17
Als sie mit dem Essen
fertig waren, gingen Cherry und Grace zusammen zum Bus, um
anschließend die U-Bahn nach Manhattan zu nehmen. Die Nichte des
Captains folgte ihnen ein paar Minuten später. Joanne hatte
beschlossen, noch auf einen Drink zu bleiben. Die ganze Zeit über
hatte sie hin und wieder verstohlen zum Captain hinübergeblickt,
der das Schachbrett studierte. Sie dachte an ihre gestrige
Unterhaltung über Wale und Tiger, die Donny so frech unterbrochen
hatte. Sie wollte weiter darüber reden, daher ging sie nun mit dem
Glas in der Hand zur Theke und wartete geduldig, bis die Partie
vorbei war und Ed und Connie Wilberson gingen.
Als sie endlich fort waren, bestellte Joanne ein
weiteres Bier. Jetzt waren nur noch sie und der Captain in der
Kneipe.
»Tut mir leid wegen gestern«, begann sie. »Ich
hoffe, du hältst meinen Mann nicht für unhöflich.«
»Ich bilde mir nach einer einzigen Begegnung
noch kein Urteil«, sagte der Captain.
»Was war denn dein erster Eindruck? Hattest du
einen Eindruck?«
Der Captain lächelte flüchtig. »Ich glaube, den
behalte ich lieber für mich.«
»Natürlich. Du bist schließlich ein Gentleman.«
Joanne war unsicher, ob sie sich an Donnys Stelle beleidigt fühlen
oder dem Captain in seiner Missbilligung beipflichten sollte. Aber
indem sie den Captain nach seiner Meinung
fragte, gab sie ihre eigenen Zweifel über Donny preis, die nie
stärker waren als in der Phase, wenn es sie wieder zu ihm
zurücktrieb.
Sie sagte: »Ist schon gut. Grace mag ihn auch
nicht.«
»Ich kenne ihn kaum.«
»Er konnte die Hosen nicht anbehalten. Falls du
dich gefragt hast, warum wir getrennt sind.«
»Hatte ich nicht«, erwiderte der Captain. »Aber
es tut mir leid, dass du so was durchmachen musstest.«
Joanne hoffte, dass sie nicht irgendwie bitter
wirkte, und fragte: »Bist du jemals verheiratet gewesen?«
»Vor langer Zeit«, antwortete der Captain. »Und
nur kurz.«
»Was ist passiert?«
»Ich ziehe es vor, nicht darüber zu
reden.«
»Das macht aber keinen Spaß«, sagte Joanne und
fühlte sich durch die Abweisung leicht verletzt. Der Captain schien
völlig ungerührt. Rasch wechselte sie das Thema. »Was machst du
denn, wenn du nicht hinter der Theke stehst? Das fragen wir uns
immer wieder.«
»Wir?«
»Ich und die anderen Mädels. Wir unterhalten uns
oft.«
»Also, dann möchte ich ein schönes Geheimnis
nicht zerstören«, antwortete der Captain, ging zum anderen Ende der
Theke und kam auf die Vorderseite. Vielleicht war es das erste Mal,
dass Joanne den Captain von Kopf bis Fuß sah. Abgesehen von dem
weißen T-Shirt trug er weite, dunkelblaue Shorts und grobe, braune
Lederstiefel. Seine Beine waren kräftig und gebräunt und hellblond
geflaumt.
»Beeindruckend«, sagte Joanne. »Zwei Beine.«
»Nicht jeder hat so viel Glück«, entgegnete der Captain.
»Beziehst du dich darauf, dass in Vietnam den
Leuten oft die Beine abgeschossen wurden? Ich habe gerade erst
gegessen.«
Der Captain lachte kurz auf. »Bist du etwa
empfindlich?«
»Reden wir nicht über mich«, erwiderte Joanne.
»Was machst du denn so zum Spaß? Abgesehen von deinen Begegnungen
mit wilden Tieren.«
Der Captain sah sie einen Moment nachdenklich
an. »Gehen wir spazieren«, sagte er und steuerte auf die Tür
zu.
»Aber … wohin denn?«
»Um zu sehen, was mir Spaß macht.«
»Und … die Kneipe?«
Der Captain öffnete die Tür. Feuchte Hitze
schlug Joanne ins Gesicht. »Was meinst du?«, fragte der Captain und
zog einen Schlüsselbund aus der Tasche.
Joanne folgte dem Captain hinaus in den schwülen
Nachmittag. Der Mann schien überhaupt nicht zu schwitzen. Sie
gingen über die Bay Avenue mit dichter Vegetation und verschlafenen
alten Häuschen auf der einen und alten, weit ausladenden
Fischrestaurants auf der anderen Seite. Die weiträumigen
renovierungsbedürftigen Speisesäle gingen alle aufs Wasser. An
Wochentagen erinnerten diese Restaurants mit ihren großen, leeren
Parkplätzen an die Verlassenheit eines aufgegebenen
Vergnügungsparks. Joanne überkam eine gewisse Traurigkeit. Der
Captain redete über Connie Wilberson und ihre
Idee mit den Schildkröten, die er unterstützte. Wenn man die
Lederschildkröte wieder an den Ufern von Turtle Island ansiedelte,
überlegte er, würden Investoren kommen und die Insel in einen
feinen Badeort verwandeln wollen. Aber dann mussten sie mit den
Protesten der Umweltschützer rechnen, die alles versuchen würden,
um die gefährdeten Schildkröten zu schützen. Der Captain war für
eine Gesetzgebung, die die großartigen amerikanischen Wasserwege
beschützte. Als Fischer sorgte er sich außerdem um die Abnahme der
Fischbestände durch Überfischung der großen kommerziellen Firmen,
und er hatte eine ausgeprägte Meinung zu allen ökologischen Themen
im Zusammenhang mit der Fischzucht. Aber er sah die Zukunft von
Turtle Island optimistisch. Es war einfach zu abgelegen für die
meisten New Yorker und zu sehr von Überflutungen bedroht, um allzu
attraktiv für eine Entwicklung zu sein.
»Ich würde alles so lassen, wie es ist«, meinte
der Captain mit einem Anflug von Patriotismus. »Und wenn man
dadurch ein paar Dutzend Riesenschildkröten bekommt, damit könnte
ich gut leben.«
»Ich kann das verstehen«, meinte Joanne und
wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Schildkrötenreservate,
Schildkrötenrechte. Rettet die Schildkröten. Das
Schildkrötenfestival. Als Nächstes übernehmen die Schildkröten die
Insel. Fünfhundert Pfund schwere Killer-Kröten. Eine kleine Gruppe
Menschen verbarrikadiert sich bei Nightingales. Wie in Dawn of the
dead.«
Der Captain kicherte. »Das ist jede Menge
Schildkröten-Dung. Lederschildkröten sind sehr scheu. Schmecken tun
sie auch nicht sonderlich.«
»Du hast schon mal eine gegessen?«
»Keine ganze. Die wiegen ja fast eine
Tonne.«
Dann überquerten sie die Bay Avenue und gingen
zum Hafen. Gewitterwolken türmten sich am Himmel auf wie weiße
Gipfel.
Joanne meinte: »Ich hatte so ein Gefühl, dass
wir zu den Booten gehen, Captain.« Sie folgte dem Mann auf die
lange Pier.
»Da liegt sie«, sagte der Captain.
»Sie« war ein acht Meter langes weißes
Fischerboot mit zwei Außenbordmotoren.
»Ich habe sie vor fünf Jahren erstanden«, sagte
der Captain und betrat das Boot. Joanne blieb unsicher am Rand der
Pier stehen. Der Captain streckte ihr eine Hand hin. Joanne, deren
Erfahrung mit Booten aus zwei Trips mit einer Fähre nach Staten
Island bestand, ergriff die große Pranke des Captains und stieg
aufs Deck hinab. Er hielt sie ganz fest. Sie spürte seine Kraft,
die ihr einen leichten Schauder über den Rücken jagte. Als sie
leichtfüßig landete, lösten ihre Hände sich sofort
voneinander.
»Danke«, sagte sie.
»Sie macht an die sechzig Meilen pro Stunde«,
erzählte der Captain stolz. »Auch wenn größere Wellen aufkommen,
sie gleitet einfach darüber hinweg.«
Joanne stellte sich vor, wie sie mit dem Captain
am Steuer über eine hohe Brandung flog. Sie konnte das Tempo
spüren, das Aufprallen. Es erregte sie.
Sie sagte: »Du fährst also immer hinaus, wenn
dir danach zumute ist?«
»Ja, mehr oder minder«, erwiderte der Captain.
Er erklärte, dass er das Boot vornehmlich dazu benutzte, um
Privatleute zum Angeln hinauszufahren. Die Leute bezahlten ihn
dafür, dass sie Brassen, Flundern, Kabeljau und Blaumarle fangen
konnten. Wegen seiner Kreuzschmerzen passierte das dieser Tage
nicht sehr oft, aber hin und wieder wurde Nightingales für den Tag geschlossen, wenn er ein
paar Angler hinaus in den Sund fuhr.
»Hat das Boot einen Namen?«, fragte Joanne. Da
kam eine kleine Brise auf und brachte es zum Schaukeln.
Der Captain blickte mit einem scharfen,
wettergeübten Auge zu den sich nähernden Wolken. »Sie heißt
Suzanne«, sagte er.
Joanne zog gleich die Verbindung zu der
Tätowierung Suzanne auf dem Arm des
Captains. Musste wohl seine Frau gewesen sein. »Komisch«, sagte sie
dann, »denn ich nenne mein Motorrad Suzi. Suzanne und Suzi. Schöner
Zufall.«
Da fuhr ein spektakulärer Blitz über den
gesamten Himmel, gefolgt von einem Donnerschlag, bei dem der Boden
erzitterte. Instinktiv griff Joanne nach dem Arm des Captains. Sie
hasste Gewitter. Die Wolken waren nun von einem bedrohlich düsteren
Grau und jagten rasch über den Himmel.
»Wir gehen besser«, meinte der Captain. »Ich
helfe dir hinauf.« Dann fasste er Joanne locker um die Hüften und
schob sie sanft wieder hoch auf die Planken. Joanne wusste nicht
genau, ob sie das unverschämt fand oder es eine ganz normal
maritim-ritterliche Geste war.
Anschließend gingen sie rasch über die Pier. Der
Himmel war fast schwarz, und man musste die Augen vor dem Staub und
Schmutz schützen, als ihnen ein weiterer heißer Windstoß
entgegenschlug. Wieder griff Joanne nach
dem Arm des Captains und drückte ihn bei jedem Donnerschlag. Als
sie auf der Bay Avenue nur noch ein paar hundert Meter von der
Kneipe entfernt waren, konnte sich der Himmel nicht länger
beherrschen, und der Regen schüttete nur so herab. »Rennen wir!«,
rief Joanne.
Der Captain lachte. »Bist du noch nie von einem
Schauer überrascht worden?«, fragte er mit lauter Stimme, um
verstanden zu werden. »Das ist eine der besten Freuden des
Lebens.«
»Oh, mein Gott«, erwiderte Joanne und ging
schnell weiter, hielt sich aber immer noch an dem Captain fest, als
würde er sie irgendwie vor der Nässe bewahren. »Ich bin völlig
durchweicht!«
Beim nächsten Donnerschlag drängte sie sich
enger an den Captain und legte den Kopf an seine Schulter. Er
lachte immer noch.
Als sie bei Nightingales
ankamen, lachte Joanne ebenfalls. Etwas anderes blieb ihr nicht
übrig. Sie blieben im Eingang stehen und sahen dem Schauer
zu.
»Ich mag Regen«, meinte Joanne mit einem
leichten Schaudern. »Aber ich hasse es, so nass zu sein!«
»Du brauchst was Trockenes zum Anziehen«, meinte
der Captain. »Ich leihe dir ein paar Sachen, ein T-Shirt und
Shorts, damit du trocken nach Hause kommst.«
Joanne hatte fast vergessen, dass der Captain ja
über der Kneipe lebte.Von der Küche aus führte eine Treppe nach
oben in seine Wohnung. Schlug er etwa vor, dass sie mit ihm
zusammen hinaufging?
Auch wenn seine Absichten ehrlich waren (und
Joanne war sich dessen sicher), wurde Joanne erst jetzt bewusst,
wie sie sich in dem Regen an ihn geklammert
hatte. Hoffentlich hielt er das nicht für einen
Annäherungsversuch.
Sie sagt daher: »Danke, Captain, aber ich muss
jetzt nach Hause.«
»Nenn mich doch Hoag.«
»Hoag?«
»Sieht aus, als würde der Regen
nachlassen.«
»Stimmt«, erwiderte Joanne. »So stark regnet es
nie lange. Hoag.«
»Wie wäre es mit einem Abendessen?«, fragte der
Captain. Sie standen etwa einen Meter entfernt voreinander. Der
Captain hatte sein nasses, sonnengebleichtes Haar hinter die Ohren
gestrichen. Seine Augen waren ebenso grau wie das Meer. Joanne
spürte ein seltsames Pochen unter den Rippen.
Sie sagt: »Ich muss jetzt wirklich nach Hause -
ich meine, ich muss Suzi abholen. Mein Motorrad. Ich muss zu Donny
und es abholen, weil ich nicht will, dass er sich zu sehr daran
gewöhnt …« Beim Reden bewegte sie sich langsam rückwärts nach
draußen, wo der Regen inzwischen aufgehört hatte. »Vielleicht bis
später? Hast du heute Abend geöffnet?«
»Für dich immer«, sagte der Captain und sah sie
mit einem Lächeln in den Augen an.
»Gut«, antwortete Joanne und entfernte sich
weiter. »Vielleicht bis später.« Dann drehte sie sich um und ging
durch den warmen, dampfenden Nieselregen in Richtung Zuhause.