11
Am Ende des langen Gangs befand sich die so genannte Luciano-Pavarotti-Suite. Sie wurde so genannt, weil der berühmte Tenor dort einmal behandelt worden war. Es war der größte, bestausgestattete Raum auf der war. Es war der größte, bestausgestattete Raum auf der gesamten Intensivstation, wenn nicht sogar des Krankenhauses. Selbst im Tribeca Grand hätte man kein besseres Zimmer finden können. Es gab dort einen Flachbildschirm-Fernseher, eine iPod-Dockstation, eine Stereoanlage, eine Küche mit Kühlschrank und Herd, einen Esstisch mit Stühlen, ein Sofabett und einen großen, dicken Ledersessel. Gewöhnlich wurde das Zimmer von jemandem aus der Finanzwelt belegt, der einen Herzanfall erlitten hatte, einen Schlaganfall oder beides.
»Mr. Conner liegt im Barb-Koma«, sagte Kathy. Damit versuchte man, den Gehirndruck zu reduzieren, wenn konventionellere Methoden nicht anschlugen. Man verabreichte dem Patienten Pentobarbital, um das Gehirn in einen winterschlafähnlichen Zustand zu versetzen, damit es abschwoll und weitere Schäden vermieden wurden. Es klappte nicht immer.
Kathy öffnete die Tür, Grace folgte ihr. Der Patient mit dem verbundenen Kopf lag wie schlafend da. Er wurde künstlich beatmet und ernährt. An beiden Bettseiten standen EEG-Monitore. Grace fiel auf, dass er ebenso fantastisch aussah wie auf der Reklame für Calvin-Klein-Unterwäsche vor ein paar Jahren auf einem dreißig Meter hohen Plakat an einem Gebäude in der Houston Street. Aber die Falten und Furchen, die ihm ein männliches Cowboyaussehen verliehen, waren jetzt durch die Bewusstlosigkeit geglättet, so, wie der Wind den Sand am Strand immer wieder glättet.
Neben dem Bett stand ein Mann in einem dunkelbraunen Anzug und roter Krawatte, der die Messwerte von dem EEG-Monitor notierte: Dr. Yannis Daras, ein bekannter Gehirnchirurg. Er war ein kultivierter, höflicher Mann mit dunklen Brauen und einem sorgfältig gestutzten weißen Bart.
»Guten Morgen, Dr. Daras«, sagte Kathy, die die Ärzte nie mit Vornamen ansprach.
»Guten Morgen«, erwiderte Daras und blickte von seinen Notizen hoch.
»Doktor, ich möchte Ihnen Grace Cameron vorstellen«, sagte Kathy. »Sie ist Mr. Conners Nachtschwester.«
»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Daras mit einem weichen griechischen Akzent zu Grace. »Der Patient ist stabil. Wir hoffen, ihn in ein paar Tagen aus dem Koma holen zu können. Aber reden Sie ruhig mit ihm. Lesen Sie ihm vor, spielen Sie Musik. Er wird natürlich auf nichts reagieren, aber vielleicht hört er Sie.«
»Ja«, sagte Kathy. »Vielleicht könnte uns Mr. Lavender, Mr. Conners Manager, ein paar Vorschläge hinsichtlich Mr. Conners Musikgeschmack machen.«
»Großartig«, sagte Grace, die sich jetzt schon vor Lavender in Acht nahm, weil er sie vermutlich persönlich für alles verantwortlich machen würde, was schiefging. Schwestern waren immer die allerbesten Sündenböcke.
Als Daras und Kathy das Zimmer verlassen hatten, überprüfte Grace zuerst einmal, welche Vorkehrungen mit dem Patienten bereits getroffen worden waren. Sie hoffte nur, dass der Fall nicht lange dauern würde, dass er heute aufwachte und am Wochenende auf die normale Station verlegt würde. Bis dahin würde sie jede Nacht hier erscheinen und die Routinepflege vornehmen: umdrehen, waschen, den Mund säubern, den Katheterbeutel entleeren, die Fäkalien entfernen, Blut abnehmen. Für Grace war er einfach ein Patient, genau wie Mr. Ho oder Mrs. Shavelson. Der Sonderstatus, den man ihr gegeben hatte, war ihr gleichgültig.
Sie wollte es bloß hinter sich bringen, denn sie vermisste jetzt schon die Tagschicht.
 
Joanne schnappte ihre Tasche aus dem Spind und schaffte es bis zum Lift, ohne jemandem zu begegnen. Cherry war vor ein paar Minuten gegangen, ohne sich zu verabschieden, was seltsam war. Die Ankunft von Matt Conner hatte alles ein bisschen durcheinandergebracht.
Natürlich war niemand stärker davon betroffen als Grace, die man Matt Conner als Nachtschwester zugeteilt hatte. Joanne hat damit kein Problem - allgemein galt Grace als die beste Schwester auf der Station -, aber es hätte vielleicht mehr Sinn gemacht, wenn Kathy dafür jemanden ausgesucht hätte, der mit dem Patienten vertraut war, der seine Filme gesehen hatte und alles Mögliche über ihn wusste. Aber das kam vielleicht noch. Das Wichtigste im Moment war, dass Matt wieder wach wurde.
Aber selbst wenn er aufwachte, dachte Joanne, konnte es sein, dass sein Hirn geschädigt war. An so was mochte sie nicht einmal denken.
Sie verließ den Lift im Erdgeschoss, doch statt nach rechts auf die Straße zu gehen, bog sie nach links ab und betrat die Krankenhauskapelle, um ein Wörtchen mit Tony zu reden.
In der Kapelle gab es etwa zwanzig Stühle und ein hohes Pult mit einer Bibel und dem Koran. Auf die Rückwand aus Eiche war ein Muster aus Sonnenstrahlen geschnitzt, die durch eine Wolke brachen. Joanne hatte das Glück, allein zu sein. Sie kniete sich vor die Eichenwand. »Heiliger Antonius«, sagte sie, »ich habe dich noch nie um so was gebeten, und ich weiß, es ist eigentlich nicht deine Abteilung, aber bitte tu, was immer du kannst, für Matt Conner. Er macht Millionen von Menschen glücklich, und vergiss auch nicht die Millionen Dollar, die er für die Opfer des Tornados gesammelt hat …« Joanne wurde von ihrem Handy unterbrochen. Donny. Joanne hatte ihm vorhin eine etwas atemlose Nachricht hinterlassen, als sie erfahren hatte, dass man Matt auf ihre Intensivstation verlegen würde. Jetzt nahm sie flüsternd das Gespräch entgegen. »Ich bin in der Kapelle im Krankenhaus. Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Yeah, tut mir leid. Ich war wieder eingeschlafen. Kommst du vorbei, oder soll ich dich irgendwo treffen?«
»Treffen?«
»Wegen der Medizin.«
Das Morphium! Joanne hatte es völlig vergessen. »Du meinst jetzt?«
»Yeah. Jetzt. Ich nehme ein Taxi und bin in zwanzig Minuten bei dir. Hallo?«
»Ich bin müde, Donny, und ich kann hier nicht reden. Hast du meine Nachricht wegen Matt Conner bekommen? Er ist hier im Krankenhaus, auf meiner Station …«
»Matt Conner ist mir doch scheißegal«, erwiderte Donny. »Meine Arme bringen mich fast um. Können wir uns treffen, oder willst du mich noch länger leiden lassen?«
Leiden! Das war das Schlimmste, was er sagen konnte. Es war ihre Aufgabe, Leiden zu lindern. Das war ihre Berufung. Sie konnte ihn nicht leiden lassen.
Aber wie konnte sie sicher sein, dass dies nicht zur Gewohnheit werden würde? Donny hatte es versprochen, aber konnte man sich darauf verlassen?
»Äh … warte mal«, antwortete Joanne und versuchte nachzudenken. Da begann Donny sie anzubrüllen, und Joanne beendete das Gespräch. Sie war immerhin in der Kapelle, und er hörte ihr nicht einmal zu! Klar, er litt Schmerzen. Aber Matt Conner stand auf der Schwelle des Todes, und Donny war das völlig egal!
Sie wusste, dass es Wahnsinn war, für ihn Medikamente zu stehlen. Sie fragte sich nun, wie er sie dazu überreden konnte. Warum hatte sie es bloß getan? Um sich bei ihm einzuschmeicheln? Ihn von sich abhängig zu machen? Um ihn auf Abstand zu halten?
Das Handy klingelte. Okay, dachte Joanne. Ich rede ihm gut zu.
»Hallo?«, sagte sie.
»Warum hast du das Gespräch abgebrochen?«
»Wie kannst du nur so egoistisch sein? Der Mann ist nur knapp dem Tod entkommen, und du denkst bloß an deine … blöden Arme.« Joanne hörte ein Klicken. »Hallo? Donny?«
»Hmmm«, dachte Joanne. »Blöd hätte ich nicht sagen dürfen. Donny mochte es nicht, wenn andere ihn so bezeichneten.
Sie beschloss, zurück nach Turtle Island zu rasen, weil sie das dumme Gefühl hatte, dass Donny unterwegs zum Krankenhaus war.
Schicksalspfad Roman
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