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Silvester war auf Turtle
Island immer eine ziemlich ruhige Angelegenheit. Die meisten
Bewohner waren schon im Rentenalter, und diejenigen, die nicht nach
Manhattan hineinfuhren, um auf dem Times Square die Uhr zu
beobachten, blieben entweder zu Hause und sahen es im Fernsehen an
oder gingen in eine Kneipe oder ein Restaurant am Ort. Im Segelclub
gab es jedes Jahr eine Tanzveranstaltung, so dass man in Grace’
Haus das Knallen der Champagnerkorken, Lachen und Musikfetzen von
einer Kapelle hören konnte. Die einzig wirkliche Spannung bestand
darin, ob jemand so deprimiert war, dass er von der
George-Bailey-Brücke sprang, was schon dreimal passiert war. Zur
Abschreckung stationierte man ein einsames Polizeiauto bei der
Brücke.
Grace hatte vor, mit Joanne auszugehen. Beim
Zurechtmachen zählte sie sich zu den Glücklichen, die heute Nacht
diesen Sprung nicht versuchen würden. Doch das hatte sie noch vor
ein paar Tagen bezweifelt, als die gute Laune von ihrer
Geschenkzeremonie verklungen war und sie sich ein paar Tage lang
sehr einsam und unglücklich gefühlt hatte. Heute, am letzten Abend
des Jahres, freute sie sich auf das Ausgehen. Sie entschied sich
für Jeans und schwarzes Top, legte Ohrringe an und trug ein wenig
Make-up auf. Sie würde einen ruhigen Abend mit Joanne zubringen,
die in letzter Minute die Pläne abgesagt hatte, in Manhattan ein
Dinner und eine Tanzveranstaltung zu besuchen. Stattdessen würden
sie zu Nightingales
gehen. »Ich kann die Kneipe nicht auf ewig meiden«, erklärte sie,
und Grace war froh, die Menschenmengen in der Stadt zu
vermeiden.
Joanne zog ein enges rotes Kleid an, dazu
schwarze hohe Schuhe und die Mütze des Captains, die sie seit
Oktober plante, zurückzubringen. Aber das musste man ihr verzeihen,
denn sie hatte viel um die Ohren gehabt. Erstens war da ihre
Scheidung, die zum Glück unkompliziert verlaufen würde: Sie hatten
kein Haus aufzuteilen oder Kinder, um die man sich streiten konnte.
In einer Woche wäre alles über die Bühne gegangen.
Die Nacht war mild, als sie zu Nightingales hinübergingen. Beide freuten sich
darauf, sich einen zu genehmigen.
Gegen zehn Uhr, als sie ankamen, war die Kneipe
halb voll mit Inselbewohnern. Ed der Fischer hatte tatsächlich
seine Anglermütze abgesezt und trug ein Jackett mit Krawatte,
zweifelsohne, um Connie Wilberson zu beeindrucken. Diese ähnelte
heute Abend Miss Lonelyhearts aus dem »Fenster zum Hof«, so passend
war ihr grünes Kleid im Stil der fünfziger Jahre. Sie saß mit Ed an
einem kerzenbeschienenen Tisch in eine angeregte Unterhaltung
vertieft. Die Musikbox spielte I’ll be Home for
Christmas.
An den anderen Tischen saßen ein paar ältere und
mehrere junge Pärchen. Der Captain hinter der Theke trug ein
schwarzes Hemd.
»Festliche Grüße, Hoag«, sagte Joanne und
lächelte den Captain unter der Schirmmütze her strahlend an.
»Kennst du mich noch?«
»Jaja«, meinte der Captain und sah Joanne so
erstaunt
an, als wäre sie tatsächlich von den Toten wiederauferstanden.
Dann erblickte er Grace und lächelte: »Das ist aber ein schöner
Anblick, ihr beiden. Ich dachte, ich hätte meine Lieblingsgäste
verloren.«
»Wir hatten ungeheuer viel Arbeit«, sagte Grace,
die auf Joannes Bitte hin die Bar ebenfalls gemieden hatte.
»Das verstehe ich«, meinte der Captain. »Ich bin
nur froh, euch wiederzusehen.«
»Hier, Hoag«, sagt Joanne, nahm die Kappe ab und
beugte sich über die Theke, um sie dem Captain aufzusetzen.
»Das war ein Geschenk«, meinte Hoag. »Ich hatte
sie nicht zurückerwartet.«
»Dann kannst du sie heute Abend ausleihen«,
meinte Joanne. Ihr Busen sprang fast aus dem roten Kleid - ein
Anblick, den der Captain höflich mit den Blicken zu meiden
versuchte.
»Wo ist denn der dritte Musketier?«, fragte
Hoag.
»Cherry hat heute Abend Dienst«, antwortete
Grace. »Sie lässt grüßen.«
Dann merkte Grace, dass der Fernseher am Ende
der Theke angestellt war. Der Captain schaltete ihn nur zweimal im
Jahr ein, für Superbowl und an Silvester. Der Ton war abgestellt,
aber Grace konnte sehen, wie die Festlichkeiten auf dem Times
Square und auf einer Bühne vor dem Staples
Center in Los Angeles langsam in Gang kamen, wo Musikgruppen
und Prominente eine Riesenmenschenmenge unterhielten.
Grace wurde mulmig. Dawn im Krankenhaus hatte
erwähnt, dass Matt Conner und Tania St. Clair Silvester zusammen
irgendwo auftreten würden. Grace hatte es vergessen,
aber mit dem Fernseher direkt vor sich war es ihr wieder
eingefallen.
»Kann ich einen doppelten Bourbon haben?«,
fragte sie den Captain.
»So gefällst du mir«, meinte Joanne.
Grace machte mit dem Drink kurzen Prozess und
bestellte einen weiteren, noch ehe Joanne ihr Guinness halb
ausgetrunken hatte.
»Ahhh«, meint Joanne und deutete auf den
Fernseher.
Grace blickte hoch.
»Sieh nicht hin«, murmelte Joanne.
»Oh nein, ist schon gut«, meinte Grace.
»Ehrlich.«
Das meinte sie ernst. Da stand Matt Conner auf
einem roten Teppich in einem schwarzen Smoking mit einem
Dreitagebart und wurde interviewt.
»Stell mal lauter, Hoag«, rief Joanne dem
Captain zu, der gerade andere Gäste bediente.
»Nein«, protestierte Grace. »Ich will nichts
hören.«
»Stimmt«, meinte Joanne. »Ein Foto spricht ja
auch tausend Bände.«
Aber Grace war nicht sicher, was er sagen würde.
Sie sah einen gesund wirkenden, hoffnungslos gut aussehenden Matt,
der einen Arm um Tania St. Clair gelegt hatte, deren letzter Film
ein unerwartet großer Kassenerfolg geworden war. Grace musste
zugeben, dass sie ein bildschönes Paar abgaben.
»Er sieht glücklich aus«, sagte Grace und war
erstaunt und erfreut, dass ihr das nichts mehr ausmachte. Sie
freute sich sogar für ihn. Und warum auch nicht? Er hatte so viel
durchgemacht, daher verdiente er auch ein bisschen Glück.
»Der sieht aber nicht gerade glücklich aus«,
meinte Joanne neben ihr.
Grace sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Oh mein Gott!«, stöhnte Joanne. »Sieh
mal!«
Grace sah zum Fernseher. Die Kamera war nun auf
Tania St. Clairs Hand gerichtet, die sie hochhielt, damit jeder es
sehen konnte. An ihrem Finger steckte ein riesiger funkelnder
Brillantring.
»Oh mein Gott«, murmelte Grace.
Dann fragte der Interviewer Matt etwas -
vermutlich, wie er Tania den Heiratsantrag gemacht hatte, und Matt
blitzte ihn mit seinem strahlenden Lächeln an. Grace empfand
nichts. Zumindest war sie nicht völlig betrübt, und das war das
sicherste Zeichen, dass sie die Vergangenheit hinter sich gelassen
hatte und das neue Jahr nun in einer positiven Haltung beginnen
konnte. Matts Glück motivierte sie und gab ihr die Kraft, ihr
eigenes Glück zu suchen.
»Ich weiß nicht«, meinte Joanne kopfschüttelnd,
als sie das Liebespaar auf dem Bildschirm betrachtete. »Er sieht
nicht so aus, als wäre er gern dort. Seine Augen sind so
traurig.«
Grace wusste, dass Joanne nur versuchte, sie
aufzuheitern. Aber das brauchte sie nicht - nicht mehr.
»Mir geht es großartig!«, sagte Grace nun und
wippte im Takt zu Frank Sinatras »You make me feel so young.« »Ah,
ich liebe diesen Song! Komm, Jo, tanzen wir!« Grace war der Alkohol
zu Kopf gestiegen. Sie nahm Joanne bei der Hand und führte sie auf
eine freie Fläche zwischen der Bar und den Tischen. Lachend
verschränkten sie die Hände und versuchten gemeinsam ein paar
Swing-Tanzschritte.
Joanne tanzte nicht halb so gut wie Matt, aber die anderen Gäste
wurden aufmerksam, und bald kamen weitere Pärchen auf die
Tanzfläche.
»Was meinst du?«, fragte Joanne, »soll ich Hoag
um Mitternacht küssen?«
»Ist doch nur fair«, erwiderte Grace und
wirbelte Joanne herum.
»Hoffenlich reagiert er besser als ich auf dem
Boot.«
»Der mag dich wirklich«, sagte Grace und zog
Joanne enger zu sich. »Hast du gemerkt, wie er strahlte, als wir
hereinkamen?«
»Meinst du?«
»Ich bin sicher«, sagte Grace und fragte sich
vage, wo Matts Hochzeit wohl stattfinden und ob es eine kleine
private Feier geben würde oder eine Party mit vielen Prominenten.
Nicht, dass es sie irgendwie berührte …
Grace blieb stehen. »Ich glaube, ich muss mich
setzen«, sagte sie. »Ich habe zu schnell getrunken.«
Als sie sich auf einem nahen Stuhl niederließ,
drehte sich der Raum immer noch.
»Mir geht es nicht gut«, stöhnte sie. »Uh
…«
»Ist dir schlecht?«, fragte Joanne. »Komm, ich
bring dich aufs Klo.«
»Nein.« Grace winkte abwehrend. Dann schloss sie
die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Joanne.
»Tut mir leid. Ich habe heute noch nichts
gegessen und auf leeren Magen getrunken. Ich muss nach Hause
…«
»Nach Hause? Für den Rest des Abends?«
»Ich muss mich nur ein wenig hinlegen. Ich komme
aber wieder. Okay?«
»Jesus, du bist mir ja eine«, meinte Joanne
gutmütig. »Ich bringe dich heim.«
»Danke«, sagt Grace und hielt sich den Kopf.
»Ich brauche bloß frische Luft.«
»Komm nur ja vor zwölf wieder. Ich brauche
jemanden, den ich um Mitternacht küssen kann, falls Hoag mich
abweist.«
Grace ließ sich von Joanne hochhelfen und hinaus
in die Kälte begleiten.