33
Am nächsten Morgen fuhren
Cherry und Joanne mit der U-Bahn ins Krankenhaus. Cherry hatte
große Angst, Rick zu begegnen, aber Joanne versuchte sie
abzulenken, indem sie ihr von Grace und Matt Conner berichtete und
was sich zwischen den beiden zugetragen hatte.
»Ich hab es gleich gewusst!«, sagte Cherry. »Da
stimmte doch irgendetwas nicht. Sie hat nichts gesagt, und ich
wollte auch nicht neugierig sein.«
»Sie hat sich mehr Sorgen um dich gemacht«,
erklärte Joanne.
»Na, wenn Grace den Nerv hatte, Matt Conner zu
verlassen«, sagte Cherry mehr zu sich selbst, »dann sollte ich auch
in der Lage sein, Rick gegenüberzutreten.«
»Bei Grace hatte es nichts mit Nerven zu tun«,
meinte Joanne, »sie hatte einfach Angst. Wenn sie den Nerv gehabt
hätte, wäre sie geblieben und hätte es mit ihm beredet. Aber sie
ist überzeugt, dass sie sich damit zukünftige Probleme
erspart.«
»Das hat sie auch über Rick gesagt - besser,
dass ich ihn jetzt richtig kennen lerne und nicht, wenn es zu spät
ist.«
»Dafür ist es nie zu spät. Ich lasse mich von
Donny scheiden - nach wie vielen Jahren? Es ist nie zu spät. Zu
früh ist das Problem. Wie bei Grace und Matt.«
»Nicht jeder hat deine Geduld«, meinte Cherry.
»Wie oft hast du Donny noch eine Chance gegeben?«
»Oh, etwa eine Million Mal. Aber Grace hätte
Matt mindestens eine einzige geben sollen.«
»Sollte ich Rick vielleicht auch eine geben?«,
fragte Cherry aufgeregt. »Meinst du, ich habe zu heftig
reagiert?«
»Nein!«, antwortete Joanne. »Was Rick getan hat,
ist viel schlimmer als Fremdgehen. Das war kaltblütig. Ich finde
das ungeheuerlich!«
»Rick würde mir aber nie körperlich wehtun«,
protestierte Cherry, aber auch das konnte sie nicht mehr mit
Sicherheit behaupten. Sie sah Ricks Verhalten nun als Zeichen für
seinen Ehrgeiz und seine Entschiedenheit, die sie am Anfang so
attraktiv fand. Es war ein klassisches Beispiel dafür, dass das,
was einen anfangs zu einem Menschen hinzieht, später die Beziehung
ruiniert.
Als sie beim Krankenhaus ankamen, bekam Cherry
kalte Füße und weigerte sich, es zu betreten.
»Scarlett«, sagte Joanne, »mach mich nicht
sauer!«
»Ich kann nicht«, jammerte Cherry und blickte
sich immer wieder nach Rick um. »Ich bewerbe mich einfach bei
Cornell oder Lenox Hill.« Aber Joanne schob sie durch die Tür, und
dann standen sie schon vor dem Lift.
Auf der Intensivstation ging Cherry mit
gesenktem Kopf direkt zu Kathys Büro. Joanne schlenderte zum
Schwesternzimmer.
Die Bürotür stand offen. Kathy saß über einem
Stapel Akten und blickte mit dem verblüfften Gesichtsausdruck einer
Schlafwandlerin hoch.
»Oh«, sagte sie und fasste sich an den Kopf, als
suchte sie dort etwas. »Cherry! Da sind Sie ja! Wunderbar! Setzen
Sie sich.«
Cherry merkte, wie nervös Kathy war.
»Wir freuen uns alle sehr, Sie wieder hier zu
haben«, sagte Kathy mit der gleichen Vertraulichkeit, die sie sich
gestern erlaubt hatte, als sie von ihren jugendlichen Eskapaden
sprach. »Es war sicher nicht leicht nach allem, was Sie
durchgemacht haben.«
»Nein«, erwiderte Cherry. »Mein Magen ist wie
ein Stein. Ist Rick … ich meine Dr. Nash … ist er hier?« Schon bei
der Frage wurde es Cherry wieder übel. Sie wollte am liebsten
gleich wieder verschwinden.
Kathy sagte: »Wollen Sie mir etwa sagen, dass
Sie es noch nicht gehört haben?«
»Was denn?«, fragte Cherry. Sie war nicht
sicher, was sie zu erwarten hatte.
»Oh«, meinte Kathy, »Sie wissen es wohl noch
nicht. Nun, Dr. Nash hat uns informiert, dass er mit sofortiger
Wirkung Urlaub nimmt.«
»Urlaub?«
»Mit anderen Worten«, sagte Kathy, »er bewirbt
sich woanders um eine Stelle.«
»Er macht was …? Aber warum? Das verstehe ich
nicht.«
»Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber
ich glaube, dass Dr. Nash Peinlichkeiten vermeiden will. Statt
herzukommen und sich wegen seines Fehlverhaltens zu verantworten,
zieht er es vor, der Sache aus dem Weg zu gehen. Eine ziemlich
feige Entscheidung, wenn Sie mich fragen, aber durchaus
verständlich.«
Cherry war schockiert, aber da sie die Neuigkeit
von Kathy erfuhr, machte es Sinn. Natürlich würde er hier nicht
mehr auftauchen, falls er glaubte, dass Cherry sich an Kathy oder
Fred gewandt hatte! Warum war sie noch nicht selbst darauf
gekommen?
Sie war ungeheuer erleichtert, aber es schmerzte
trotzdem. Der Verlust war für sie schlimmer als der Verrat. Aber da
sie sich auf Joanne und Grace stützen konnte und sich ihrem Beruf
neu verpflichtet fühlte, konnte sie es wohl aushalten. Sie rief
sich immer wieder Grace’ Worte in Erinnerung: Besser jetzt als später mit einer noch schlimmeren
Enttäuschung fertig werden.
Joanne trug ihre engste Jeans und ein schwarzes
Sweatshirt, als sie sich auf den Weg zum Hafen machte. Hoag hatte
ihr geraten, etwas anzuziehen, das ruhig Schaden nehmen konnte -
wohl ein Hinweis auf die schreckliche Möglichkeit, dass das Boot
kenterte. Sie ging rasch durch die stillen Straßen, unter dem
frühherbstlichen goldorangefarbenen Baldachin der Bäume, und war
dankbar für diese Chance, dem Kummer über ihre zerbrochene Ehe zu
entkommen. Sie war auch dankbar, dass Hoag vermutlich keine
ernsthaften Absichten ihr gegenüber hegte - er war einfach ein
netter Typ. Und das war momentan alles, was sie brauchte.
Hoag war bereits auf dem Boot und wischte gerade
mit einem weißen Lappen das Steuer ab. Er trug ein rostfarben
kariertes Flanellhemd über einem grauen Kapuzensweatshirt, eine
sehr dunkle Sonnenbrille und eine Kappe der New York Giants. Das
passte alles sehr gut zu seinem grauen Bärtchen. Joanne hätte nie
gedacht, dass sie das Wort im Zusammenhang mit dem Captain benutzen
würde, aber ja, er sah irgendwie sexy
aus.
»Guten Morgen«, rief Joanne zu ihm
hinüber.
Hoag blickt auf, als sie über die Gangway
stakste. »Morgen«, sagte er, sichtlich erfreut über ihren Anblick.
»Du bist aber früh dran.«
»Ich wollte mein Schiff nicht verpassen«, meinte
Joanne und sah Hoag dabei bewundernd an. Er sah aus wie ein
Hell’s-Angels-Rocker auf einem Boot. »He, wo ist deine
Kappe?«
»Habe ich hier.« Hoag nahm die Skipper-Kappe vom
Sitz und warf sie Joanne zu. Sie fing sie auf.
»Ist die für mich?«, fragte sie und betrachtete
sie. Sie war wie die Krone für einen König der Meere.
»Ich habe sie extra reinigen lassen«, erwiderte
Hoag. »Probier sie mal auf.«
Joanne lachte. Sie wusste, dass ihr
Kopfbedeckungen aller Art gut standen - egal ob Tücher, Helme oder
Cowboyhüte. Sie setzte die Mütze leicht schräg auf und fragte: »Wie
sehe ich aus?«
Hoag betrachtete sie durch die dunklen Gläser
hindurch. »Wie eine moderne Bouboulina.«
»Bubu… wie?«
»Bouboulina. Sie war eine griechische
Schiffsführerin. Hat im griechischen Unabhängigkeitskrieg eine
Flotte
unter sich gehabt und den Türken ordentlich zugesetzt.«
»Toll«, meinte Joanne.
Dann streckte Hoag die Hand aus, und wie beim
letzten Mal war Joanne seltsam dankbar, dass er ihr ins Boot half.
Hoag gab ihr eine gelbe Schwimmweste und legte selbst eine
an.
»Wohin fahren wir?«, fragte Joanne, währen sie
die Weste zuschnürte. »Auf die Bahamas?«
»Nächstes Mal. Heute machen wir nur einen Trip
um die Insel.«
»Okay, also bloß eine Rundfahrt. Gut.« Joanne
setzte sich auf den Bootsrand und schlug die Beine übereinander.
»Ich habe nur eine Bitte, wenn wir einen Walfisch sehen, der sich
verirrt hat, können wir dann einfach daran vorbeifahren?« Hoag
lachte und startete den Motor. »Komm her«, sagte er, als das Boot
sich vom Kai löste.
Joanne setzte sich neben den Captain auf den
Sitz links vom Steuerrad wie in einem englischen Auto. Sanft glitt
das Fahrzeug hinaus ins offene Wasser. Es waren kaum andere Schiffe
in der Bucht. Es war zwar erst Anfang Oktober, aber viele Leute
hatten ihre Boote bereits für den Winter ins Trockendock
gebracht.
»Na, wie steht es?«, fragte Hoag, und Joanne
vermutete, er meinte damit sie und Donny.
»Nicht schlecht«, erwiderte Joanne. »Wir drei
Mädels haben uns sämtliche Romanzen vom Hals geschafft. Ich hatte
eine Unterredung mit meinem Anwalt.« Hoag nickte. »So weit kommt es
manchmal.«
»In meiner Familie eigentlich nicht. Aber ich
hatte ein
langes Gespräch mit meinem speziellen Freund Tony, und der sagte,
es sei okay. Tony ist ein ziemlicher Außenseiter.«
»Ein spezieller Freund?«
»Der heilige Antonius. Du solltest ihn kennen
lernen, denn er beschützt einen vor Schiffbruch. Echten
Schiffbruch, nicht nur die zu Hause. Selbstredend.«
»Da hat er aber ein paar übersehen.«
»Er hat auch viel um die Ohren«, meinte Joanne
verteidigend. »Denn außerdem ist er der Schutzpatron aller
verlorenen Dinge und von vermisst gemeldeten Personen.«
»Ah, dann hat er wohl Recht mit dem
Anwalt.«
»Yeah, komisch, wie sich alles so
entwickelt.«
Joanne spürte, wie eine Welle von Traurigkeit
sie übermannte. All diese vergeudeten Jahre! Ihr Glaube war
erschüttert, ihr Vertrauen zerstört. Aber das müsste sie eigentlich
nicht überraschen. Niemand hatte Donny leiden können. Sie allein
hatte ihn geliebt. Und jetzt war sie in ihrer Trauer auch ganz
allein.
Sie holte tief Luft, als das Boot unter der
Brücke hindurchfuhr, die die Insel mit dem Festland verband. Hoag
steuerte die Suzanne um den Westteil, wo
eine Reihe baufälliger Holzhäuser in verblichenem Gelb und Blau an
dem stillen Ufer stand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hoag.
Joanne schniefte. »Ja, gut«, sagte sie. Dann
berührte sie den Schirm ihrer Mütze und versuchte ein Lächeln: »Na,
wo wir jetzt persönlich werden, frage ich mich, wer eigentlich
Suzanne war.«
Hoag starrte aufs Wasser. »Das ist mein
Mädchen«, sagte
er mit einer Zärtlichkeit, die Joanne bislang nicht bei ihm
entdeckt hatte.
Joanne sank bei dieser Antwort ein wenig das
Herz. Es war klar, dass Hoag in diese Person verliebt war, wer
immer sie auch war. Nicht dass Joanne irgendeinen Grund zur
Eifersucht oder auch nur Enttäuschung hatte. Hoag war schließlich
nur ein Freund. Und selbst, wenn sie sich für ihn interessierte,
war es kein Grund zur Beunruhigung. Hoag war nicht verheiratet - er
trug zumindest keinen Ring. Und Joanne hatte nie die Anwesenheit
einer Frau in seinem Leben gespürt.
»Wo ist sie jetzt?«, versuchte sie es
weiter.
»Das ist eine gute Frage«, gab Hoag zurück.
»Hängt wohl davon ab, was man glaubt.«
Joanne war nicht sicher, ob sie ihn verstand.
»Was glaubst du denn?«
»Nicht viel. Aber falls es einen Himmel gibt,
wie einige meinen, dann wäre sie da. Gar keine Frage.«
»Oh«, sagt Joanne. Sie hatte es geahnt. »Das tut
mir leid.«
»Scharlach«, fuhr Hoag in seinem schlichten,
unsentimentalen Tonfall fort. »Hatte eines Morgens Fieber, und drei
Tage später war sie tot. Sie war sechs Jahre alt. Sechs Jahre, zwei
Monate und elf Tage.«
»Hoag!«, rief Joanne und schlug die Hand vor den
Mund. »Sie war deine Tochter!«
Hoag nickte. »Meine Frau ist nie darüber
hinweggekommen, was verständlich ist«, sagte er ohne eine Regung.
»Und wir bekamen Schwierigkeiten. Sie hat mich verlassen und ist in
eine Hippiekommune in Oregon gezogen. Hat sich da hineingestürzt.
So habe ich meine
Familie verloren.« Er kratzte sich den Nasenflügel. »Suzanne wäre
jetzt etwa in Grace’ Alter. Siebenunddreißig.«
»Das ist furchtbar, Hoag.« Joanne wollte ihn an
der Schulter berühren, fürchtete aber, das wäre zu mitleidig.
»Als ich noch klein war«, fuhr Hoag fort, »und
wegen irgendwas aufgebracht war, habe ich immer meine Angel
geschnappt und bin an den See gegangen. So ganz allein konnte ich
den Rest der Welt vergessen und mich wieder beruhigen. Als meine
Frau mich verließ, habe ich einen Job auf einem Boot in Nova Scotia
angenommen und bin zweiundzwanzig Jahre lang zur See
gefahren.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, was du
durchgemacht hast«, sagte Joanne. »Erst der Krieg, dann der Verlust
deiner Familie - es ist erstaunlich, wie du das alles überstanden
hast.«
»Ich hatte jede Menge Chancen, einen anderen Weg
zu nehmen«, sagte Hoag, »aber ich wusste auch, wie gut Geduld für
einen ist - von damals, am See. Alles erscheint einem furchtbar,
man hat den ganzen Tag nichts gegessen, schwitzt und ist müde, und
vielleicht will man aufgeben, aber man bleibt trotzdem da. Und dann
zuckt es plötzlich am Ende der Leine, so dass man es am ganzen Arm
spürt. Plötzlich fühlt man sich wieder ganz lebendig.« Er sah
Joanne mit einem vermutlich bedeutsamen Blick an, aber das war
hinter der Sonnenbrille nur schwer auszumachen.
Sie schwiegen, während das Boot langsam durch
das Wasser tuckerte. Vor ihnen ragte der weiße Leuchtturm von
Turtle Island in voller Größe auf seinem Felsvorsprung
auf. An Nebeltagen hörte man alle fünfzehn Sekunden sein
Signal.
»Ist er nicht schön?«, fragte Hoag, dessen
Stimmung sich wieder hob. »Er wurde 1793 erbaut, hundert Jahre,
nachdem die ersten Siedler hier landeten. Kennst du Eddie aus der
Bar? Sein Vater war bis vor dreißig Jahren der Leuchtturmwärter.
Jetzt ist alles automatisiert. Ich nehme dich irgendwann mal mit in
die Wächterstube.«
»Das fände ich toll«, sagte Joanne. »Ich war
noch nie auf einem Leuchtturm.«
»Wir können froh sein, dass er noch steht. 1922
strandete ein Schiff namens Clementine auf
den Felsen hier und hätte ihn fast gerammt. Zwei Männer sind dabei
ertrunken und ein halbes Dutzend Pferde.Vermutlich hatte dein
heiliger Antonius an dem Tag gerade frei.«
»He, keine Kritik an Tony. Er kann nicht überall
gleichzeitig sein.«
»Ich beschwere mich ja gar nicht«, sagte Hoag.
»Wenn wir nicht ab und zu einen Schiffbruch hätten, wäre es noch
schwerer, die Blaumarle zu fangen.«
»Warum?«
»Die hängen gerne irgendwo in Verstecken herum.
In Schiffswracks, um Riffe und Piere. Am leichtesten findet man sie
in einem Wrack, von dem keiner weiß. Ich habe schon ein paar
gefunden.«
Der Leuchtturm lag nun hinter ihnen, während die
Ostspitze der Insel mit der klapprigen alten Pier, einem schmalen
Streifen Kiesstrand und kargem Dünengras in Sicht kam.
Hoag schaltete den Motor ab.
Joanne spürte Angst aufflackern. »Ist was?«,
fragte sie,
als das Boot langsamer fuhr. »Wir sinken doch nicht etwa,
oder?«
Hoag lächelte. »Nein, wir nehmen uns bloß Zeit.
Dann griff er in die Plastiktüte auf dem Boden zwischen ihnen und
zog eine Flasche Wein mit zwei Gläsern heraus.
Joanne lachte. »Meinst du das ernst?«
»Ich weiß, es ist noch früh, aber wir haben hier
draußen viel Zeit.«
»Das meinte ich nicht - ich hatte nur nicht
gedacht, dass du ein Weintrinker bist.«
»Nur bei besonderen Gelegenheiten.«
»Oh …«, erwiderte Joanne, wusste aber nicht
genau, warum dies eine besondere Gelegenheit war.
»Ich habe auch Brot und Käse mitgebracht«,
meinte Hoag und griff wieder in die Tüte. »Und Räucherlachs und
Äpfel. Bedien dich.«
»Danke.« Joanne war ein wenig schwindlig. Das
Boot tanzte auf den Wellen. Langsam wurde die Sonne wärmer.
Hoag reichte Joanne ein Glas und entkorkte den
Wein, einen Chardonnay von der Finger-Lakes-Gegend. Erst goss er
ihr ein Glas ein, dann sich selbst, ehe er sein Glas erhob.
»Auf dich«, sagte er.
Joanne sah ihr Spiegelbild in seinen
Sonnenbrillengläsern. Sie stieß mit ihm an und trank einen kleinen
Schluck, weil sie Weißwein eigentlich nicht mochte.
»Du bist eine sehr nette Frau«, sagte Hoag nun
im gleichen sachlichen Tonfall wie ein Naturforscher, der eine
Beobachtung macht. Er hätte ebenso gut sagen können: »Das ist ein
sehr alter Baum« oder »Das ist ein sehr großer Fisch.«
»Danke«, erwiderte Joanne. Kleine Wellen
schlugen gegen das Boot.
Dann nahm Hoag die Sonnenbrille ab und sah sie
mit seinen stahlgrauen Augen an. »Eine Schande, dass dein Mann dich
nicht richtig geschätzt hat. Etwas Dümmeres kann man sich kaum
vorstellen.«
Joanne war nicht sicher, wie sie darauf
reagieren sollte. Warum hatte er die Sonnenbrille abgenommen?
»Komm her«, sagt Hoag nun sanft.
Er will mich küssen,
dachte Joanne panisch. Das Schaukeln und Wiegen des Bootes schien
sich auf ihren Magen auszuwirken. »Ich glaube, mir ist schlecht«,
sagte sie jammernd. »Können wir bitte zurückfahren?«
Hoag sah sie einen Moment an. »Klar«, sagte er
und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen, aber Joanne spürte,
wie bedrückt seine Stimme klang. Er ließ den Motor an, und im
nächsten Moment bewegte sich das Boot wieder.
Aber Joanne ging es dadurch nicht besser. Sie
war tatsächlich seekrank.
Hoag musste das erkannt haben, denn er griff in
die Plastiktüte und brachte etwas zum Vorschein, was wie
unregelmäßige braune Zuckerwürfel aussah. »Hier«, sagte er. »Das
ist kandierter Ingwer. Lutsch ein Stückchen.« Seine Stimme war
tonlos, die Stimmung, in der er die Fahrt zum Leuchtturm
vorgeschlagen hatte, war verschwunden. »Man kann auch versuchen,
ein Ohr mit dem Finger zu schließen. Falls das nicht klappt, leg
dich flach auf dem Rücken aufs Deck.«
»Danke.«
Der Ingwer schmeckte gut, und Joanne ging es
etwas
besser, aber sie war immer noch schockiert und sogar wütend, dass
Hoag sie anmachen wollte, obwohl er von ihrer momentan schwierigen
Situation wusste. Sie hatte seine Schüchternheit und den
offensichtlichen Mangel an sexuellem Interesse für
selbstverständlich gehalten und bloß eine Stunde auf dem Wasser
verbringen wollen, um der Welt eine Weile zu entkommen. Es war
nicht die Tatsache, dass er sich ihr so genähert hatte, es war
eher, weil sie noch nicht dazu bereit war. Damit hatte er nun alles
verdorben. Sie hatte ihn verletzt. Offensichtlich glaubte er, dass
ihr die Übelkeit zum richtigen Zeitpunkt eingefallen war. Joanne
war sauer, dass er sie in eine solche Lage gebracht hatte. Hätte er
nicht mindestens warten können, bis sie wieder an Land waren? In
dem Boot war sie ja wie eine Gefangene.
Joanne schloss die Augen und steckte sich einen
Finger ins Ohr, während Hoag sie schneller und ohne ein weiteres
Wort zurückbrachte, als sie gekommen waren. Am Bootssteg ging es
Joanne sofort besser. Selbst ihre Stimmung hob sich. Aber sie sah,
dass Hoag noch tief getroffen war.
Sie hätte ihn gerne aufgeheitert, weil sie die
Spannung zwischen ihnen jetzt nicht gut fand. Und sie wollte auch
nicht, dass Nightingales nun für sie zum
Tabu wurde.
Als die Suzanne wieder
vertäut war, half Hoag Joanne vom Boot. Er war kein Idiot. Das
wusste sie. Außerdem hatte er so viel durchgemacht - mehr als sie
vermutet hatte. Viel mehr.
»Ich bleibe noch ein bisschen hier und werkel am
Boot«, meinte Hoag steif. »Hoffentlich geht es dir jetzt
besser.«
Joanne sah, dass er sich Mühe gab, etwas zu
sagen.Vermutlich hatte er seit Jahren nichts mit Frauen zu tun
gehabt und war nun echt verletzt. Doch er gab sich Mühe, es zu
verbergen.
»Es tut mir leid«, sagte Joanne. »Aber du kannst
das sicher verstehen, dass ich momentan mächtig in der Patsche
sitze und …«
Hoag hob eine Hand. »Du brauchst nichts zu
erklären. Es war ein schöner Ausflug. Bis dann in der Kneipe.«
Damit drehte er sich um und ging unter Deck.
Joanne wollte noch mehr sagen, dass sie ihn
mochte und nicht wollte, dass er nun aufgab. Aber sie war einfach
noch nicht bereit dazu. Daher ging sie ohne einen Blick zurück los
und merkte erst zu Hause, dass sie immer noch seine Kappe
trug.
»Immerhin ist das Boot nicht gekentert«, sagte
Joanne am Abend vor der dampfenden Schüssel mit Cajun-Krabben, die
Cherry nach einem alten Familienrezept gekocht hatte. »Das war wohl
das Beste an dem Trip.«
»War es denn so schlimm?«, fragte Grace, die an
diesem Abend frei hatte. Sie schälte eine Krabbe und warf die
Schalen in die Schüssel auf dem Tisch. »Was ist denn
passiert?«
»Er hat versucht, mich zu küssen«, sagte
Joanne.
»Versucht?«, fragte Cherry. »Du meinst, du hast
ihn nicht gelassen?«
»Nein«, sagte Joanne und schüttelte heftig den
Kopf. »Ich konnte nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Grace.
»Weil …«, begann Joanne. »Ich meine, er wusste
doch,
dass ich die Scheidung vor mir habe, da würde man meinen, er ist
taktvoll und macht mich nicht mitten auf hoher See an.«
»Hoffentlich stellt er sich nicht als Idiot
heraus«, meinte Grace. »Das wäre nämlich wirklich schade.«
»Neinneinnein«, erwiderte Joanne, »ein Idiot ist
er nicht, nur einsam, glaube ich.« Sie dachte daran, dass Hoag
seine Tochter und seine Frau verloren hatte. Das erklärte manches,
aber aus Respekt für ihn teilte sie dies ihren Freundinnen nicht
mit. »Ich hoffe nur, dass ich nicht alles verdorben habe.«
»Klingt eher so, als hätte er einiges verdorben«, meinte Cherry.
»Nein, es war nicht seine Schuld. Er wolle mich
küssen, das ist alles. Ich hoffe, er ist nicht allzu
beleidigt.«
»Magst du ihn?«, fragte Grace. »Ich meine, du
trägst ja immer noch seine Mütze.«
Joanne hatte die Kappe völlig vergessen. »Oh«,
sagte sie und fasste an den Schirm. »Ich habe nicht gesagt, dass
ich ihn nicht mag, ich bin nur einfach momentan nicht reif für eine
Beziehung.« Trotzdem sehnte sie sich danach, wieder mit ihm
zusammen auf dem Boot zu sein und seine tiefe, entspannende Stimme
zu hören. Jetzt würde sie ihn küssen …
»Keine Sorge«, meinte Grace, die Joannes
Gedanken zu erraten schien. »Wenn er nur halb der Kerl ist, für den
wir ihn alle halten, dann wird er das verstehen.«
»Das Ganze war eine schlechte Idee«, meinte
Joanne. »Ich bin seekrank geworden und habe fast gekotzt.«
»Bevor oder nachdem er dich küssen wollte?«,
fragte Cherry.
»Während.« Joanne lachte, damit die anderen
merkten, dass sie in Ordnung war. »Es sieht jedenfalls so aus«,
sagte sie dann kopfschüttelnd, »als würde ich Nightingales eine Weile meiden.«