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An diesem Abend, als
Grace zur Arbeit ging und Cherry noch nicht von der Tagschicht
zurück war, beschloss Joanne, die kurze Strecke zu Nightingales zum Essen zu fahren.
Von den vier Kneipen auf Turtle Island war
Nightingales die älteste. Sie existierte
schon seit 1870. Der Begründer, Benjamin Nightingale, war 1884 bei
einem Walfangunternehmen ums Leben gekommen, aber das Geschäft war
bis vor fünf Jahren in Familienbesitz geblieben, als der Ururenkel
Todd Nightingale, der sich in der Welt der Fischer und Polizisten
nie wohlgefühlt hatte, die Kneipe verkaufte und nach Miami Beach
zog, wo er als Ganzkörpermasseur arbeitete. Der neue Besitzer der
Bar war Hogan Vandervoort, der als Captain
bekannt war, weil er ständig eine schwarze Skippermütze trug. Als
neuer Besitzer hatte er als Erstes den Namen von Nightingale’s zu Nightingales geändert, weil er das poetischer fand.
Joanne und ihre Wohngenossinnen witzelten wegen ihres Berufs oft
über den Namen. Joanne fragte sich auch, ob der alte Ben
Nightingale vielleicht sogar mit Florence verwandt gewesen
war.
Joanne parkte ihr Motorrad unter dem Schein der
Guinness-Reklame und trat ein. Die Kneipe war so ruhig wie immer,
und Joanne fand leicht einen Platz an der Theke, wo sie sich ein
halbes Guinness bestellte sowie eine Schüssel Clam Chowder, eine
Suppe, für die der Captain berühmt war. Er richtete sie mit Speck
und Butter an und servierte dazu irisches Sodabrot. Zweifellos
konnte der Captain gut kochen. Er war ein großer, stämmiger Mann
mit einem wettergegerbten Gesicht, klaren grauen Augen und einem
grauen Bärtchen. Seine weißen Haare fielen ihm bis auf die
Schultern. Außerdem hatte er zahlreiche Tätowierungen, an denen
Joanne seine Lebensgeschichte abzulesen versuchte. Auf einem Bizeps
sah man eine Bulldogge mit einem Messer im
Maul (ein Hund aus seiner Kindheit?), auf dem anderen ein rotes
Herz, auf das der Name Suzanne tätowiert war (seine Exfrau? die
verstorbene Gattin?). Auf dem linken Unterarm sah man eine Hand,
deren Zeigefinger durch einen Haken verlängert war. Den rechten Arm
umringelte eine grüne Schlange vom Ellbogen bis zum Handgelenk. Man
hatte nicht das Gefühl, dass man ihn danach ausfragen konnte, und
selbst Joanne hatte sich das bisher nicht getraut. Der Captain
verhielt sich sehr reserviert, was mit seinen Jahren auf See zu tun
haben mochte, so als hätte er das Schweigen der unendlichen
Wasserflächen verinnerlicht. Er hatte überall auf der Welt
Fischerboote gesteuert und das in der Bar zum Thema gemacht. An den
Ziegelwänden hingen Netze und Walknochen, auf den Eichentischen
standen antike Laternen. Eine alte Jukebox spielte Blues und Jazz,
ein bisschen Country and Western und eine Auswahl von italienischen
und irischen Seemannsliedern.
Joanne trank ihr Bier in kleinen Schlucken und
dachte an Donny - wie oft, wenn sie trank. Bei ihrem letzten
Treffen vor zwei Wochen hatte er angedeutet, dass sie zu dick sei.
Derselbe Donny, der ihren Körper praktisch angebetet hatte, der ihn
mit Honig beträufelt und mit Kerzen umstellt hatte, der seine
Beißspuren darauf hinterlassen hatte. Der gemurmelt hatte, sie sei
»üppig« und »weiblich«. Aber mit der Zeit hatte sich sein Geschmack
den Frauen zugewendet, die er tagtäglich in seinem Salon in
Manhattan um sich sah - die bleistiftdürren Models und
Schauspielerinnen mit den spitzen Schuhen, den teuren Sonnenbrillen
und den Tausenddollar-Handtaschen. Und Donny selbst - ein
altersloser Punk-Rocker
mit struppigem schwarzem Haar, einer Garderobe wie die Ramones:
Röhrenjeans, schwarze Jack Purcells und eingerissene T-Shirts, die
nie bis zum Nabel reichten. Hatte sie ihn jemals als dürr
bezeichnet, als unattraktiv, und gefordert, dass er ein bisschen
zunehmen müsste? Nein, niemals.
Gott sei Dank gab es noch Männer in der Welt,
die eine richtige Frau zu schätzen wussten. Zum Beispiel die
Techniker im Krankenhaus. »Wie geht’s, du Schöne? Mamacita, du bringst mich um den Verstand. Mein Herz
schleudert wie ein Schuh in der Waschmachine.« Und dann natürlich
Fred Hirsch, der einmal zu ihr gesagt hatte, sie sähe aus wie die
junge Sophia Loren. Okay, die Bemerkung sagte mehr über Freds Alter
aus als über Joannes Aussehen, denn das einzige, was sie und Sophia
gemeinsam hatten, waren die Brüste und die italienische Abstammung.
Aber Joanne nahm Komplimente hin, wann immer sie sie bekam. Das
Komische aber war, dass in punkto Sex Donnys Modefriseursalon im
Vergleich mit der Intensivstation nichts zu bieten hatte. Die
Ärzte, Schwestern, Praktikanten, Techniker und sogar die Patienten
flirteten ununterbrochen und machten anzügliche Bemerkungen. Ärzte
gaben den Schwestern einen Klaps auf den Hintern, die Schwestern
kniffen den Ärzten in den Po. Niemand beschwerte sich, nur die
älteren Oberschwestern wie Kathy, die Flirts im Krankenhaus als für
den medizinischen Berufsstand unangemessen empfand. Aber diese
Schwestern waren machtlos, wie gegenüber einer Naturgewalt. Sie
waren alle von Tod und Leiden umgeben und mussten einfach irgendwo
Druck ablassen.
Joanne hatte sich von Donny getrennt, als sie
Beweise
dafür fand, dass er untreu gewesen war. Donny hatte natürlich
alles abgestritten, und vielleicht glaubte Joanne ihm auch ein
kleines bisschen - oder wollte ihm glauben. Sie hatten weiterhin
Kontakt zueinander, und Donny schnitt ihr immer noch die Haare, wie
eben vor zwei Wochen in seinem Salon. Damals hatte sie ihm Suzi
vorgestellt, die draußen am Bordstein geparkt war. »Süß«, hatte
Donny gesagt und war anerkennend nickend einmal um das Motorrad
herumgegangen. »Aber sei bloß vorsichtig, ja? Diese Dinger sind
gefährlich.« Joanne hatte ihm erklärt, dass sie Fahrstunden
genommen und den Test bestanden hatte, dass sie staatlich
zugelassen und vor allem eine verantwortungsbewusste Fahrerin war.
»Außerdem«, hatte sie hinzugefügt, »passt Tony auf mich auf.« Tony
war der heilige Antonius, ihr Schutzheiliger. »Yeah«, hatte Donny
gemeint, »aber der schützt dich vor Schiffbruch, nicht vor
Motorradunfällen.«
»Das reicht aber«, hatte Joanne erwidert.
Joanne trank ihr Bier aus und stellte es ab. Der
Captain spielte am anderen Ende der Theke Schach mit Ed dem
Fischer. Ed fuhr Tag für Tag mit seinem Boot in den Sund hinaus und
fing Flundern, Blaubarsche und Seebrassen, die er an mehrere Kunden
in der Stadt verkaufte. Er trug oft nur düsteres Regenzeug, selbst
an sonnigen Tagen, und hatte den Regenhut meist tief über die
unheimlichen, unruhigen Augen gezogen. Er wohnte in einem
heruntergekommenen Haus am Ufer mit einem Basset namens Duke, den
er manchmal mit in die Kneipe brachte, um einen Hamburger mit ihm
zu teilen. Wenn man die beiden so sah, wusste man, dass dieser Mann
nichts weiter brauchte als eine Angel und einen Hund.
»He, Captain!«, rief Joanne und hielt ihr Glas
hoch.
Der Captain drehte sich zu ihr um und zog eine
Braue hoch. Joanne winkte ihm mit dem leeren Glas in der Hand zu
und lächelte ihn an.
Der Captain warf einen kurzen Blick auf das
Schachbrett und begann zu zapfen. Dann brachte er das volle Glas in
der sehnigen, festen Hand herüber.
»Grazie«, sagte Joanna.
»Wer liegt denn vorn?«
»Du«, antwortete der Captain und setzte das Glas
vor sie hin.
»Danke«, erwiderte Joanne und sah dem Captain
nach, der wieder zu dem Spielbrett ging. Sie wusste nie genau, ob
er Spaß machte oder unhöflich war. Seine Bemerkungen summten immer
vor mehrfacher Bedeutung.
»He, du!«, ertönte eine hohe Stimme. Joanne
drehte sich um. Es war Cherry in einer blauen Hose mit einem
quietschrosa Hemdchen.
»Die Südstaatenschönheit«, rief Joanne. »Wie war
dein Tag?«
»Grässlich«, antwortete Cherry und pustete so
nach oben, dass eine Strähne ihres blonden Haars hochflog. »Einer
meiner Patienten war ein Obdachloser mit Tb.«
»Diese Typen schieben sie immer den Neulingen
zu.«
»Genau. Ich musste mir eine Maske aufsetzen. Als
ich in sein Zelt ging, stank es so sehr, dass ich es kaum
beschreiben kann. Es war furchtbar!« Cherry kniff die Nase
zusammen. »Als ich heute Abend nach Hause fuhr, habe ich noch drei
Obdachlose gesehen. Die hatten vielleicht auch Tb.«
»Tb or not Tb«, meinte Joanne düster. Das war
der älteste Witz aller Zeiten.
Cherry lachte. Sie lachte immer über Joannes
Witze. Nun, vielleicht nicht immer. Als Cherry vor etwa einem Monat
einzog, hatte Joanne draußen auf der Terrasse gelegen und sich
gesonnt. Ihre großen, nackten Gottesgeschenke von Brüsten hatten in
der Sonne geglänzt, während sie mit einem Finger lässig die kleine
Tätowierung an ihrer Hüfte streichelte, ein Amor mit seinem Bogen.
Cherry war zu ihr gegangen, um sich vorzustellen. »Hi«, hatte sie
entschuldigend gesagt. »Ich will nicht stören. Ich bin Cherry
Bordeaux.« Joanne hatte nicht einmal die Augen geöffnet. »Bist du
ein Porno-Star«, hatte sie gefragt, »oder eine Eiskremsorte?« Sie
hatte einen starken New Yorker Akzent. »Nein«, hatte Cherry
würdevoll zurückgegeben, »Cherry ist mein Name.«
Da Joanne zu der Zeit in der Ambulanz arbeitete,
war sie Cherry im Krankenhaus nie begegnet. Aber sie hatte am
Morgen die Geschichte von Grace gehört - dass Cherrys Wohnsituation
in der Stadtmitte unvermutet geendet hatte. Es hatte etwas mit
einer verrückten Wohngenossin zu tun und dass Cherry plötzlich
mitsamt ihrem Koffer auf der Straße stand. Verzweifelt und voller
Angst wollte sie gerade ein Taxi zur Penn Station nehmen, um mit
dem Zug nach Hause zurückzufahren, aber dann fiel ihr ein, dass
Grace eine dritte Wohngenossin suchte. Sie hatte Grace bei der
Arbeit angerufen, und Grace, hilfsbereit wie immer, hatte ihr
ausgeholfen.
Der Captain trat zu ihnen, als er Cherry sah.
»Guten Abend«, sagte er mit einer gewissen Höflichkeit, denn Cherry
war erst zwei Mal hier gewesen. »Das Übliche?«
»Ja, bitte«, sagte Cherry. Das Übliche war, wie
der Captain sich bei den vorigen Besuchen gemerkt hatte, ein
Blauer Cosmo, ein Drink, den Joanne als Beleidigung für die
Schlichtheit von Nightingales empfand. Doch
es war lustig, dem Captain zuzusehen, wie er einen so modischen
Drink mixte, und Cherry war immer noch naiv genug, zu denken, dass
die ungeschickten, übervollen Cocktails des Captains die Raffinesse
der New Yorker Cocktailkultur widerspiegelten.
»Ein großer Blauer«, sagte der Captain mit
aufgesetztem Bass. Dann fragte er die Runde: »Wo ist denn
Gracie?«
»Macht heute die Nachtschicht«, antwortete
Joanne.
»Wir haben getauscht«, warf Cherry rasch ein.
»Sie tut mir einen Gefallen, weil ich mich morgen mit meiner Tante
treffe.«
Der Captain nickte anerkennend, als würde dieser
Beweis für Grace’ elbstlosigkeit ihm etwas bestätigen.
»Möchten die Damen noch etwas?«, fragte
er.
»Ich bin keine Dame«, meinte Joanne.
»Nein, danke«, sagte Cherry.
Joannes Blick folgte dem Captain, der zum
anderen Ende der Theke ging, um Cherrys Drink zu mixen.
»Ich frage mich, was es mit dem auf sich hat«,
sagte sie kaum hörbar. »Ich meine, hat er eine Freundin? Ist er mal
verheiratet gewesen? Ist er ein Massenmörder? Ein Trannie? Ein
ehemaliger Sträfling? Wie kommt es, dass er uns nie anmacht?«
»Keine Ahnung«, antwortete Cherry leicht
gereizt. »Wir sind natürlich jung genug, um seine Töchter zu
sein.«
»Das hat für Fred Hirsch auch keine
Bedeutung.«
»Vielleicht ist er schüchtern. Vielleicht denkt
er auch, man macht keine Kunden an.« Die letzte Erklärung
schien Cherrys Anstandsgefühl zu gefallen, und sie verschränkte
befriedigt die Arme.
»Würdest du ihn ficken?«, fragte Joanne.
»Wie bitte?«, fragte Cherry und blickte nervös
in Richtung des Captains. Joannes Stimme war immer irgendwie gut zu
hören.
»Ich sagte, würdest du ihn …?«
»Ich habe dich genau verstanden«, zischte
Cherry. »Und die Antwort lautet nein. Ganz sicher nicht.«
»Gut«, meinte Joanne, »denn ich glaube, er hat
es auf Schwester Cameron abgesehen.«
»Hoffentlich nicht«, meinte Cherry. Sie wollte
Grace beschützen, denn sie hatte in den letzten Jahren viel
durchgemacht und brauchte keine unerwünschten Annäherungsversuche.
»Sie kommt nämlich gern hierher, um ein bisschen zu
entspannen.«
»Was hast du gegen den Captain? Hast du mal
seine Suppe probiert?«
»Der Chowder ist wirklich gut«, gestand Cherry.
»Schsch, er kommt.«
Langsam näherte sich der Captain mit Cherrys
leuchtend blauem Drink in der Hand.
»Mein Vater hatte ein Aftershave in der Farbe«,
sagte Joanne. »Das hat er sich immer so ins Gesicht gepatscht und
gesagt: Danke. Das brauche ich
jetzt.«
»Danke«, sagte Cherry zum Captain, der den Drink
vor sie hinstellte. Joanne wusste genau, dass Cherry nicht die
Absicht hatte, das Zeug wirklich zu trinken. Cherry trank niemals
ihr Glas aus. Sie hielt es einfach in der Hand, bis sich das Licht
darin fing und es wie ein blauer Edelstein glänzte. Das passte zu
ihren Augen, ihren Kleidern.
Sie gab Geld für einen bunten Drink aus, nur damit sie sich an dem
Anblick erfreuen konnte.
»Ich möchte mal sehen, dass du das trinkst«,
sagte Joanne.
»Ich nehme einen kleinen Schluck«, meinte
Cherry. »Das Zeugs steigt mir direkt zu Kopf, das habe ich doch
gesagt. Das macht am nächsten Morgen einfach keinen Spaß.«
In dem Augenblick ertönten die ersten Takte von
»Hard Lovin Man« von den Fleshtones von Joannes Handy.
»Es ist Donny«, sagte Joanne leicht beunruhigt.
»So spät ruft er sonst nie an. Ich hoffe, er ist okay.« Dann
drückte sie die Taste. »Donny? Alles in Ordnung?«
»He, Schmusemäuschen«, hörte man Donnys Stimme
vor lauten Hintergrundgeräuschen. »Hast du Lust auf eine heiße
Party?«
Schmusemäuschen! So hatte er sie seit Jahren
nicht mehr genannt. »Eine Party?« fragte Joanne aufgeregt. Sie war
plötzlich nicht mehr müde. »Wo bist du?«
Donny nannte ihr eine Adresse in Manhattan, West
50s.
Joanne beendete das Gespräch und wandte sich zu
Cherry. »Hast du Lust auf eine Party in der Stadt?«
»Ich habe gerade vierzehn Stunden Arbeit hinter
mir«, sagte Cherry und verbarg ihren Ärger, dass Joanne nicht daran
gedacht hatte. »Außerdem treffe ich morgen früh meine Tante.«
»Ach ja, deine Tante.« Joanne trommelte mit den
abgekauten Fingernägeln auf die Theke. Was sollte sie tun? Sie
wollte nicht allein auf die Party gehen und davon abhängen,
dass Donny sich um sie kümmerte. Aber sie wollte ihn auch sehen,
denn sie vermisste ihn. Meistens fühlte sie sich damit im Reinen,
aber manchmal wurde sie von dem schrecklichen Gefühl gepackt, dass
sie nicht ohne ihn leben konnte.
»Okay«, sagte sie zu Cherry. »Du gehst heim. Und
ich treffe mich mit meinem verrückten Gatten.«