7
Grace zog ihren drei Jahre alten papageiengrünen Bikini an, der mit Sicherheit aus einer optimistischeren Phase ihres Lebens stammte. Dann griff sie nach einer Flasche Wasser und einem alten Magazin und legte ner Flasche Wasser und einem alten Magazin und legte sich auf der Veranda in einen orangefarbenen Liegesessel. Die Sonne war schon über den Höchststand hinaus, doch sie cremte sich trotzdem ein, weil Hautkrebs für hellhäutige Typen wie sie ein echtes Risiko bedeutete. Besonders, wenn man schon viel zu viel Zeit in der Sonne verbracht hatte. Sie verkniff bei dem Gedanken das Gesicht, wie oft sie »rot wie ein Feuerwehrwagen« nach einem Bootsausflug mit Großpapa zurückgekommen war. Aber die Rötung verwandelte sich rasch in Bräune, um die sie am ersten Schultag nach den Ferien alle Freundinnen beneideten.
Draußen auf dem Wasser bewegten sich die Boote nur langsam, wenn überhaupt. Früher sah man fast nur Fischerboote, heutzutage waren es eher Sportboote. Sie gehörten Leuten aus den nahe gelegenen Segelclubs, Pensionären mit strahlend weißen Gebissen, die von weit her, aus New Jersey und Pennsylvania, kamen, um im Club hier Gin Tonic zu trinken und so zu tun, als hätten sie Geld. Sie strahlten etwas Rüstiges und Dekadentes aus. Joanne war überzeugt, dass sich hinter der sonnengebräunten Oberfläche der netten Clubmitglieder jede Menge Gruppensex und Frauentausch abspielte. Ob Swinger oder nicht, sie veranstalteten gute Partys, und ab und zu wurde ein Notarzt gerufen, weil jemand beim Karaoke gestürzt war. Großpapa hatte immer über die Segler gemeckert, weil sie das Wasser beherrschten und die Fische vertrieben. »Eine ganze Menge von denen wohnt nicht mal hier«, sagte er, woraufhin Grace’ Vater anwortete: »Das kann ich ihnen nicht übel nehmen«, denn er war auf Turtle Island groß geworden und stolz darauf, dass er es woanders geschafft hatte. Aber er kam immer gerne zum Angeln her, und Grace hatte sich nie wieder so sicher gefühlt wie in ihrer Schwimmweste im Bauch des breiten Bootes, während Großpapa und Dad neben ihr die Leinen auswarfen. Jetzt war Großpapa gestorben, und Dad wohnte mit seiner neuen Frau in Connecticut und rief kaum noch an.
So geht es eben, dachte Grace. Großpapa, Dad, Gary … man konnte sich einfach nicht darauf verlassen, dass die Menschen blieben …
Was würde sie nicht dafür geben, Gary neben sich zu haben; sie könnten zusammen die Goldspritzer auf dem Wasser unter dem rosa-orangefarbenen Himmel beobachten. Gary hatte Sonnenuntergänge geliebt.
Sie dachte an ihre Patienten, die in ihren Betten gefangen lagen. Was sie wohl dafür geben würden, an ihrer Stelle zu sein.
Vielleicht sollte sie sich nicht so beklagen. Immerhin war sie gesund.
Statt das Magazin durchzublättern, schloss Grace die Augen und hing ihren Tagträumen von Gary nach - der Blick in seinen Augen, mit dem er ihr sagte, wie sehr er sie liebte, als er schon zu schwach war, diese Worte zu sagen.
Ja, sie weinte immer noch um ihn. Sie brauchte bloß an ein bestimmtes Bild zu denken: Gary ihr gegenüber am Tisch, wie er am Bleistift kaute, wenn er das sonntägliche Kreuzworträtsel löste. Gary keuchend und prustend beim Joggen über den Strand, sein nickendes, lächelndes Gesicht, wenn er über ihre Ausdauer staunte, Gary in der Küche, wie er eine frische Flunder briet und ihr hier draußen auf der Veranda servierte. Dann saßen die beiden über ihre Teller gebeugt, dickbauchige Gläser mit Wein vor sich, den Blick auf die sanften Wellen.
Es war Teil ihrer Verarbeitung, diese schmerzlichen Erinnerungen. Sie begriff, dass es jenseits ihrer Gefühle eine andere Wahrheit gab, dass die Zeit wirklich alles heilte und es morgen etwas weniger wehtun würde als heute. Um diese Gefühle zu bewältigen, musste sie sie zulassen und voll wiedererleben. Sie war mit ihrer Trauer noch nicht fertig.
Grace hörte durch das Fenster des Schlafzimmers auf der Verandaseite, wie Joanne unregelmäßig schnarchte. Joanne schlief immer auf dem Rücken, und es war nicht ungewöhnlich, sie morgens mit geschlossenen Augen und offenem Mund quer auf dem Bett zu finden. Mit einer verwachsenen Nasenscheidewand war nicht zu spaßen, aber Joanne hatte fürchterliche Angst vor dem Messer und verschob die Operation immer wieder. So unangenehm das Schnarchen auch sein konnte, zuweilen fand Grace es auch seltsam tröstlich. Es bedeutete, dass sie nicht allein war.
Sie öffnete die Augen, blickte aufs Wasser und sah, wie die Phantomtürme von Manhattan in der Ferne dunkler wurden. Vielleicht fuhr sie heute Abend in die Stadt, ging irgendwo ein Glas trinken und wartete ab. Es war schon Jahre her, dass sie ein kurzes Kleid mit hohen Absätzen getragen und sich auf einen Barhocker gesetzt hatte. Und in der letzten Zeit hatte sie sich neugierig gefragt, wie ihre Chancen in ihrem Alter noch stünden. Doch letztendlich war sie einfach nicht motiviert genug. Joanne deutete diese Inaktivität als Beweis für eine gewisse Sprödigkeit, wenn nicht sogar für eine Depression. Dann musste Grace zum zigsten Mal erklären, dass die Vorstellung, mit irgendeinem Idioten aus der Kneipe zu schlafen und später vielleicht zu kotzen, mit siebenunddreißig weniger verlockend war als etwa vor fünf oder zehn Jahren.
Da hörte sie aus dem Hausinnern ein Geräusch. Cherry.
Grace wandte den Kopf und rief durch die offene Tür: »Wie war es mit der Tante?«
Cherry kam zur Tür, blieb aber hinter dem Fliegenschutz stehen. »Gut«, sagte sie. »Und du? Hast du heute Abend etwas vor?«
»Nein, ich freue mich auf einen schönen, ruhigen Abend.« Grace kicherte verlegen - so, als würde sie normalerweise ausgehen und wilde Nächte verbringen.
»Hallo, ihr Süßen«, ertönte Joannes gähnende Stimme, die schläfrig sich reckend hinter Cherry aufgetaucht war. Joanne glitt an Cherry vorbei, öffnete die Tür und trat, nur mit den orangefarbenen Shorts bekleidet, hinaus in das Licht. Wahrscheinlich gab es draußen auf dem Wasser Männer mit Ferngläsern, die dies sehr schätzten, aber Joanne war es egal. Sie war schon an belebteren Orten topless gewesen - einmal sogar im Central Park - und behauptete, es sei völlig legal für eine Frau, in New York mit nacktem Busen herumzulaufen. »Ramona Antorelli, Baby«, sagte sie triumphierend und meinte damit die Angeklagte in einem Prozess in den Neunzigern, bei dem Frauen das Recht zugesprochen worden war, genauso topless herumzulaufen wie Männer.
Cherry, die an solche Zurschaustellung nicht gewöhnt war, blickte verlegen zur Seite. Der Antorelli-Prozess hätte in Possum Creek einen anderen Ausgang genommen.
»Warum arbeitest du denn heute Abend, Jo?«, fragte Grace. »Hat Kathy dich überredet?«
Joanne drehte sich um, als müsste sie die Antwort genau erklären. »Ich denke, wenn ich Nachtschicht mache«, sagte sie, »gehe ich gewissen Schwierigkeiten aus dem Weg.«
»Welchen Schwierigkeiten?«
Joanne seufzte. »Donny-Probleme. Sonst habe ich keine.«
»Warum? Ist was passiert?«
»Nein. Nichts Neues. Er ist einfach sehr schwierig.« Grace nickte. Das war das Vernünftigste, was Joanne seit Monaten von sich gegeben hatte. »Ich habe immer schon gesagt, du hältst dich besser von ihm fern.«
»Jaja, ich weiß«, erwiderte Joanne. Ihre Stimme klang lauter. »Und ich befolge jetzt deinen Rat.«
»Na gut«, meinte Grace knapp, aber sie spürte, wie ihr heiß wurde.
Joanne sah Cherry an, als wollte sie das Thema wechseln. »Soll ich dich mitnehmen?« Es sollte eigentlich locker klingen, aber Grace hörte das Adrenalin in Joannes Stimme.
»Hör mal«, sagte Grace. »Falls ich etwas über Donny gesagt habe, das dir nicht gefällt, dann tut mir das leid.«
»Kein Problem«, erwiderte Joanne. »Wir brauchen ihn nicht mehr zu erwähnen. Klar?«
»Okay«, meinte Grace ruhig. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Joanne wandte sich wieder zu Cherry. »Willst du nun mitkommen oder nicht?«
»Ja, okay«, erwiderte Cherry unsicher. Dann ging sie ins Haus, als wüsste sie nicht, was sie sonst tun konnte.
Joanne wirkte, als wollte sie noch etwas sagen. Dann ging auch sie ins Haus. Grace blieb allein auf der Veranda zurück.
Zwanzig Minuten später saß Grace immer noch in ihrem Liegestuhl. Sie hörte, wie Cherry sich verabschiedete, gefolgt von Joannes aufheulendem Motorrad. Grace sprang auf, rannte durchs Haus zur Tür und blickte nach unten. Das Motorrad entfernte sich. Cherry saß auf dem Rücksitz und trug den weißen Helm aus Joannes Zimmer.
»Fahrt vorsichtig«, murmelte Grace.
Der Kühlschrank war leer, daher beschloss Grace, zu Nightingales zu gehen, Chowder zu essen und vielleicht einen kleinen Whiskey zu trinken. Vielleicht sogar einen doppelten.
Sie verstand immer noch nicht, warum Joanne sie so angeblafft hatte. Sie wollte ihr doch bloß helfen. Sie hatte stundenlang Joannes Geschichten über Donny zugehört, wie er sie jahrelang ausgenutzt hatte, wie er ständig mit seinen Kundinnen schlief, wie sie ihn aber trotzdem liebte, denn eigentlich sei er ein süßer Typ, der sie auf seine ihm eigene, unschuldige, komische Art liebte. Jesus! Und dann hatte Grace ihr als Freundin geraten, ihn lieber auf Distanz zu halten, wie das Freundinnen eben tun, und Joanne war ihr an die Kehle gesprungen. Das war nicht fair. Grace wollte eine Entschuldigung.
Sie zog sich an und ging in den Flipflops zu Nightingales. Der Weg führte an alten, efeuberankten Häusern mit weißen Staketenzäunen entlang und war von blauen und gelben Wildblumen gesäumt. Es war eine gute Idee, ein paar Stunden in der Bar zu sitzen, Musik zu hören und vom Captain bedient zu werden, einem der wenigen Männer, der einem nicht das Gefühl gab, mehr zu wollen als nur eine freundliche Unterhaltung.
Schicksalspfad Roman
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