12
Um Punkt acht Uhr trug Cherry schnell alles in die Karteikarten ein und rannte zum Lift, ohne sich von Grace zu verabschieden, die dabei war, sich mit ihrem prominenten Patienten und dessen Team vertraut zu machen. Grace war die offensichtliche Wahl für diesen Job, eine ausgezeichnete Krankenschwester mit genügend Reife und Erfahrung, um einen Hollywoodsuperstar zu pflegen. Cherry hätte zwar liebend gerne allen Freunden und Angehörigen zu Hause erzählt, dass sie selbst Matt Conner pflegte, aber alle ihre Gedanken und Gefühle waren derzeit von Rick gefesselt. Matt Conner spielte für sie kaum eine Rolle.
Draußen zog sie das Oberteil ihrer rosa Uniform aus. Darunter trug sie ein enges graues T-Shirt, auf dem in roten Lettern »Cowgirl« stand, und ging in Richtung Süden statt zur U-Bahn. Irgendwie trieb ein Instinkt sie dazu. Sie musste zu Ricks Wohnung. Die ganze Schicht über war sie nervös gewesen, voller intensiver, widerstreitender Emotionen. Sie fragte sich, warum Rick sie noch nicht angerufen hatte. Ihr war natürlich sonnenklar, dass es weniger als vierundzwanzig Stunden her war, dass sie sich getrennt hatten, aber sie verstand nicht, warum er sie nicht bei der Arbeit angerufen hatte, nur um ihr zu sagen, dass er an sie dachte. Nicht, dass es bedeutete, dass er überhaupt nicht anrufen würde … vielleicht wollte er nicht allzu aufdringlich sein? Sie wollte bloß wissen, ob er sich wieder mit ihr treffen wollte, oder ob das gestern ein Einzelfuck gewesen war.
Rick wohnte in einem Gebäude mit Portier auf der 66. East - so betrunken sie gestern auch gewesen war, sie hatte sich seine Adresse gemerkt. An vieles in der Wohnung selbst konnte sie sich nicht erinnern, außer, dass das Bad dringend geputzt werden musste und es keine Extrazahnbürste gab, mit der sie sich hätte die Zähne putzen können.
Da hatte Cherry eine Idee. Sie ging in die nächste Drogerie, kaufte eine Flasche Scheuermittel, ein paar Schwämme und eine Zahnbürste. Anschließend kaufte sie in einem Delikatessengeschäft eine teure Tafel Bitterschokolade. Fast hätte sie ihm noch eine Flasche Wein gekauft, überlegte es sich aber. Sie wollte ihn nicht überschütten.
Mit den Einkaufstüten in der Hand stand sie nun vor dem Gebäude und bekam plötzlich Zweifel. Wenn er sie nun gar nicht sehen wollte? Aber gestern war er so süß zu ihr gewesen … warum sollte sich daran inzwischen etwas geändert haben? Vielleicht war er gar nicht zu Hause. Der Portier hielt sie nicht auf - er nickte ihr bloß lächelnd zu und las dann weiter seine Zeitung. Cherry war froh. Es war besser, bei Rick anzuklopfen und ihn ohne eine Vorwarnung vom Portier zu überraschen. Hoffentlich mochte Rick Überraschungen.
Sie fuhr mit dem Lift in den neunten Stock. Nach einer langen Nachtschicht müsste sie eigentlich müde sein, aber sie war hellwach. Sie wollte einfach nur Rick sehen.
Vor seiner Tür lauschte sie einen Moment, ob sie von drinnen etwas hörte. Dann klopfte sie zweimal nicht zu laut an und spürte einen Schauder, als hätte sie gerade etwas enorm Unanständiges getan. Als der Türknauf sich drehte, gab es kein Entkommen mehr. Cherry versuchte, ein angemessenes Lächeln aufzusetzen, selbstbewusst und ein wenig schelmisch, aber als die Tür sich öffnete, sackte es zusammen, und sie lächelte nur noch so gezwungen und unterwürfig wie eine Fernsehhausfrau aus den Sechzigern. Cherry hatte als Kind ständig die alten Folgen von Hexe Lucy gesehen und oft Samantha Stevens’ übertriebenes Stirnrunzeln kopiert, wenn ihre häusliche Inkompetenz auch durch Zauberei nicht mehr wettzumachen war. Wie in der Folge, als Sir Lancelot plötzlich zu Pferd in der Küche auftauchte. Dieses dämliche Lächeln hatte Cherry aus manch einer unangenehmen Situation gerettet, aber das Gesicht, das sie jetzt durch den Türspalt ansah, wirkte überhaupt nicht amüsiert. Rick schien sie nicht einmal zu erkennen - er sah aus, als steckte er mitten in einer Sache und wäre abgelenkt. Wie ein Messerstich traf Cherry der Gedanke, dass er nicht allein in der Wohnung war.
»Willst du hier einziehen?«, fragte Rick mit einem Nicken in Richtung ihrer Einkaufstüten. Sein Mund verzog sich zu einem ironischen, wissenden Grinsen.
Cherry wusste nicht, was sie denken sollte - machte er sich über sie lustig? Wichtiger noch, war er allein?
Sie sah ihn an. Er trug ein weißes Hemd mit dunkler Krawatte. Seine Hemden wirkten stets frisch gebügelt.
Sie versuchte ein unschuldiges Lächeln. »Ich bringe nur ein paar Geschenke«, sagte sie, als wäre es das Natürlichste von der Welt, hier aufzutauchen. Das war mutig, aber ihr blieb auch nichts anderes übrig. Sie musste das jetzt durchziehen und selbstbewusst auftreten. Verspielt hielt sie ihm die Tüten hin, wie ein Kind, das den Eltern ein gelungenes Schulprojekt anbietet. Als Rick ihr die Tüten abnahm und ihre Hände einander berührten, spürte Cherry die elektrische Spannung zwischen ihnen funken.
Rick spähte in eine der Tüten. »Was fürs Badezimmer?«, fragte er. »Kein Shampoo?«
»Deins ist in Ordnung«, gab Cherry zurück. »Schau in die andere.«
Als Rick in die andere Tüte spähte, hellte sich sein Gesicht auf. Cherry sah Glück, sah Hunger. Mit Schokolade traf man es immer richtig.
»Sehr gut, Bordeaux«, meinte Rick mit einem Wolfsgrinsen. Er ließ die Tüten auf den Boden fallen, umfasste Cherrys Hüften, zog sie an sich und küsste sie hart auf den Mund. Cherry wurde weich und nachgiebig, als Rick sie unter die Arme griff und hochhob. Dabei rutschte ihr T-Shirt hoch. Rick küsste ihren Bauchnabel. Cherry kreischte auf und schlang die Beine um ihn. Und dann ging es in einem durch das Zimmer, am Sofa vorbei, dem Fernseher, der Halogenlampe (sehr gefährlich, solche Lampen, und hässlich. Sie würde sie rauswerfen …), an dem viereckigen weißen Eichentisch vorbei, an dessen scharfen Kanten Cherry sich gestern beim Gehen gestoßen hatte - und zum zweiten Mal in vierundzwanzig Stunden landete sie sanft am kühlen, weichen Ufer von Ricks Bett.
Diesmal liebten sie sich schnell, denn Rick musste zur Arbeit. Aber es war kaum weniger wunderbar als am Tag zuvor. Sie waren beide sehr erregt, und wieder erlebten sie den Orgasmus gemeinsam. Anschließend rollte Cherry sich zusammen, legte den Kopf an Ricks Brust und schloss die Augen. Sie kuschelte sich in seine Arme und legte eine Hand auf seinen Bauch. Das ist mein Mann, dachte sie. Er gehört mir. Rick war sanft und kräftig zugleich, er roch sehr gut. Der perfekte Mann. Cherry lächelte. Noch nie war sie so glücklich gewesen.
Nach einem Moment stand Rick auf, um zu duschen. Die Zeit drängte für ihn. Cherry blieb im Bett liegen und lauschte auf das Wasserrauschen aus dem Bad. Sie malte sich aus, wie sie die Wohnung herrichten und schließlich einziehen würde, und probierte alle möglichen Varianten mit ihren eigenen Möbeln aus. Sie glaubte, dass sie und Rick sich für den Rest ihres Lebens jeden Tag lieben würden, ohne dass es jemals langweilig würde. Er ging so gut mit ihr um, gleichzeitig stark und sanft. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte, aber sie wusste, dass es dafür zu früh war. Außerdem wusste sie ja noch nicht, ob das stimmte. Sie mochte ihn jedenfalls.
Cherry lag immer noch nackt im Bett, als Rick mit einem burgunderroten Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam.
»Musst du wirklich gehen?«, fragte Cherry.
»Ja, sicher«, erwiderte Rick. »Ich muss ein paar Patienten retten.« Das war kein Witz. Er ließ das Handtuch fallen und zog Calvin-Klein-Boxershorts an.
»Schade«, meinte Cherry. »Ich dachte, wir könnten noch einmal …«
»Noch einmal?«, frage Rick, während er ein Hemd überzog. »Wer bin ich denn? Superman?«
»Nein«, meinte Cherry, »aber ich bin Superwoman.«
Rick lachte. »Du bringst mich um, Bordeaux.« Dann zog er eine Hose an und schloss den Reißverschluss. »Du saugst mir sämtliche Energie aus.«
»Aber tot bist du noch nicht.«
»Wer behauptet das?«
Cherry stützte den Kopf in eine Hand. »Komm her, dann verpasse ich dir den Rest.«
»Wow!«, meinte Rick. »Woher stammst du nochmal?«
Cherry lächelte befriedigt. Sie fühlte sich jetzt völlig als Herrin der Lage. Rick forderte sie heraus. Es gefiel ihr, grob mit ihm umzuspringen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wie eine richtige Frau.
»Komm schon«, meinte Rick. »Zieh dich an. Wir müssen gehen.«
Cherry schmollte wie ein kleines Mädchen. »Ich bin zu müde, um jetzt die ganze Strecke nach Hause zu fahren. Lass mich ein paar Stündchen ausruhen, dann schließe ich hinter mir ab.«
»Nein. Zieh dich an. Wir gehen.«
Cherry rührte sich nicht. Wenn sie ihm gehorchte, würde sie die Kontrolle verlieren.
»Wie unfreundlich Sie sind, Dr. Nash«, sagt sie spielerisch in ihrem stärksten Südstaatenakzent. »Ich hoffe doch, dass Sie sich bei den Patienten etwas taktvoller benehmen.«
Rick war jetzt voll angekleidet, verschränkte die Arme und sah Cherry mit einem besorgten Arztblick an. »Bei Patienten«, sagte er, »bin ich immer ganz ehrlich.«
Cherry spürte, wie ihr Wille zusammenbrach. Weiter konnte sie es nicht treiben, ohne verrückt zu erscheinen. Sie hatte versucht, ihn zu verführen, und war gescheitert.
»Okay«, meinte sie und versuchte, arrogant zu klingen. »Du bist immerhin der Boss hier.« Dann zog sie die Decke hoch. »Ich möchte mich nun allein anziehen, falls du nichts dagegen hast. Hast du vielleicht ein Glas Orangensaft oder so was?«
»Na gut, Bordeaux«, seufzte Rick amüsiert. »Du hast gewonnen. Bleib ein paar Stündchen, und dann gehst du nach Hause. Verstanden?« Dann beugte er sich vor und gab ihr durch das dünne Laken hindurch einen Klaps auf den Hintern.
»Au!«, schrie Cherry. Der Schmerz erregte sie aufs Neue. Plötzlich begehrte sie ihn mehr als je zuvor. Sie griff nach seinem Gürtel und versuchte, ihn an sich zu ziehen, doch er legte eine Hand fest auf ihre.
»Hast du morgen frei?«, fragte er.
»Ja, warum?«
Rick hielt immer noch ihre Hand fest. »Lass uns etwas unternehmen. Im Metropolitan gibt es eine Ausstellung aus Holland. Danach sehen wir weiter.« Er bewegte ihre Hand über seinen Penis, der halb steif war.
»Mmmm, das gefällt mir«, sagte Cherry, deren Selbstbewusstsein wiederhergestellt war. »Ich bin ja so froh, dass wenigstens einer von uns Pläne macht.«
Rick nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich stelle die Tür so ein, dass sie ins Schloss fällt, wenn du gehst.« Dann ließ er ihre Hand los.
Cherry lauschte, als Rick die Wohnung verließ. Das war ein Sieg, dachte sie. Sie hatte sich an Rick Nash herangemacht und gewonnen.
Sie hatte erkannt, wie man mit Rick umgehen musste. Man durfte sich nie mit einem Nein abfinden.
Dann reckte sie sich auf dem großen Bett und genoss ihren Triumph. Dass er ihr genug vertraute, um sie in der Wohnung zurückzulassen, erregte in ihr den Wunsch, es auch wert zu sein. Sie würde nichts tun, was ihn enttäuschen mochte. Das hier war eine erwachsene Beziehung. Das hatte sie begriffen.
Wie leicht es nun war, sich vorzustellen, mit Rick verheiratet zu sein, für ihn zu kochen und auf sein Heimkommen zu warten.
Das war es - warum kochte sie ihm nicht etwas? Sie konnte ihn mit einer richtigen Mahlzeit überraschen, etwas aus den Südstaaten: gebratener Wels, Gemüse, Kartoffelpüree, Buttermilchkekse … Vielleicht rief sie ihre Mutter an und bat um ein paar Rezepte. Dann hatte sie eine weitere Idee. Sie würde Ricks Wohnung gründlich putzen. Das war sicher nötig. Denn was war schöner, als in eine frisch geputzte Wohnung heimzukommen? Und dann das Essen! Rick würde in ihren Händen weich wie Butter.
Aber dann fiel ihr ein, dass sie keinen Schlüssel hatte, was hieß, sie konnte weder Putzmittel noch Lebensmittel einkaufen gehen. Dann musste sie eben mit dem auskommen, was sie hier fand. Und zum Essen konnte sie einfach etwas aus diesem schönen französischen Restaurant bestellen - oder von sonst woher. Sie konnte sich diese Extravaganz leisten.
Aber zuerst würde sie putzen. Sie stand auf, ging ins Bad und überlegte, wo sie am besten anfing. Am besten in der Dusche. Sie beschloss, ihr T-Shirt als Lappen zu benutzen. Dann ging sie in die Küche und fand weitere Putzmittel unter der Spüle. Doch zuerst machte sie sich einen Espresso in Ricks Maschine auf der Anrichte. Sie brauchte jetzt Koffein. Das hier würde die sauberste Wohnung in ganz New York.
Schicksalspfad Roman
titlepage.xhtml
bour_9783641042288_oeb_toc_r1.html
bour_9783641042288_oeb_fm1_r1.html
bour_9783641042288_oeb_ata_r1.html
bour_9783641042288_oeb_tp_r1.html
bour_9783641042288_oeb_fm2_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c01_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c02_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c03_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c04_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c05_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c06_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c07_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c08_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c09_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c10_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c11_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c12_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c13_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c14_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c15_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c16_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c17_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c18_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c19_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c20_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c21_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c22_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c23_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c24_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c25_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c26_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c27_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c28_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c29_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c30_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c31_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c32_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c33_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c34_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c35_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c36_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c37_r1.html
bour_9783641042288_oeb_c38_r1.html
bour_9783641042288_oeb_cop_r1.html