37
Silvester war auf Turtle Island immer eine ziemlich ruhige Angelegenheit. Die meisten Bewohner waren schon im Rentenalter, und diejenigen, die nicht nach Manhattan hineinfuhren, um auf dem Times Square die Uhr zu beobachten, blieben entweder zu Hause und sahen es im Fernsehen an oder gingen in eine Kneipe oder ein Restaurant am Ort. Im Segelclub gab es jedes Jahr eine Tanzveranstaltung, so dass man in Grace’ Haus das Knallen der Champagnerkorken, Lachen und Musikfetzen von einer Kapelle hören konnte. Die einzig wirkliche Spannung bestand darin, ob jemand so deprimiert war, dass er von der George-Bailey-Brücke sprang, was schon dreimal passiert war. Zur Abschreckung stationierte man ein einsames Polizeiauto bei der Brücke.
Grace hatte vor, mit Joanne auszugehen. Beim Zurechtmachen zählte sie sich zu den Glücklichen, die heute Nacht diesen Sprung nicht versuchen würden. Doch das hatte sie noch vor ein paar Tagen bezweifelt, als die gute Laune von ihrer Geschenkzeremonie verklungen war und sie sich ein paar Tage lang sehr einsam und unglücklich gefühlt hatte. Heute, am letzten Abend des Jahres, freute sie sich auf das Ausgehen. Sie entschied sich für Jeans und schwarzes Top, legte Ohrringe an und trug ein wenig Make-up auf. Sie würde einen ruhigen Abend mit Joanne zubringen, die in letzter Minute die Pläne abgesagt hatte, in Manhattan ein Dinner und eine Tanzveranstaltung zu besuchen. Stattdessen würden sie zu Nightingales gehen. »Ich kann die Kneipe nicht auf ewig meiden«, erklärte sie, und Grace war froh, die Menschenmengen in der Stadt zu vermeiden.
Joanne zog ein enges rotes Kleid an, dazu schwarze hohe Schuhe und die Mütze des Captains, die sie seit Oktober plante, zurückzubringen. Aber das musste man ihr verzeihen, denn sie hatte viel um die Ohren gehabt. Erstens war da ihre Scheidung, die zum Glück unkompliziert verlaufen würde: Sie hatten kein Haus aufzuteilen oder Kinder, um die man sich streiten konnte. In einer Woche wäre alles über die Bühne gegangen.
Die Nacht war mild, als sie zu Nightingales hinübergingen. Beide freuten sich darauf, sich einen zu genehmigen.
Gegen zehn Uhr, als sie ankamen, war die Kneipe halb voll mit Inselbewohnern. Ed der Fischer hatte tatsächlich seine Anglermütze abgesezt und trug ein Jackett mit Krawatte, zweifelsohne, um Connie Wilberson zu beeindrucken. Diese ähnelte heute Abend Miss Lonelyhearts aus dem »Fenster zum Hof«, so passend war ihr grünes Kleid im Stil der fünfziger Jahre. Sie saß mit Ed an einem kerzenbeschienenen Tisch in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Die Musikbox spielte I’ll be Home for Christmas.
An den anderen Tischen saßen ein paar ältere und mehrere junge Pärchen. Der Captain hinter der Theke trug ein schwarzes Hemd.
»Festliche Grüße, Hoag«, sagte Joanne und lächelte den Captain unter der Schirmmütze her strahlend an. »Kennst du mich noch?«
»Jaja«, meinte der Captain und sah Joanne so erstaunt an, als wäre sie tatsächlich von den Toten wiederauferstanden. Dann erblickte er Grace und lächelte: »Das ist aber ein schöner Anblick, ihr beiden. Ich dachte, ich hätte meine Lieblingsgäste verloren.«
»Wir hatten ungeheuer viel Arbeit«, sagte Grace, die auf Joannes Bitte hin die Bar ebenfalls gemieden hatte.
»Das verstehe ich«, meinte der Captain. »Ich bin nur froh, euch wiederzusehen.«
»Hier, Hoag«, sagt Joanne, nahm die Kappe ab und beugte sich über die Theke, um sie dem Captain aufzusetzen.
»Das war ein Geschenk«, meinte Hoag. »Ich hatte sie nicht zurückerwartet.«
»Dann kannst du sie heute Abend ausleihen«, meinte Joanne. Ihr Busen sprang fast aus dem roten Kleid - ein Anblick, den der Captain höflich mit den Blicken zu meiden versuchte.
»Wo ist denn der dritte Musketier?«, fragte Hoag.
»Cherry hat heute Abend Dienst«, antwortete Grace. »Sie lässt grüßen.«
Dann merkte Grace, dass der Fernseher am Ende der Theke angestellt war. Der Captain schaltete ihn nur zweimal im Jahr ein, für Superbowl und an Silvester. Der Ton war abgestellt, aber Grace konnte sehen, wie die Festlichkeiten auf dem Times Square und auf einer Bühne vor dem Staples Center in Los Angeles langsam in Gang kamen, wo Musikgruppen und Prominente eine Riesenmenschenmenge unterhielten.
Grace wurde mulmig. Dawn im Krankenhaus hatte erwähnt, dass Matt Conner und Tania St. Clair Silvester zusammen irgendwo auftreten würden. Grace hatte es vergessen, aber mit dem Fernseher direkt vor sich war es ihr wieder eingefallen.
»Kann ich einen doppelten Bourbon haben?«, fragte sie den Captain.
»So gefällst du mir«, meinte Joanne.
Grace machte mit dem Drink kurzen Prozess und bestellte einen weiteren, noch ehe Joanne ihr Guinness halb ausgetrunken hatte.
»Ahhh«, meint Joanne und deutete auf den Fernseher.
Grace blickte hoch.
»Sieh nicht hin«, murmelte Joanne.
»Oh nein, ist schon gut«, meinte Grace. »Ehrlich.«
Das meinte sie ernst. Da stand Matt Conner auf einem roten Teppich in einem schwarzen Smoking mit einem Dreitagebart und wurde interviewt.
»Stell mal lauter, Hoag«, rief Joanne dem Captain zu, der gerade andere Gäste bediente.
»Nein«, protestierte Grace. »Ich will nichts hören.«
»Stimmt«, meinte Joanne. »Ein Foto spricht ja auch tausend Bände.«
Aber Grace war nicht sicher, was er sagen würde. Sie sah einen gesund wirkenden, hoffnungslos gut aussehenden Matt, der einen Arm um Tania St. Clair gelegt hatte, deren letzter Film ein unerwartet großer Kassenerfolg geworden war. Grace musste zugeben, dass sie ein bildschönes Paar abgaben.
»Er sieht glücklich aus«, sagte Grace und war erstaunt und erfreut, dass ihr das nichts mehr ausmachte. Sie freute sich sogar für ihn. Und warum auch nicht? Er hatte so viel durchgemacht, daher verdiente er auch ein bisschen Glück.
»Der sieht aber nicht gerade glücklich aus«, meinte Joanne neben ihr.
Grace sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Oh mein Gott!«, stöhnte Joanne. »Sieh mal!«
Grace sah zum Fernseher. Die Kamera war nun auf Tania St. Clairs Hand gerichtet, die sie hochhielt, damit jeder es sehen konnte. An ihrem Finger steckte ein riesiger funkelnder Brillantring.
»Oh mein Gott«, murmelte Grace.
Dann fragte der Interviewer Matt etwas - vermutlich, wie er Tania den Heiratsantrag gemacht hatte, und Matt blitzte ihn mit seinem strahlenden Lächeln an. Grace empfand nichts. Zumindest war sie nicht völlig betrübt, und das war das sicherste Zeichen, dass sie die Vergangenheit hinter sich gelassen hatte und das neue Jahr nun in einer positiven Haltung beginnen konnte. Matts Glück motivierte sie und gab ihr die Kraft, ihr eigenes Glück zu suchen.
»Ich weiß nicht«, meinte Joanne kopfschüttelnd, als sie das Liebespaar auf dem Bildschirm betrachtete. »Er sieht nicht so aus, als wäre er gern dort. Seine Augen sind so traurig.«
Grace wusste, dass Joanne nur versuchte, sie aufzuheitern. Aber das brauchte sie nicht - nicht mehr.
»Mir geht es großartig!«, sagte Grace nun und wippte im Takt zu Frank Sinatras »You make me feel so young.« »Ah, ich liebe diesen Song! Komm, Jo, tanzen wir!« Grace war der Alkohol zu Kopf gestiegen. Sie nahm Joanne bei der Hand und führte sie auf eine freie Fläche zwischen der Bar und den Tischen. Lachend verschränkten sie die Hände und versuchten gemeinsam ein paar Swing-Tanzschritte. Joanne tanzte nicht halb so gut wie Matt, aber die anderen Gäste wurden aufmerksam, und bald kamen weitere Pärchen auf die Tanzfläche.
»Was meinst du?«, fragte Joanne, »soll ich Hoag um Mitternacht küssen?«
»Ist doch nur fair«, erwiderte Grace und wirbelte Joanne herum.
»Hoffenlich reagiert er besser als ich auf dem Boot.«
»Der mag dich wirklich«, sagte Grace und zog Joanne enger zu sich. »Hast du gemerkt, wie er strahlte, als wir hereinkamen?«
»Meinst du?«
»Ich bin sicher«, sagte Grace und fragte sich vage, wo Matts Hochzeit wohl stattfinden und ob es eine kleine private Feier geben würde oder eine Party mit vielen Prominenten. Nicht, dass es sie irgendwie berührte …
Grace blieb stehen. »Ich glaube, ich muss mich setzen«, sagte sie. »Ich habe zu schnell getrunken.«
Als sie sich auf einem nahen Stuhl niederließ, drehte sich der Raum immer noch.
»Mir geht es nicht gut«, stöhnte sie. »Uh …«
»Ist dir schlecht?«, fragte Joanne. »Komm, ich bring dich aufs Klo.«
»Nein.« Grace winkte abwehrend. Dann schloss sie die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Joanne.
»Tut mir leid. Ich habe heute noch nichts gegessen und auf leeren Magen getrunken. Ich muss nach Hause …«
»Nach Hause? Für den Rest des Abends?«
»Ich muss mich nur ein wenig hinlegen. Ich komme aber wieder. Okay?«
»Jesus, du bist mir ja eine«, meinte Joanne gutmütig. »Ich bringe dich heim.«
»Danke«, sagt Grace und hielt sich den Kopf. »Ich brauche bloß frische Luft.«
»Komm nur ja vor zwölf wieder. Ich brauche jemanden, den ich um Mitternacht küssen kann, falls Hoag mich abweist.«
Grace ließ sich von Joanne hochhelfen und hinaus in die Kälte begleiten.
Schicksalspfad Roman
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