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Grace zog ihren drei
Jahre alten papageiengrünen Bikini an, der mit Sicherheit aus einer
optimistischeren Phase ihres Lebens stammte. Dann griff sie nach
einer Flasche Wasser und einem alten Magazin und legte ner Flasche
Wasser und einem alten Magazin und legte sich auf der Veranda in
einen orangefarbenen Liegesessel. Die Sonne war schon über den
Höchststand hinaus, doch sie cremte sich trotzdem ein, weil
Hautkrebs für hellhäutige Typen wie sie ein echtes Risiko
bedeutete. Besonders, wenn man schon viel zu viel Zeit in der Sonne
verbracht hatte. Sie verkniff bei dem Gedanken das Gesicht, wie oft
sie »rot wie ein Feuerwehrwagen« nach einem Bootsausflug mit
Großpapa zurückgekommen war. Aber die Rötung verwandelte sich rasch
in Bräune, um die sie am ersten Schultag nach den Ferien alle
Freundinnen beneideten.
Draußen auf dem Wasser bewegten sich die Boote
nur langsam, wenn überhaupt. Früher sah man fast nur Fischerboote,
heutzutage waren es eher Sportboote. Sie gehörten Leuten aus den
nahe gelegenen Segelclubs, Pensionären mit strahlend weißen
Gebissen, die von weit her, aus New Jersey und Pennsylvania, kamen,
um im Club hier Gin Tonic zu trinken und so zu tun, als hätten sie
Geld. Sie strahlten etwas Rüstiges und Dekadentes aus. Joanne war
überzeugt, dass sich hinter der sonnengebräunten Oberfläche der
netten Clubmitglieder jede Menge Gruppensex und Frauentausch
abspielte. Ob Swinger oder nicht, sie veranstalteten gute Partys,
und ab und zu wurde ein Notarzt gerufen, weil jemand beim Karaoke
gestürzt war. Großpapa hatte immer über die Segler gemeckert, weil
sie das Wasser beherrschten und die Fische vertrieben. »Eine ganze
Menge von denen wohnt nicht mal hier«, sagte er, woraufhin Grace’
Vater anwortete: »Das kann ich ihnen nicht übel nehmen«, denn er
war auf Turtle Island groß geworden und stolz darauf, dass er es
woanders geschafft hatte. Aber er kam immer gerne zum Angeln her,
und Grace hatte sich nie wieder so sicher gefühlt wie in ihrer
Schwimmweste im Bauch des breiten Bootes, während Großpapa und Dad
neben ihr die Leinen auswarfen. Jetzt war Großpapa gestorben, und
Dad wohnte mit seiner neuen Frau in Connecticut und rief kaum noch
an.
So geht es eben, dachte Grace. Großpapa, Dad,
Gary … man konnte sich einfach nicht darauf verlassen, dass die
Menschen blieben …
Was würde sie nicht dafür geben, Gary neben sich
zu haben; sie könnten zusammen die Goldspritzer auf dem Wasser
unter dem rosa-orangefarbenen Himmel beobachten. Gary hatte
Sonnenuntergänge geliebt.
Sie dachte an ihre Patienten, die in ihren
Betten gefangen lagen. Was sie wohl dafür geben würden, an ihrer
Stelle zu sein.
Vielleicht sollte sie sich nicht so beklagen.
Immerhin war sie gesund.
Statt das Magazin durchzublättern, schloss Grace
die Augen und hing ihren Tagträumen von Gary nach - der Blick in
seinen Augen, mit dem er ihr sagte, wie sehr er sie liebte, als er
schon zu schwach war, diese Worte zu sagen.
Ja, sie weinte immer noch um ihn. Sie brauchte
bloß an ein bestimmtes Bild zu denken: Gary ihr gegenüber am Tisch,
wie er am Bleistift kaute, wenn er das sonntägliche Kreuzworträtsel
löste. Gary keuchend und prustend beim Joggen über den Strand, sein
nickendes, lächelndes Gesicht, wenn er über ihre Ausdauer staunte,
Gary in der Küche, wie er eine frische Flunder briet und ihr hier
draußen auf der Veranda servierte. Dann saßen die beiden über ihre
Teller gebeugt, dickbauchige Gläser mit Wein vor sich, den Blick
auf die sanften Wellen.
Es war Teil ihrer Verarbeitung, diese
schmerzlichen Erinnerungen. Sie begriff, dass es jenseits ihrer
Gefühle eine andere Wahrheit gab, dass die Zeit wirklich alles
heilte und es morgen etwas weniger wehtun würde als heute. Um diese
Gefühle zu bewältigen, musste sie sie zulassen und voll
wiedererleben. Sie war mit ihrer Trauer noch nicht fertig.
Grace hörte durch das Fenster des Schlafzimmers
auf der Verandaseite, wie Joanne unregelmäßig schnarchte. Joanne
schlief immer auf dem Rücken, und es war nicht ungewöhnlich, sie
morgens mit geschlossenen Augen
und offenem Mund quer auf dem Bett zu finden. Mit einer
verwachsenen Nasenscheidewand war nicht zu spaßen, aber Joanne
hatte fürchterliche Angst vor dem Messer und verschob die Operation
immer wieder. So unangenehm das Schnarchen auch sein konnte,
zuweilen fand Grace es auch seltsam tröstlich. Es bedeutete, dass
sie nicht allein war.
Sie öffnete die Augen, blickte aufs Wasser und
sah, wie die Phantomtürme von Manhattan in der Ferne dunkler
wurden. Vielleicht fuhr sie heute Abend in die Stadt, ging irgendwo
ein Glas trinken und wartete ab. Es war schon Jahre her, dass sie
ein kurzes Kleid mit hohen Absätzen getragen und sich auf einen
Barhocker gesetzt hatte. Und in der letzten Zeit hatte sie sich
neugierig gefragt, wie ihre Chancen in ihrem Alter noch stünden.
Doch letztendlich war sie einfach nicht motiviert genug. Joanne
deutete diese Inaktivität als Beweis für eine gewisse Sprödigkeit,
wenn nicht sogar für eine Depression. Dann musste Grace zum zigsten
Mal erklären, dass die Vorstellung, mit irgendeinem Idioten aus der
Kneipe zu schlafen und später vielleicht zu kotzen, mit
siebenunddreißig weniger verlockend war als etwa vor fünf oder zehn
Jahren.
Da hörte sie aus dem Hausinnern ein Geräusch.
Cherry.
Grace wandte den Kopf und rief durch die offene
Tür: »Wie war es mit der Tante?«
Cherry kam zur Tür, blieb aber hinter dem
Fliegenschutz stehen. »Gut«, sagte sie. »Und du? Hast du heute
Abend etwas vor?«
»Nein, ich freue mich auf einen schönen, ruhigen
Abend.« Grace kicherte verlegen - so, als würde sie normalerweise
ausgehen und wilde Nächte verbringen.
»Hallo, ihr Süßen«, ertönte Joannes gähnende
Stimme, die schläfrig sich reckend hinter Cherry aufgetaucht war.
Joanne glitt an Cherry vorbei, öffnete die Tür und trat, nur mit
den orangefarbenen Shorts bekleidet, hinaus in das Licht.
Wahrscheinlich gab es draußen auf dem Wasser Männer mit
Ferngläsern, die dies sehr schätzten, aber Joanne war es egal. Sie
war schon an belebteren Orten topless gewesen - einmal sogar im
Central Park - und behauptete, es sei völlig legal für eine Frau,
in New York mit nacktem Busen herumzulaufen. »Ramona Antorelli,
Baby«, sagte sie triumphierend und meinte damit die Angeklagte in
einem Prozess in den Neunzigern, bei dem Frauen das Recht
zugesprochen worden war, genauso topless herumzulaufen wie
Männer.
Cherry, die an solche Zurschaustellung nicht
gewöhnt war, blickte verlegen zur Seite. Der Antorelli-Prozess
hätte in Possum Creek einen anderen Ausgang genommen.
»Warum arbeitest du denn heute Abend, Jo?«,
fragte Grace. »Hat Kathy dich überredet?«
Joanne drehte sich um, als müsste sie die
Antwort genau erklären. »Ich denke, wenn ich Nachtschicht mache«,
sagte sie, »gehe ich gewissen Schwierigkeiten aus dem Weg.«
»Welchen Schwierigkeiten?«
Joanne seufzte. »Donny-Probleme. Sonst habe ich
keine.«
»Warum? Ist was passiert?«
»Nein. Nichts Neues. Er ist einfach sehr
schwierig.« Grace nickte. Das war das Vernünftigste, was Joanne
seit Monaten von sich gegeben hatte. »Ich habe immer schon gesagt,
du hältst dich besser von ihm fern.«
»Jaja, ich weiß«, erwiderte Joanne. Ihre Stimme
klang lauter. »Und ich befolge jetzt deinen Rat.«
»Na gut«, meinte Grace knapp, aber sie spürte,
wie ihr heiß wurde.
Joanne sah Cherry an, als wollte sie das Thema
wechseln. »Soll ich dich mitnehmen?« Es sollte eigentlich locker
klingen, aber Grace hörte das Adrenalin in Joannes Stimme.
»Hör mal«, sagte Grace. »Falls ich etwas über
Donny gesagt habe, das dir nicht gefällt, dann tut mir das
leid.«
»Kein Problem«, erwiderte Joanne. »Wir brauchen
ihn nicht mehr zu erwähnen. Klar?«
»Okay«, meinte Grace ruhig. Sie fuhr sich mit
den Fingern durchs Haar.
Joanne wandte sich wieder zu Cherry. »Willst du
nun mitkommen oder nicht?«
»Ja, okay«, erwiderte Cherry unsicher. Dann ging
sie ins Haus, als wüsste sie nicht, was sie sonst tun konnte.
Joanne wirkte, als wollte sie noch etwas sagen.
Dann ging auch sie ins Haus. Grace blieb allein auf der Veranda
zurück.
Zwanzig Minuten später saß Grace immer noch in
ihrem Liegestuhl. Sie hörte, wie Cherry sich verabschiedete,
gefolgt von Joannes aufheulendem Motorrad. Grace sprang auf, rannte
durchs Haus zur Tür und blickte nach unten. Das Motorrad entfernte
sich. Cherry saß auf dem Rücksitz und trug den weißen Helm aus
Joannes Zimmer.
»Fahrt vorsichtig«, murmelte Grace.
Der Kühlschrank war leer, daher beschloss Grace,
zu Nightingales zu gehen, Chowder zu essen
und vielleicht einen kleinen Whiskey zu trinken. Vielleicht sogar
einen doppelten.
Sie verstand immer noch nicht, warum Joanne sie
so angeblafft hatte. Sie wollte ihr doch bloß helfen. Sie hatte
stundenlang Joannes Geschichten über Donny zugehört, wie er sie
jahrelang ausgenutzt hatte, wie er ständig mit seinen Kundinnen
schlief, wie sie ihn aber trotzdem liebte, denn eigentlich sei er
ein süßer Typ, der sie auf seine ihm eigene, unschuldige, komische
Art liebte. Jesus! Und dann hatte Grace ihr als Freundin geraten,
ihn lieber auf Distanz zu halten, wie das Freundinnen eben tun, und
Joanne war ihr an die Kehle gesprungen. Das war nicht fair. Grace
wollte eine Entschuldigung.
Sie zog sich an und ging in den Flipflops zu
Nightingales. Der Weg führte an alten,
efeuberankten Häusern mit weißen Staketenzäunen entlang und war von
blauen und gelben Wildblumen gesäumt. Es war eine gute Idee, ein
paar Stunden in der Bar zu sitzen, Musik zu hören und vom Captain
bedient zu werden, einem der wenigen Männer, der einem nicht das
Gefühl gab, mehr zu wollen als nur eine freundliche
Unterhaltung.