville.«
Es war wichtig, dass sie so bald wie möglich wieder in New York waren, denn sie mussten Grace zur Seite stehen, wenn ihre Bemühungen irgendwie Erfolg zeigten. Als sie am Flughafen anlangten, begann Cherry über die Folgen ihrer Tat nachzudenken. Wenn Michael Lavender nun Grace anrief und sie warnte, sich ja von Matt fernzuhalten? Was würde Grace dann denken? Warum hatten sie nicht vorher daran gedacht?
»Sollen wir ihr sagen, was wir getan haben?«, fragte Cherry, als sie darauf warteten, an Bord zu gehen. »Wenn sie es nun herausfindet?«
»Wenn sie es herausbekommt«, meinte Joanne, »geben wir es zu, andernfalls verschweigen wir es.«
Cherry war damit nicht zufrieden. Sie hatte wirklich nicht erwartet, mit ihrer Einmischung Grace’ Chancen bei Matt restlos zu verderben. Sie hatten es zwar gut gemeint, aber das reichte manchmal nicht aus.
 
Erst sehr spät kamen sie wieder auf Turtle Island an und betraten das Haus, als kämen sie gerade von der Arbeit. Grace saß, wie in letzter Zeit so oft, in eine Decke gewickelt auf der Veranda und starrte aufs dunkle Wasser hinaus. Die Spitze des Empire State Building, ein Dutzend Meilen weit entfernt, war orange und gelb angestrahlt und wirkte seltsamerweise wie von einer nächtlichen Sonne beschienen.
Cherry rechnete fast damit, dass Grace hereinkommen und ihnen vorwerfen würde, sich in ihr Privatleben eingemischt zu haben (»Ich hatte einen sehr beunruhigenden Anruf von Michael Lavender!«), aber sie drehte sich bloß kurz um und winkte ihnen durch die Glastür zu. Cherry war sehr erleichtert, dass Grace nichts zu ahnen schien, aber Joanne war enttäuscht, dass ihre Aktion keine prompten Resultate erbracht hatte.
Als die nächsten Tage ereignislos verliefen, waren Joanne und Cherry aber zufrieden, keine größeren Probleme hervorgerufen zu haben. Primum non nocere, hieß es im Ärztelatein. Verursache keinen Schaden.
Schicksalspfad Roman
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