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Als Grace und Cherry auf
der Station ankamen und über den langen Gang gingen, sahen sie
Anders im Stationszimmer zwischen den Akten und Computern. Er sah
ausdruckslos zu ihnen herüber - besonders zu Grace - und hob ein
Blatt Papier hoch. Rot bedeutete bei der Regierung die höchste
Warnstufe vor Terrorismus. Der Terrorist in diesem Fall aber war
Michael Lavender. Das Blatt war knallrot - zu Grace’ Bedauern.
Anders zog dabei eine Braue hoch und warf einen Seitenblick den
Gang entlang zur Pavarotti-Suite.
Grace lachte trotz der Warnung.
»Viel Spaß«, sagte Cherry und betrat eines der
Zimmer. Unterwegs hatte Cherry Grace ihren Plan anvertraut, während
der Pause hinauszuschleichen und Rick zu treffen. Grace war ein
bisschen neidisch gewesen - nicht so sehr auf die Vorstellung,
einen Mann zu einem späten Rendezvous zu treffen, sondern auf den
jugendliche Wagemut, der dieses romantische Abenteuer ermöglichte.
Manchmal dachte sie, sie hätte einfach nicht mehr die Energie zu
diesen Spielchen.
Als Grace das Schwesternzimmer betrat, legte
Anders die rote Terrorismus-Karte ab und setzte das falsche Lächeln
eines Hotelbediensteten auf.
»Hallo«, flötete er. »Willkommen in der
Hölle!«
»Was ist denn passiert?«, fragte Grace.
Anders seufzte. »Wo soll ich anfangen? Ach ja,
er hat gedroht, mich zu vernichten.«
»Vernichten?«
»Ja, vernichten. Genau das Wort hat er
gebraucht.«
»Aber warum?«
»Weil ich mich weigerte, die Magensonde des
Patienten auszutauschen.«
»Stimmte denn etwas nicht mit der Sonde?«
»Wusstest du das nicht? So ein Schlauch wird
schmutzig, weil, oh, mein Gott, Essen hindurchgespült wird. Und das
heißt, irgendein tödlicher Bazillus kann sich in dem Röhrchen
entwickeln - wie wir wissen, kommt das ständig vor -, der dann in
den Blutkreislauf des Patienten eindringt und ihn umbringt. Daher,
Schwester Cameron, müssen wir die Sonde mindestens einmal täglich,
wenn nicht sogar zweimal wechseln. Aus hygienischen Gründen.«
»Ach so«, erwiderte Grace. »Danke.« Grace konnte
nur hoffen, dass Lavender es nicht mit dem gleichen Blödsinn bei
ihr versuchen würde. Ihr war nicht nach einem Streit zumute.
Dann ging sie den Gang entlang zur
Pavarotti-Suite, entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen, aber
als sie die Tür öffnete, sah sie zu ihrer Überraschung, dass
Lavender nicht der einzige Besucher war. Grace hatte erwartet, dass
Lavender neben dem Bett saß und Matt aus dem Filmskript vorlas oder
leise in ein Taschentuch weinte. Aber Lavender schlief auf dem
Ledersofa, und neben dem Bett saß ein Mann, den Grace noch nie
gesehen hatte. Er war um die sechzig, breitschultrig, mit einem
gegerbten Gesicht und rötlichem Haar. Er trug Levis, braune Stiefel
und ein rotes Flanellhemd. Er sah mit traurigen, suchenden Augen zu
Grace hoch. In den Händen hielt er eine Bibel.
»Hi, ich bin Wade Conner«, sagte er zu Grace mit
einem Akzent, der seine texanische Herkunft verriet. »Ich bin Matts
Vater.«
»Hallo, ich bin Grace.« Grace fiel auf, wie sehr
der Mann Matt ähnelte - das gleiche kräftige, aber fein geschittene
Kinn, die schmale, gerade Nase. »Ich kümmere mich nachts um Matt«,
fügte sie hinzu. »Haben Sie schon mit Dr. Daras gesprochen?«
»Ja. Ich fand ihn sehr beeindruckend, wenn man
das in diesem Zusammenhang sagen kann.«
»Oh ja. Er ist mit Sicherheit einer der besten
Neurologen der Welt.« Grace merkte, wie sie Wade Conner beruhigen
wollte, auch wenn er unter den gegebenen Umständen bemerkenswert
gelassen wirkte. Das war Grace schon öfter bei Besuchern auf der
Intensivstation aufgefallen. Sie sah einen Zusammenhang mit deren
religiösen Überzeugungen.
»Mr. Lavender hat mich angerufen«, sagte Wade,
als müsste er seine Anwesenheit rechtfertigen. »Das ist der Mann
auf dem Sofa. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber er hat mich
sofort angerufen und mir gesagt, was passiert war. Ganz ehrlich,
Grace. Ich weiß kaum, was ich mit mir anfangen soll. Mr. Lavender
wollte mir ein Flugticket schicken, aber ich sagte: Oh nein! Ich
schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich Flugzeuge nicht mag - wenn
der Herr gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel
gegeben. Nein, Madam, ich bin so schnell ich konnte in meinem
Pick-up hergekommen.«
»Das ist schön«, sagte Grace, die von der
Bescheidenheit des Mannes ganz gerührt war.
»Glücklicherweise«, fuhr Wade fort, »braucht
Matts
Mutter das nicht mit anzusehen. Sie starb, als Matt dreizehn war,
und wenn Sie mich fragen, fingen damals die ganzen Probleme
an.«
»Welche Probleme?«, fragte Grace, die nun neben
Matts Bett stand und den Patienten beobachtete. Sie beschloss, zu
warten, bis Wade ging, ehe sie dem Patienten das Blut abnahm und
ihn wusch.
»Damals wurde er völlig wild und waghalsig«,
erwiderte Wade. »Zuerst hatte er ein Skateboard, mit dem er ständig
irgendwelche Tricks übte und sich dabei die Knie und Ellbogen
aufschlug. Danach war es ein Mountainbike, und mit sechzehn kaufte
er sich gebrauchte Sportwagen und rüstete sie auf. Kurz darauf
beteiligte er sich an einem Rennen, verlor die Kontrolle und
überschlug sich. Nur durch ein Wunder hat er das lebend
überstanden. Bloß ein paar Rippen waren gebrochen.« Eine Träne
rollte entlang einer Falte in Wades gebräuntem Gesicht, aber er
sprach unbeirrt weiter. »Und jetzt diese verrückte Situation. Kein
Knochen gebrochen, sagte man mir. Das stelle man sich vor. Was hat
der Herr hier im Sinn, frage ich mich?« Wade blickte seinen Sohn
liebevoll an. »Sieht aus wie ein Engel, nicht wahr? Einer von
diesen Chorengeln.« Dann redete er Matt direkt an. »Wir kriegen
dich wieder gesund, mein Junge«, sagte er. »Und dann bringe ich
dich nach Hause, wo du dich in aller Ruhe erholen kannst. Fort von
all dem Unsinn. Hast du das gehört?« Wade versuchte zu lächeln,
aber Grace erkannte, dass er kurz vor dem Zusammenbruch
stand.
»Guten Abend«, rief Fred Hirsch fröhlich. Er
rauschte in seinem weißen Kittel, die Akten unter dem Arm, ins
Zimmer. Wade stand auf, um ihn zu begrüßen.
»’n Abend«, sagte er. »Ich bin Wade Conner,
Matts Vater.«
»Fred Hirsch«, erwiderte Fred. Sie schüttelten
einander über dem Bett die Hände. »Gute Nachricht. Auf dem CAT-Scan
war keinerlei Blutung zu sehen, und beim Magnetscanner sahen wir,
dass die Schwellung zurückgegangen ist - nicht so viel, wie wir
gehofft hatten, aber es ist die gewünschte Entwicklung. Am
wichtigsten ist momentan, eine Infektion zu verhüten. Im besten
Falle holen wir ihn Ende der Woche ins Leben zurück.«
»Na, das wäre schön«, meinte Wade. »Er hat noch
eine lange Erholung vor sich.«
»Frage ist, wie lange das dauern kann und wie
schwer es wird«, erwiderte Fred auf seine freundliche, direkte Art.
»Aber das wissen wir genauer, wenn er wieder bei Bewusstsein
ist.«
Was Fred nur andeutete, war die Möglichkeit
eines dauerhaften Hirnschadens, aber niemand wollte das
weiterverfolgen. Es war genug für Wade, dass sein Sohn überhaupt
wieder aufwachte. Er war noch nicht bereit, mehr zu hoffen.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Wade, »damit ich
Ihnen nicht im Weg stehe. Mr. Lavender sagte, er würde mich zu
meinem Hotel bringen.« Er blickte zu Matt. »Oh, Matty«, seufzte er.
»Mein Matty.« Dann beugte er sich vor und küsste seinen Sohn sanft
auf die Stirn.
»Was ist los?«, ertönte eine heisere Stimme vom
Sofa her. Es war Michael Lavender, der gerade aus seinem Schlummer
aufgewacht war und beunruhigt die Gruppe um Matts Bett sah. Die
Haare standen ihm wild zu Berge, seine Augen waren vor Angst weit
aufgerissen.
»Alles in Ordnung«, beruhigte ihn Grace. »Dr.
Hirsch hat sich nur mit Mr. Conner unterhalten, der jetzt in sein
Hotel gebracht werden muss. Okay?«
Lavender war durch die Anwesenheit von Fred
Hirsch eingeschüchtert und sagte nichts weiter, obwohl Grace
spürte, dass er eine lange Liste von Beschwerden hatte, die er mit
ihr durchgehen wollte. Lavender war ein Ellbogenmensch, der
allerdings vor einem weißen Kittel kuschte.
Als Fred, Lavender und Wade Conner gegangen
waren, holte Grace tief Luft und begann mit dem allabendlichen
Ritual: Sie drehte den Patienten um, nahm ihm Blut ab und wusch
seinen perfekten Körper mit einem Schwamm. Seine Haut war glatt und
gebräunt und auffallend haarlos - offensichtlich hatte er eine
Laserbehandlung hinter sich, selbst zwischen den Schenkeln. Das
Abbild eines Mannes, dachte Grace. Wie Wade gesagt hatte, war es
erstaulich, dass er keinen einzigen Knochen gebrochen hatte.
Als Grace ihn fertig gewaschen hatte, setzte sie
sich in den Sessel neben dem Bett und bemerkte auf dem Boden davor
das Filmskript, das Lavender am Vorabend gelesen hatte. Grace hob
es auf, blätterte wahllos darin herum und begann zu lesen. In der
Geschichte schien es sich um einen Mann namens Jack und eine Frau
namens Miranda zu handeln, die mit dem Zug durch China fuhren und
von Bösewichten verfolgt wurden. Nach ein paar Seiten merkte sie,
dass sie Hunger hatte.