33
Am nächsten Morgen fuhren Cherry und Joanne mit der U-Bahn ins Krankenhaus. Cherry hatte große Angst, Rick zu begegnen, aber Joanne versuchte sie abzulenken, indem sie ihr von Grace und Matt Conner berichtete und was sich zwischen den beiden zugetragen hatte.
»Ich hab es gleich gewusst!«, sagte Cherry. »Da stimmte doch irgendetwas nicht. Sie hat nichts gesagt, und ich wollte auch nicht neugierig sein.«
»Sie hat sich mehr Sorgen um dich gemacht«, erklärte Joanne.
»Na, wenn Grace den Nerv hatte, Matt Conner zu verlassen«, sagte Cherry mehr zu sich selbst, »dann sollte ich auch in der Lage sein, Rick gegenüberzutreten.«
»Bei Grace hatte es nichts mit Nerven zu tun«, meinte Joanne, »sie hatte einfach Angst. Wenn sie den Nerv gehabt hätte, wäre sie geblieben und hätte es mit ihm beredet. Aber sie ist überzeugt, dass sie sich damit zukünftige Probleme erspart.«
»Das hat sie auch über Rick gesagt - besser, dass ich ihn jetzt richtig kennen lerne und nicht, wenn es zu spät ist.«
»Dafür ist es nie zu spät. Ich lasse mich von Donny scheiden - nach wie vielen Jahren? Es ist nie zu spät. Zu früh ist das Problem. Wie bei Grace und Matt.«
»Nicht jeder hat deine Geduld«, meinte Cherry. »Wie oft hast du Donny noch eine Chance gegeben?«
»Oh, etwa eine Million Mal. Aber Grace hätte Matt mindestens eine einzige geben sollen.«
»Sollte ich Rick vielleicht auch eine geben?«, fragte Cherry aufgeregt. »Meinst du, ich habe zu heftig reagiert?«
»Nein!«, antwortete Joanne. »Was Rick getan hat, ist viel schlimmer als Fremdgehen. Das war kaltblütig. Ich finde das ungeheuerlich!«
»Rick würde mir aber nie körperlich wehtun«, protestierte Cherry, aber auch das konnte sie nicht mehr mit Sicherheit behaupten. Sie sah Ricks Verhalten nun als Zeichen für seinen Ehrgeiz und seine Entschiedenheit, die sie am Anfang so attraktiv fand. Es war ein klassisches Beispiel dafür, dass das, was einen anfangs zu einem Menschen hinzieht, später die Beziehung ruiniert.
 
Als sie beim Krankenhaus ankamen, bekam Cherry kalte Füße und weigerte sich, es zu betreten.
»Scarlett«, sagte Joanne, »mach mich nicht sauer!«
»Ich kann nicht«, jammerte Cherry und blickte sich immer wieder nach Rick um. »Ich bewerbe mich einfach bei Cornell oder Lenox Hill.« Aber Joanne schob sie durch die Tür, und dann standen sie schon vor dem Lift.
Auf der Intensivstation ging Cherry mit gesenktem Kopf direkt zu Kathys Büro. Joanne schlenderte zum Schwesternzimmer.
Die Bürotür stand offen. Kathy saß über einem Stapel Akten und blickte mit dem verblüfften Gesichtsausdruck einer Schlafwandlerin hoch.
»Oh«, sagte sie und fasste sich an den Kopf, als suchte sie dort etwas. »Cherry! Da sind Sie ja! Wunderbar! Setzen Sie sich.«
Cherry merkte, wie nervös Kathy war.
»Wir freuen uns alle sehr, Sie wieder hier zu haben«, sagte Kathy mit der gleichen Vertraulichkeit, die sie sich gestern erlaubt hatte, als sie von ihren jugendlichen Eskapaden sprach. »Es war sicher nicht leicht nach allem, was Sie durchgemacht haben.«
»Nein«, erwiderte Cherry. »Mein Magen ist wie ein Stein. Ist Rick … ich meine Dr. Nash … ist er hier?« Schon bei der Frage wurde es Cherry wieder übel. Sie wollte am liebsten gleich wieder verschwinden.
Kathy sagte: »Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie es noch nicht gehört haben?«
»Was denn?«, fragte Cherry. Sie war nicht sicher, was sie zu erwarten hatte.
»Oh«, meinte Kathy, »Sie wissen es wohl noch nicht. Nun, Dr. Nash hat uns informiert, dass er mit sofortiger Wirkung Urlaub nimmt.«
»Urlaub?«
»Mit anderen Worten«, sagte Kathy, »er bewirbt sich woanders um eine Stelle.«
»Er macht was …? Aber warum? Das verstehe ich nicht.«
»Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, dass Dr. Nash Peinlichkeiten vermeiden will. Statt herzukommen und sich wegen seines Fehlverhaltens zu verantworten, zieht er es vor, der Sache aus dem Weg zu gehen. Eine ziemlich feige Entscheidung, wenn Sie mich fragen, aber durchaus verständlich.«
Cherry war schockiert, aber da sie die Neuigkeit von Kathy erfuhr, machte es Sinn. Natürlich würde er hier nicht mehr auftauchen, falls er glaubte, dass Cherry sich an Kathy oder Fred gewandt hatte! Warum war sie noch nicht selbst darauf gekommen?
Sie war ungeheuer erleichtert, aber es schmerzte trotzdem. Der Verlust war für sie schlimmer als der Verrat. Aber da sie sich auf Joanne und Grace stützen konnte und sich ihrem Beruf neu verpflichtet fühlte, konnte sie es wohl aushalten. Sie rief sich immer wieder Grace’ Worte in Erinnerung: Besser jetzt als später mit einer noch schlimmeren Enttäuschung fertig werden.
 
Joanne trug ihre engste Jeans und ein schwarzes Sweatshirt, als sie sich auf den Weg zum Hafen machte. Hoag hatte ihr geraten, etwas anzuziehen, das ruhig Schaden nehmen konnte - wohl ein Hinweis auf die schreckliche Möglichkeit, dass das Boot kenterte. Sie ging rasch durch die stillen Straßen, unter dem frühherbstlichen goldorangefarbenen Baldachin der Bäume, und war dankbar für diese Chance, dem Kummer über ihre zerbrochene Ehe zu entkommen. Sie war auch dankbar, dass Hoag vermutlich keine ernsthaften Absichten ihr gegenüber hegte - er war einfach ein netter Typ. Und das war momentan alles, was sie brauchte.
Hoag war bereits auf dem Boot und wischte gerade mit einem weißen Lappen das Steuer ab. Er trug ein rostfarben kariertes Flanellhemd über einem grauen Kapuzensweatshirt, eine sehr dunkle Sonnenbrille und eine Kappe der New York Giants. Das passte alles sehr gut zu seinem grauen Bärtchen. Joanne hätte nie gedacht, dass sie das Wort im Zusammenhang mit dem Captain benutzen würde, aber ja, er sah irgendwie sexy aus.
»Guten Morgen«, rief Joanne zu ihm hinüber.
Hoag blickt auf, als sie über die Gangway stakste. »Morgen«, sagte er, sichtlich erfreut über ihren Anblick. »Du bist aber früh dran.«
»Ich wollte mein Schiff nicht verpassen«, meinte Joanne und sah Hoag dabei bewundernd an. Er sah aus wie ein Hell’s-Angels-Rocker auf einem Boot. »He, wo ist deine Kappe?«
»Habe ich hier.« Hoag nahm die Skipper-Kappe vom Sitz und warf sie Joanne zu. Sie fing sie auf.
»Ist die für mich?«, fragte sie und betrachtete sie. Sie war wie die Krone für einen König der Meere.
»Ich habe sie extra reinigen lassen«, erwiderte Hoag. »Probier sie mal auf.«
Joanne lachte. Sie wusste, dass ihr Kopfbedeckungen aller Art gut standen - egal ob Tücher, Helme oder Cowboyhüte. Sie setzte die Mütze leicht schräg auf und fragte: »Wie sehe ich aus?«
Hoag betrachtete sie durch die dunklen Gläser hindurch. »Wie eine moderne Bouboulina.«
»Bubu… wie?«
»Bouboulina. Sie war eine griechische Schiffsführerin. Hat im griechischen Unabhängigkeitskrieg eine Flotte unter sich gehabt und den Türken ordentlich zugesetzt.«
»Toll«, meinte Joanne.
Dann streckte Hoag die Hand aus, und wie beim letzten Mal war Joanne seltsam dankbar, dass er ihr ins Boot half. Hoag gab ihr eine gelbe Schwimmweste und legte selbst eine an.
»Wohin fahren wir?«, fragte Joanne, währen sie die Weste zuschnürte. »Auf die Bahamas?«
»Nächstes Mal. Heute machen wir nur einen Trip um die Insel.«
»Okay, also bloß eine Rundfahrt. Gut.« Joanne setzte sich auf den Bootsrand und schlug die Beine übereinander. »Ich habe nur eine Bitte, wenn wir einen Walfisch sehen, der sich verirrt hat, können wir dann einfach daran vorbeifahren?« Hoag lachte und startete den Motor. »Komm her«, sagte er, als das Boot sich vom Kai löste.
Joanne setzte sich neben den Captain auf den Sitz links vom Steuerrad wie in einem englischen Auto. Sanft glitt das Fahrzeug hinaus ins offene Wasser. Es waren kaum andere Schiffe in der Bucht. Es war zwar erst Anfang Oktober, aber viele Leute hatten ihre Boote bereits für den Winter ins Trockendock gebracht.
»Na, wie steht es?«, fragte Hoag, und Joanne vermutete, er meinte damit sie und Donny.
»Nicht schlecht«, erwiderte Joanne. »Wir drei Mädels haben uns sämtliche Romanzen vom Hals geschafft. Ich hatte eine Unterredung mit meinem Anwalt.« Hoag nickte. »So weit kommt es manchmal.«
»In meiner Familie eigentlich nicht. Aber ich hatte ein langes Gespräch mit meinem speziellen Freund Tony, und der sagte, es sei okay. Tony ist ein ziemlicher Außenseiter.«
»Ein spezieller Freund?«
»Der heilige Antonius. Du solltest ihn kennen lernen, denn er beschützt einen vor Schiffbruch. Echten Schiffbruch, nicht nur die zu Hause. Selbstredend.«
»Da hat er aber ein paar übersehen.«
»Er hat auch viel um die Ohren«, meinte Joanne verteidigend. »Denn außerdem ist er der Schutzpatron aller verlorenen Dinge und von vermisst gemeldeten Personen.«
»Ah, dann hat er wohl Recht mit dem Anwalt.«
»Yeah, komisch, wie sich alles so entwickelt.«
Joanne spürte, wie eine Welle von Traurigkeit sie übermannte. All diese vergeudeten Jahre! Ihr Glaube war erschüttert, ihr Vertrauen zerstört. Aber das müsste sie eigentlich nicht überraschen. Niemand hatte Donny leiden können. Sie allein hatte ihn geliebt. Und jetzt war sie in ihrer Trauer auch ganz allein.
Sie holte tief Luft, als das Boot unter der Brücke hindurchfuhr, die die Insel mit dem Festland verband. Hoag steuerte die Suzanne um den Westteil, wo eine Reihe baufälliger Holzhäuser in verblichenem Gelb und Blau an dem stillen Ufer stand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hoag.
Joanne schniefte. »Ja, gut«, sagte sie. Dann berührte sie den Schirm ihrer Mütze und versuchte ein Lächeln: »Na, wo wir jetzt persönlich werden, frage ich mich, wer eigentlich Suzanne war.«
Hoag starrte aufs Wasser. »Das ist mein Mädchen«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die Joanne bislang nicht bei ihm entdeckt hatte.
Joanne sank bei dieser Antwort ein wenig das Herz. Es war klar, dass Hoag in diese Person verliebt war, wer immer sie auch war. Nicht dass Joanne irgendeinen Grund zur Eifersucht oder auch nur Enttäuschung hatte. Hoag war schließlich nur ein Freund. Und selbst, wenn sie sich für ihn interessierte, war es kein Grund zur Beunruhigung. Hoag war nicht verheiratet - er trug zumindest keinen Ring. Und Joanne hatte nie die Anwesenheit einer Frau in seinem Leben gespürt.
»Wo ist sie jetzt?«, versuchte sie es weiter.
»Das ist eine gute Frage«, gab Hoag zurück. »Hängt wohl davon ab, was man glaubt.«
Joanne war nicht sicher, ob sie ihn verstand. »Was glaubst du denn?«
»Nicht viel. Aber falls es einen Himmel gibt, wie einige meinen, dann wäre sie da. Gar keine Frage.«
»Oh«, sagt Joanne. Sie hatte es geahnt. »Das tut mir leid.«
»Scharlach«, fuhr Hoag in seinem schlichten, unsentimentalen Tonfall fort. »Hatte eines Morgens Fieber, und drei Tage später war sie tot. Sie war sechs Jahre alt. Sechs Jahre, zwei Monate und elf Tage.«
»Hoag!«, rief Joanne und schlug die Hand vor den Mund. »Sie war deine Tochter!«
Hoag nickte. »Meine Frau ist nie darüber hinweggekommen, was verständlich ist«, sagte er ohne eine Regung. »Und wir bekamen Schwierigkeiten. Sie hat mich verlassen und ist in eine Hippiekommune in Oregon gezogen. Hat sich da hineingestürzt. So habe ich meine Familie verloren.« Er kratzte sich den Nasenflügel. »Suzanne wäre jetzt etwa in Grace’ Alter. Siebenunddreißig.«
»Das ist furchtbar, Hoag.« Joanne wollte ihn an der Schulter berühren, fürchtete aber, das wäre zu mitleidig.
»Als ich noch klein war«, fuhr Hoag fort, »und wegen irgendwas aufgebracht war, habe ich immer meine Angel geschnappt und bin an den See gegangen. So ganz allein konnte ich den Rest der Welt vergessen und mich wieder beruhigen. Als meine Frau mich verließ, habe ich einen Job auf einem Boot in Nova Scotia angenommen und bin zweiundzwanzig Jahre lang zur See gefahren.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, was du durchgemacht hast«, sagte Joanne. »Erst der Krieg, dann der Verlust deiner Familie - es ist erstaunlich, wie du das alles überstanden hast.«
»Ich hatte jede Menge Chancen, einen anderen Weg zu nehmen«, sagte Hoag, »aber ich wusste auch, wie gut Geduld für einen ist - von damals, am See. Alles erscheint einem furchtbar, man hat den ganzen Tag nichts gegessen, schwitzt und ist müde, und vielleicht will man aufgeben, aber man bleibt trotzdem da. Und dann zuckt es plötzlich am Ende der Leine, so dass man es am ganzen Arm spürt. Plötzlich fühlt man sich wieder ganz lebendig.« Er sah Joanne mit einem vermutlich bedeutsamen Blick an, aber das war hinter der Sonnenbrille nur schwer auszumachen.
Sie schwiegen, während das Boot langsam durch das Wasser tuckerte. Vor ihnen ragte der weiße Leuchtturm von Turtle Island in voller Größe auf seinem Felsvorsprung auf. An Nebeltagen hörte man alle fünfzehn Sekunden sein Signal.
»Ist er nicht schön?«, fragte Hoag, dessen Stimmung sich wieder hob. »Er wurde 1793 erbaut, hundert Jahre, nachdem die ersten Siedler hier landeten. Kennst du Eddie aus der Bar? Sein Vater war bis vor dreißig Jahren der Leuchtturmwärter. Jetzt ist alles automatisiert. Ich nehme dich irgendwann mal mit in die Wächterstube.«
»Das fände ich toll«, sagte Joanne. »Ich war noch nie auf einem Leuchtturm.«
»Wir können froh sein, dass er noch steht. 1922 strandete ein Schiff namens Clementine auf den Felsen hier und hätte ihn fast gerammt. Zwei Männer sind dabei ertrunken und ein halbes Dutzend Pferde.Vermutlich hatte dein heiliger Antonius an dem Tag gerade frei.«
»He, keine Kritik an Tony. Er kann nicht überall gleichzeitig sein.«
»Ich beschwere mich ja gar nicht«, sagte Hoag. »Wenn wir nicht ab und zu einen Schiffbruch hätten, wäre es noch schwerer, die Blaumarle zu fangen.«
»Warum?«
»Die hängen gerne irgendwo in Verstecken herum. In Schiffswracks, um Riffe und Piere. Am leichtesten findet man sie in einem Wrack, von dem keiner weiß. Ich habe schon ein paar gefunden.«
Der Leuchtturm lag nun hinter ihnen, während die Ostspitze der Insel mit der klapprigen alten Pier, einem schmalen Streifen Kiesstrand und kargem Dünengras in Sicht kam.
Hoag schaltete den Motor ab.
Joanne spürte Angst aufflackern. »Ist was?«, fragte sie, als das Boot langsamer fuhr. »Wir sinken doch nicht etwa, oder?«
Hoag lächelte. »Nein, wir nehmen uns bloß Zeit. Dann griff er in die Plastiktüte auf dem Boden zwischen ihnen und zog eine Flasche Wein mit zwei Gläsern heraus.
Joanne lachte. »Meinst du das ernst?«
»Ich weiß, es ist noch früh, aber wir haben hier draußen viel Zeit.«
»Das meinte ich nicht - ich hatte nur nicht gedacht, dass du ein Weintrinker bist.«
»Nur bei besonderen Gelegenheiten.«
»Oh …«, erwiderte Joanne, wusste aber nicht genau, warum dies eine besondere Gelegenheit war.
»Ich habe auch Brot und Käse mitgebracht«, meinte Hoag und griff wieder in die Tüte. »Und Räucherlachs und Äpfel. Bedien dich.«
»Danke.« Joanne war ein wenig schwindlig. Das Boot tanzte auf den Wellen. Langsam wurde die Sonne wärmer.
Hoag reichte Joanne ein Glas und entkorkte den Wein, einen Chardonnay von der Finger-Lakes-Gegend. Erst goss er ihr ein Glas ein, dann sich selbst, ehe er sein Glas erhob.
»Auf dich«, sagte er.
Joanne sah ihr Spiegelbild in seinen Sonnenbrillengläsern. Sie stieß mit ihm an und trank einen kleinen Schluck, weil sie Weißwein eigentlich nicht mochte.
»Du bist eine sehr nette Frau«, sagte Hoag nun im gleichen sachlichen Tonfall wie ein Naturforscher, der eine Beobachtung macht. Er hätte ebenso gut sagen können: »Das ist ein sehr alter Baum« oder »Das ist ein sehr großer Fisch.«
»Danke«, erwiderte Joanne. Kleine Wellen schlugen gegen das Boot.
Dann nahm Hoag die Sonnenbrille ab und sah sie mit seinen stahlgrauen Augen an. »Eine Schande, dass dein Mann dich nicht richtig geschätzt hat. Etwas Dümmeres kann man sich kaum vorstellen.«
Joanne war nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Warum hatte er die Sonnenbrille abgenommen?
»Komm her«, sagt Hoag nun sanft.
Er will mich küssen, dachte Joanne panisch. Das Schaukeln und Wiegen des Bootes schien sich auf ihren Magen auszuwirken. »Ich glaube, mir ist schlecht«, sagte sie jammernd. »Können wir bitte zurückfahren?«
Hoag sah sie einen Moment an. »Klar«, sagte er und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen, aber Joanne spürte, wie bedrückt seine Stimme klang. Er ließ den Motor an, und im nächsten Moment bewegte sich das Boot wieder.
Aber Joanne ging es dadurch nicht besser. Sie war tatsächlich seekrank.
Hoag musste das erkannt haben, denn er griff in die Plastiktüte und brachte etwas zum Vorschein, was wie unregelmäßige braune Zuckerwürfel aussah. »Hier«, sagte er. »Das ist kandierter Ingwer. Lutsch ein Stückchen.« Seine Stimme war tonlos, die Stimmung, in der er die Fahrt zum Leuchtturm vorgeschlagen hatte, war verschwunden. »Man kann auch versuchen, ein Ohr mit dem Finger zu schließen. Falls das nicht klappt, leg dich flach auf dem Rücken aufs Deck.«
»Danke.«
Der Ingwer schmeckte gut, und Joanne ging es etwas besser, aber sie war immer noch schockiert und sogar wütend, dass Hoag sie anmachen wollte, obwohl er von ihrer momentan schwierigen Situation wusste. Sie hatte seine Schüchternheit und den offensichtlichen Mangel an sexuellem Interesse für selbstverständlich gehalten und bloß eine Stunde auf dem Wasser verbringen wollen, um der Welt eine Weile zu entkommen. Es war nicht die Tatsache, dass er sich ihr so genähert hatte, es war eher, weil sie noch nicht dazu bereit war. Damit hatte er nun alles verdorben. Sie hatte ihn verletzt. Offensichtlich glaubte er, dass ihr die Übelkeit zum richtigen Zeitpunkt eingefallen war. Joanne war sauer, dass er sie in eine solche Lage gebracht hatte. Hätte er nicht mindestens warten können, bis sie wieder an Land waren? In dem Boot war sie ja wie eine Gefangene.
Joanne schloss die Augen und steckte sich einen Finger ins Ohr, während Hoag sie schneller und ohne ein weiteres Wort zurückbrachte, als sie gekommen waren. Am Bootssteg ging es Joanne sofort besser. Selbst ihre Stimmung hob sich. Aber sie sah, dass Hoag noch tief getroffen war.
Sie hätte ihn gerne aufgeheitert, weil sie die Spannung zwischen ihnen jetzt nicht gut fand. Und sie wollte auch nicht, dass Nightingales nun für sie zum Tabu wurde.
Als die Suzanne wieder vertäut war, half Hoag Joanne vom Boot. Er war kein Idiot. Das wusste sie. Außerdem hatte er so viel durchgemacht - mehr als sie vermutet hatte. Viel mehr.
»Ich bleibe noch ein bisschen hier und werkel am Boot«, meinte Hoag steif. »Hoffentlich geht es dir jetzt besser.«
Joanne sah, dass er sich Mühe gab, etwas zu sagen.Vermutlich hatte er seit Jahren nichts mit Frauen zu tun gehabt und war nun echt verletzt. Doch er gab sich Mühe, es zu verbergen.
»Es tut mir leid«, sagte Joanne. »Aber du kannst das sicher verstehen, dass ich momentan mächtig in der Patsche sitze und …«
Hoag hob eine Hand. »Du brauchst nichts zu erklären. Es war ein schöner Ausflug. Bis dann in der Kneipe.« Damit drehte er sich um und ging unter Deck.
Joanne wollte noch mehr sagen, dass sie ihn mochte und nicht wollte, dass er nun aufgab. Aber sie war einfach noch nicht bereit dazu. Daher ging sie ohne einen Blick zurück los und merkte erst zu Hause, dass sie immer noch seine Kappe trug.
 
»Immerhin ist das Boot nicht gekentert«, sagte Joanne am Abend vor der dampfenden Schüssel mit Cajun-Krabben, die Cherry nach einem alten Familienrezept gekocht hatte. »Das war wohl das Beste an dem Trip.«
»War es denn so schlimm?«, fragte Grace, die an diesem Abend frei hatte. Sie schälte eine Krabbe und warf die Schalen in die Schüssel auf dem Tisch. »Was ist denn passiert?«
»Er hat versucht, mich zu küssen«, sagte Joanne.
»Versucht?«, fragte Cherry. »Du meinst, du hast ihn nicht gelassen?«
»Nein«, sagte Joanne und schüttelte heftig den Kopf. »Ich konnte nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Grace.
»Weil …«, begann Joanne. »Ich meine, er wusste doch, dass ich die Scheidung vor mir habe, da würde man meinen, er ist taktvoll und macht mich nicht mitten auf hoher See an.«
»Hoffentlich stellt er sich nicht als Idiot heraus«, meinte Grace. »Das wäre nämlich wirklich schade.«
»Neinneinnein«, erwiderte Joanne, »ein Idiot ist er nicht, nur einsam, glaube ich.« Sie dachte daran, dass Hoag seine Tochter und seine Frau verloren hatte. Das erklärte manches, aber aus Respekt für ihn teilte sie dies ihren Freundinnen nicht mit. »Ich hoffe nur, dass ich nicht alles verdorben habe.«
»Klingt eher so, als hätte er einiges verdorben«, meinte Cherry.
»Nein, es war nicht seine Schuld. Er wolle mich küssen, das ist alles. Ich hoffe, er ist nicht allzu beleidigt.«
»Magst du ihn?«, fragte Grace. »Ich meine, du trägst ja immer noch seine Mütze.«
Joanne hatte die Kappe völlig vergessen. »Oh«, sagte sie und fasste an den Schirm. »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht mag, ich bin nur einfach momentan nicht reif für eine Beziehung.« Trotzdem sehnte sie sich danach, wieder mit ihm zusammen auf dem Boot zu sein und seine tiefe, entspannende Stimme zu hören. Jetzt würde sie ihn küssen …
»Keine Sorge«, meinte Grace, die Joannes Gedanken zu erraten schien. »Wenn er nur halb der Kerl ist, für den wir ihn alle halten, dann wird er das verstehen.«
»Das Ganze war eine schlechte Idee«, meinte Joanne. »Ich bin seekrank geworden und habe fast gekotzt.«
»Bevor oder nachdem er dich küssen wollte?«, fragte Cherry.
»Während.« Joanne lachte, damit die anderen merkten, dass sie in Ordnung war. »Es sieht jedenfalls so aus«, sagte sie dann kopfschüttelnd, »als würde ich Nightingales eine Weile meiden.«
Schicksalspfad Roman
titlepage.xhtml
bour_9783641042288_oeb_toc_r1.html
bour_9783641042288_oeb_fm1_r1.html
bour_9783641042288_oeb_ata_r1.html
bour_9783641042288_oeb_tp_r1.html
bour_9783641042288_oeb_fm2_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c01_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c02_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c03_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c04_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c05_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c06_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c07_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c08_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c09_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c10_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c11_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c12_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c13_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c14_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c15_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c16_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c17_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c18_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c19_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c20_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c21_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c22_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c23_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c24_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c25_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c26_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c27_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c28_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c29_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c30_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c31_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c32_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c33_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c34_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c35_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c36_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c37_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c38_r1.html
bour_9783641042288_oeb_cop_r1.html