18
Als Grace und Cherry auf der Station ankamen und über den langen Gang gingen, sahen sie Anders im Stationszimmer zwischen den Akten und Computern. Er sah ausdruckslos zu ihnen herüber - besonders zu Grace - und hob ein Blatt Papier hoch. Rot bedeutete bei der Regierung die höchste Warnstufe vor Terrorismus. Der Terrorist in diesem Fall aber war Michael Lavender. Das Blatt war knallrot - zu Grace’ Bedauern. Anders zog dabei eine Braue hoch und warf einen Seitenblick den Gang entlang zur Pavarotti-Suite.
Grace lachte trotz der Warnung.
»Viel Spaß«, sagte Cherry und betrat eines der Zimmer. Unterwegs hatte Cherry Grace ihren Plan anvertraut, während der Pause hinauszuschleichen und Rick zu treffen. Grace war ein bisschen neidisch gewesen - nicht so sehr auf die Vorstellung, einen Mann zu einem späten Rendezvous zu treffen, sondern auf den jugendliche Wagemut, der dieses romantische Abenteuer ermöglichte. Manchmal dachte sie, sie hätte einfach nicht mehr die Energie zu diesen Spielchen.
Als Grace das Schwesternzimmer betrat, legte Anders die rote Terrorismus-Karte ab und setzte das falsche Lächeln eines Hotelbediensteten auf.
»Hallo«, flötete er. »Willkommen in der Hölle!«
»Was ist denn passiert?«, fragte Grace.
Anders seufzte. »Wo soll ich anfangen? Ach ja, er hat gedroht, mich zu vernichten.«
»Vernichten?«
»Ja, vernichten. Genau das Wort hat er gebraucht.«
»Aber warum?«
»Weil ich mich weigerte, die Magensonde des Patienten auszutauschen.«
»Stimmte denn etwas nicht mit der Sonde?«
»Wusstest du das nicht? So ein Schlauch wird schmutzig, weil, oh, mein Gott, Essen hindurchgespült wird. Und das heißt, irgendein tödlicher Bazillus kann sich in dem Röhrchen entwickeln - wie wir wissen, kommt das ständig vor -, der dann in den Blutkreislauf des Patienten eindringt und ihn umbringt. Daher, Schwester Cameron, müssen wir die Sonde mindestens einmal täglich, wenn nicht sogar zweimal wechseln. Aus hygienischen Gründen.«
»Ach so«, erwiderte Grace. »Danke.« Grace konnte nur hoffen, dass Lavender es nicht mit dem gleichen Blödsinn bei ihr versuchen würde. Ihr war nicht nach einem Streit zumute.
Dann ging sie den Gang entlang zur Pavarotti-Suite, entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen, aber als sie die Tür öffnete, sah sie zu ihrer Überraschung, dass Lavender nicht der einzige Besucher war. Grace hatte erwartet, dass Lavender neben dem Bett saß und Matt aus dem Filmskript vorlas oder leise in ein Taschentuch weinte. Aber Lavender schlief auf dem Ledersofa, und neben dem Bett saß ein Mann, den Grace noch nie gesehen hatte. Er war um die sechzig, breitschultrig, mit einem gegerbten Gesicht und rötlichem Haar. Er trug Levis, braune Stiefel und ein rotes Flanellhemd. Er sah mit traurigen, suchenden Augen zu Grace hoch. In den Händen hielt er eine Bibel.
»Hi, ich bin Wade Conner«, sagte er zu Grace mit einem Akzent, der seine texanische Herkunft verriet. »Ich bin Matts Vater.«
»Hallo, ich bin Grace.« Grace fiel auf, wie sehr der Mann Matt ähnelte - das gleiche kräftige, aber fein geschittene Kinn, die schmale, gerade Nase. »Ich kümmere mich nachts um Matt«, fügte sie hinzu. »Haben Sie schon mit Dr. Daras gesprochen?«
»Ja. Ich fand ihn sehr beeindruckend, wenn man das in diesem Zusammenhang sagen kann.«
»Oh ja. Er ist mit Sicherheit einer der besten Neurologen der Welt.« Grace merkte, wie sie Wade Conner beruhigen wollte, auch wenn er unter den gegebenen Umständen bemerkenswert gelassen wirkte. Das war Grace schon öfter bei Besuchern auf der Intensivstation aufgefallen. Sie sah einen Zusammenhang mit deren religiösen Überzeugungen.
»Mr. Lavender hat mich angerufen«, sagte Wade, als müsste er seine Anwesenheit rechtfertigen. »Das ist der Mann auf dem Sofa. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber er hat mich sofort angerufen und mir gesagt, was passiert war. Ganz ehrlich, Grace. Ich weiß kaum, was ich mit mir anfangen soll. Mr. Lavender wollte mir ein Flugticket schicken, aber ich sagte: Oh nein! Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich Flugzeuge nicht mag - wenn der Herr gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel gegeben. Nein, Madam, ich bin so schnell ich konnte in meinem Pick-up hergekommen.«
»Das ist schön«, sagte Grace, die von der Bescheidenheit des Mannes ganz gerührt war.
»Glücklicherweise«, fuhr Wade fort, »braucht Matts Mutter das nicht mit anzusehen. Sie starb, als Matt dreizehn war, und wenn Sie mich fragen, fingen damals die ganzen Probleme an.«
»Welche Probleme?«, fragte Grace, die nun neben Matts Bett stand und den Patienten beobachtete. Sie beschloss, zu warten, bis Wade ging, ehe sie dem Patienten das Blut abnahm und ihn wusch.
»Damals wurde er völlig wild und waghalsig«, erwiderte Wade. »Zuerst hatte er ein Skateboard, mit dem er ständig irgendwelche Tricks übte und sich dabei die Knie und Ellbogen aufschlug. Danach war es ein Mountainbike, und mit sechzehn kaufte er sich gebrauchte Sportwagen und rüstete sie auf. Kurz darauf beteiligte er sich an einem Rennen, verlor die Kontrolle und überschlug sich. Nur durch ein Wunder hat er das lebend überstanden. Bloß ein paar Rippen waren gebrochen.« Eine Träne rollte entlang einer Falte in Wades gebräuntem Gesicht, aber er sprach unbeirrt weiter. »Und jetzt diese verrückte Situation. Kein Knochen gebrochen, sagte man mir. Das stelle man sich vor. Was hat der Herr hier im Sinn, frage ich mich?« Wade blickte seinen Sohn liebevoll an. »Sieht aus wie ein Engel, nicht wahr? Einer von diesen Chorengeln.« Dann redete er Matt direkt an. »Wir kriegen dich wieder gesund, mein Junge«, sagte er. »Und dann bringe ich dich nach Hause, wo du dich in aller Ruhe erholen kannst. Fort von all dem Unsinn. Hast du das gehört?« Wade versuchte zu lächeln, aber Grace erkannte, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand.
»Guten Abend«, rief Fred Hirsch fröhlich. Er rauschte in seinem weißen Kittel, die Akten unter dem Arm, ins Zimmer. Wade stand auf, um ihn zu begrüßen.
»’n Abend«, sagte er. »Ich bin Wade Conner, Matts Vater.«
»Fred Hirsch«, erwiderte Fred. Sie schüttelten einander über dem Bett die Hände. »Gute Nachricht. Auf dem CAT-Scan war keinerlei Blutung zu sehen, und beim Magnetscanner sahen wir, dass die Schwellung zurückgegangen ist - nicht so viel, wie wir gehofft hatten, aber es ist die gewünschte Entwicklung. Am wichtigsten ist momentan, eine Infektion zu verhüten. Im besten Falle holen wir ihn Ende der Woche ins Leben zurück.«
»Na, das wäre schön«, meinte Wade. »Er hat noch eine lange Erholung vor sich.«
»Frage ist, wie lange das dauern kann und wie schwer es wird«, erwiderte Fred auf seine freundliche, direkte Art. »Aber das wissen wir genauer, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.«
Was Fred nur andeutete, war die Möglichkeit eines dauerhaften Hirnschadens, aber niemand wollte das weiterverfolgen. Es war genug für Wade, dass sein Sohn überhaupt wieder aufwachte. Er war noch nicht bereit, mehr zu hoffen.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Wade, »damit ich Ihnen nicht im Weg stehe. Mr. Lavender sagte, er würde mich zu meinem Hotel bringen.« Er blickte zu Matt. »Oh, Matty«, seufzte er. »Mein Matty.« Dann beugte er sich vor und küsste seinen Sohn sanft auf die Stirn.
»Was ist los?«, ertönte eine heisere Stimme vom Sofa her. Es war Michael Lavender, der gerade aus seinem Schlummer aufgewacht war und beunruhigt die Gruppe um Matts Bett sah. Die Haare standen ihm wild zu Berge, seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen.
»Alles in Ordnung«, beruhigte ihn Grace. »Dr. Hirsch hat sich nur mit Mr. Conner unterhalten, der jetzt in sein Hotel gebracht werden muss. Okay?«
Lavender war durch die Anwesenheit von Fred Hirsch eingeschüchtert und sagte nichts weiter, obwohl Grace spürte, dass er eine lange Liste von Beschwerden hatte, die er mit ihr durchgehen wollte. Lavender war ein Ellbogenmensch, der allerdings vor einem weißen Kittel kuschte.
Als Fred, Lavender und Wade Conner gegangen waren, holte Grace tief Luft und begann mit dem allabendlichen Ritual: Sie drehte den Patienten um, nahm ihm Blut ab und wusch seinen perfekten Körper mit einem Schwamm. Seine Haut war glatt und gebräunt und auffallend haarlos - offensichtlich hatte er eine Laserbehandlung hinter sich, selbst zwischen den Schenkeln. Das Abbild eines Mannes, dachte Grace. Wie Wade gesagt hatte, war es erstaulich, dass er keinen einzigen Knochen gebrochen hatte.
Als Grace ihn fertig gewaschen hatte, setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett und bemerkte auf dem Boden davor das Filmskript, das Lavender am Vorabend gelesen hatte. Grace hob es auf, blätterte wahllos darin herum und begann zu lesen. In der Geschichte schien es sich um einen Mann namens Jack und eine Frau namens Miranda zu handeln, die mit dem Zug durch China fuhren und von Bösewichten verfolgt wurden. Nach ein paar Seiten merkte sie, dass sie Hunger hatte.
Schicksalspfad Roman
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