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Um Punkt acht Uhr trug
Cherry schnell alles in die Karteikarten ein und rannte zum Lift,
ohne sich von Grace zu verabschieden, die dabei war, sich mit ihrem
prominenten Patienten und dessen Team vertraut zu machen. Grace war
die offensichtliche Wahl für diesen Job, eine ausgezeichnete
Krankenschwester mit genügend Reife und Erfahrung, um einen
Hollywoodsuperstar zu pflegen. Cherry hätte zwar liebend gerne
allen Freunden
und Angehörigen zu Hause erzählt, dass sie selbst Matt Conner
pflegte, aber alle ihre Gedanken und Gefühle waren derzeit von Rick
gefesselt. Matt Conner spielte für sie kaum eine Rolle.
Draußen zog sie das Oberteil ihrer rosa Uniform
aus. Darunter trug sie ein enges graues T-Shirt, auf dem in roten
Lettern »Cowgirl« stand, und ging in Richtung Süden statt zur
U-Bahn. Irgendwie trieb ein Instinkt sie dazu. Sie musste zu Ricks
Wohnung. Die ganze Schicht über war sie nervös gewesen, voller
intensiver, widerstreitender Emotionen. Sie fragte sich, warum Rick
sie noch nicht angerufen hatte. Ihr war natürlich sonnenklar, dass
es weniger als vierundzwanzig Stunden her war, dass sie sich
getrennt hatten, aber sie verstand nicht, warum er sie nicht bei
der Arbeit angerufen hatte, nur um ihr zu sagen, dass er an sie
dachte. Nicht, dass es bedeutete, dass er überhaupt nicht anrufen
würde … vielleicht wollte er nicht allzu aufdringlich sein? Sie
wollte bloß wissen, ob er sich wieder mit ihr treffen wollte, oder
ob das gestern ein Einzelfuck gewesen war.
Rick wohnte in einem Gebäude mit Portier auf der
66. East - so betrunken sie gestern auch gewesen war, sie hatte
sich seine Adresse gemerkt. An vieles in der Wohnung selbst konnte
sie sich nicht erinnern, außer, dass das Bad dringend geputzt
werden musste und es keine Extrazahnbürste gab, mit der sie sich
hätte die Zähne putzen können.
Da hatte Cherry eine Idee. Sie ging in die
nächste Drogerie, kaufte eine Flasche Scheuermittel, ein paar
Schwämme und eine Zahnbürste. Anschließend kaufte sie in einem
Delikatessengeschäft eine teure Tafel Bitterschokolade.
Fast hätte sie ihm noch eine Flasche Wein gekauft, überlegte es
sich aber. Sie wollte ihn nicht überschütten.
Mit den Einkaufstüten in der Hand stand sie nun
vor dem Gebäude und bekam plötzlich Zweifel. Wenn er sie nun gar
nicht sehen wollte? Aber gestern war er so süß zu ihr gewesen …
warum sollte sich daran inzwischen etwas geändert haben? Vielleicht
war er gar nicht zu Hause. Der Portier hielt sie nicht auf - er
nickte ihr bloß lächelnd zu und las dann weiter seine Zeitung.
Cherry war froh. Es war besser, bei Rick anzuklopfen und ihn ohne
eine Vorwarnung vom Portier zu überraschen. Hoffentlich mochte Rick
Überraschungen.
Sie fuhr mit dem Lift in den neunten Stock. Nach
einer langen Nachtschicht müsste sie eigentlich müde sein, aber sie
war hellwach. Sie wollte einfach nur Rick sehen.
Vor seiner Tür lauschte sie einen Moment, ob sie
von drinnen etwas hörte. Dann klopfte sie zweimal nicht zu laut an
und spürte einen Schauder, als hätte sie gerade etwas enorm
Unanständiges getan. Als der Türknauf sich drehte, gab es kein
Entkommen mehr. Cherry versuchte, ein angemessenes Lächeln
aufzusetzen, selbstbewusst und ein wenig schelmisch, aber als die
Tür sich öffnete, sackte es zusammen, und sie lächelte nur noch so
gezwungen und unterwürfig wie eine Fernsehhausfrau aus den
Sechzigern. Cherry hatte als Kind ständig die alten Folgen von
Hexe Lucy gesehen und oft Samantha Stevens’
übertriebenes Stirnrunzeln kopiert, wenn ihre häusliche Inkompetenz
auch durch Zauberei nicht mehr wettzumachen war. Wie in der Folge,
als Sir Lancelot plötzlich zu
Pferd in der Küche auftauchte. Dieses dämliche Lächeln hatte
Cherry aus manch einer unangenehmen Situation gerettet, aber das
Gesicht, das sie jetzt durch den Türspalt ansah, wirkte überhaupt
nicht amüsiert. Rick schien sie nicht einmal zu erkennen - er sah
aus, als steckte er mitten in einer Sache und wäre abgelenkt. Wie
ein Messerstich traf Cherry der Gedanke, dass er nicht allein in
der Wohnung war.
»Willst du hier einziehen?«, fragte Rick mit
einem Nicken in Richtung ihrer Einkaufstüten. Sein Mund verzog sich
zu einem ironischen, wissenden Grinsen.
Cherry wusste nicht, was sie denken sollte -
machte er sich über sie lustig? Wichtiger noch, war er
allein?
Sie sah ihn an. Er trug ein weißes Hemd mit
dunkler Krawatte. Seine Hemden wirkten stets frisch gebügelt.
Sie versuchte ein unschuldiges Lächeln. »Ich
bringe nur ein paar Geschenke«, sagte sie, als wäre es das
Natürlichste von der Welt, hier aufzutauchen. Das war mutig, aber
ihr blieb auch nichts anderes übrig. Sie musste das jetzt
durchziehen und selbstbewusst auftreten. Verspielt hielt sie ihm
die Tüten hin, wie ein Kind, das den Eltern ein gelungenes
Schulprojekt anbietet. Als Rick ihr die Tüten abnahm und ihre Hände
einander berührten, spürte Cherry die elektrische Spannung zwischen
ihnen funken.
Rick spähte in eine der Tüten. »Was fürs
Badezimmer?«, fragte er. »Kein Shampoo?«
»Deins ist in Ordnung«, gab Cherry zurück.
»Schau in die andere.«
Als Rick in die andere Tüte spähte, hellte sich
sein Gesicht auf. Cherry sah Glück, sah Hunger. Mit Schokolade traf
man es immer richtig.
»Sehr gut, Bordeaux«, meinte Rick mit einem
Wolfsgrinsen. Er ließ die Tüten auf den Boden fallen, umfasste
Cherrys Hüften, zog sie an sich und küsste sie hart auf den Mund.
Cherry wurde weich und nachgiebig, als Rick sie unter die Arme
griff und hochhob. Dabei rutschte ihr T-Shirt hoch. Rick küsste
ihren Bauchnabel. Cherry kreischte auf und schlang die Beine um
ihn. Und dann ging es in einem durch das Zimmer, am Sofa vorbei,
dem Fernseher, der Halogenlampe (sehr gefährlich, solche Lampen,
und hässlich. Sie würde sie rauswerfen …), an dem viereckigen
weißen Eichentisch vorbei, an dessen scharfen Kanten Cherry sich
gestern beim Gehen gestoßen hatte - und zum zweiten Mal in
vierundzwanzig Stunden landete sie sanft am kühlen, weichen Ufer
von Ricks Bett.
Diesmal liebten sie sich schnell, denn Rick
musste zur Arbeit. Aber es war kaum weniger wunderbar als am Tag
zuvor. Sie waren beide sehr erregt, und wieder erlebten sie den
Orgasmus gemeinsam. Anschließend rollte Cherry sich zusammen, legte
den Kopf an Ricks Brust und schloss die Augen. Sie kuschelte sich
in seine Arme und legte eine Hand auf seinen Bauch. Das ist mein Mann, dachte sie. Er gehört mir. Rick war sanft und kräftig zugleich,
er roch sehr gut. Der perfekte Mann. Cherry lächelte. Noch nie war
sie so glücklich gewesen.
Nach einem Moment stand Rick auf, um zu duschen.
Die Zeit drängte für ihn. Cherry blieb im Bett liegen und lauschte
auf das Wasserrauschen aus dem Bad. Sie malte sich aus, wie sie die
Wohnung herrichten und schließlich einziehen würde, und probierte
alle möglichen Varianten mit ihren eigenen Möbeln aus. Sie glaubte,
dass
sie und Rick sich für den Rest ihres Lebens jeden Tag lieben
würden, ohne dass es jemals langweilig würde. Er ging so gut mit
ihr um, gleichzeitig stark und sanft. Sie wollte ihm sagen, dass
sie ihn liebte, aber sie wusste, dass es dafür zu früh war.
Außerdem wusste sie ja noch nicht, ob das stimmte. Sie mochte ihn
jedenfalls.
Cherry lag immer noch nackt im Bett, als Rick
mit einem burgunderroten Handtuch um die Hüften aus dem Bad
kam.
»Musst du wirklich gehen?«, fragte Cherry.
»Ja, sicher«, erwiderte Rick. »Ich muss ein paar
Patienten retten.« Das war kein Witz. Er ließ das Handtuch fallen
und zog Calvin-Klein-Boxershorts an.
»Schade«, meinte Cherry. »Ich dachte, wir
könnten noch einmal …«
»Noch einmal?«, frage Rick, während er ein Hemd
überzog. »Wer bin ich denn? Superman?«
»Nein«, meinte Cherry, »aber ich bin
Superwoman.«
Rick lachte. »Du bringst mich um, Bordeaux.«
Dann zog er eine Hose an und schloss den Reißverschluss. »Du saugst
mir sämtliche Energie aus.«
»Aber tot bist du noch nicht.«
»Wer behauptet das?«
Cherry stützte den Kopf in eine Hand. »Komm her,
dann verpasse ich dir den Rest.«
»Wow!«, meinte Rick. »Woher stammst du
nochmal?«
Cherry lächelte befriedigt. Sie fühlte sich
jetzt völlig als Herrin der Lage. Rick forderte sie heraus. Es
gefiel ihr, grob mit ihm umzuspringen. Zum ersten Mal in ihrem
Leben fühlte sie sich wie eine richtige Frau.
»Komm schon«, meinte Rick. »Zieh dich an. Wir
müssen gehen.«
Cherry schmollte wie ein kleines Mädchen. »Ich
bin zu müde, um jetzt die ganze Strecke nach Hause zu fahren. Lass
mich ein paar Stündchen ausruhen, dann schließe ich hinter mir
ab.«
»Nein. Zieh dich an. Wir gehen.«
Cherry rührte sich nicht. Wenn sie ihm
gehorchte, würde sie die Kontrolle verlieren.
»Wie unfreundlich Sie sind, Dr. Nash«, sagt sie
spielerisch in ihrem stärksten Südstaatenakzent. »Ich hoffe doch,
dass Sie sich bei den Patienten etwas taktvoller benehmen.«
Rick war jetzt voll angekleidet, verschränkte
die Arme und sah Cherry mit einem besorgten Arztblick an. »Bei
Patienten«, sagte er, »bin ich immer ganz ehrlich.«
Cherry spürte, wie ihr Wille zusammenbrach.
Weiter konnte sie es nicht treiben, ohne verrückt zu erscheinen.
Sie hatte versucht, ihn zu verführen, und war gescheitert.
»Okay«, meinte sie und versuchte, arrogant zu
klingen. »Du bist immerhin der Boss hier.« Dann zog sie die Decke
hoch. »Ich möchte mich nun allein anziehen, falls du nichts dagegen
hast. Hast du vielleicht ein Glas Orangensaft oder so was?«
»Na gut, Bordeaux«, seufzte Rick amüsiert. »Du
hast gewonnen. Bleib ein paar Stündchen, und dann gehst du nach
Hause. Verstanden?« Dann beugte er sich vor und gab ihr durch das
dünne Laken hindurch einen Klaps auf den Hintern.
»Au!«, schrie Cherry. Der Schmerz erregte sie
aufs
Neue. Plötzlich begehrte sie ihn mehr als je zuvor. Sie griff nach
seinem Gürtel und versuchte, ihn an sich zu ziehen, doch er legte
eine Hand fest auf ihre.
»Hast du morgen frei?«, fragte er.
»Ja, warum?«
Rick hielt immer noch ihre Hand fest. »Lass uns
etwas unternehmen. Im Metropolitan gibt es eine Ausstellung aus
Holland. Danach sehen wir weiter.« Er bewegte ihre Hand über seinen
Penis, der halb steif war.
»Mmmm, das gefällt mir«, sagte Cherry, deren
Selbstbewusstsein wiederhergestellt war. »Ich bin ja so froh, dass
wenigstens einer von uns Pläne macht.«
Rick nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich stelle
die Tür so ein, dass sie ins Schloss fällt, wenn du gehst.« Dann
ließ er ihre Hand los.
Cherry lauschte, als Rick die Wohnung verließ.
Das war ein Sieg, dachte sie. Sie hatte sich an Rick Nash
herangemacht und gewonnen.
Sie hatte erkannt, wie man mit Rick umgehen
musste. Man durfte sich nie mit einem Nein abfinden.
Dann reckte sie sich auf dem großen Bett und
genoss ihren Triumph. Dass er ihr genug vertraute, um sie in der
Wohnung zurückzulassen, erregte in ihr den Wunsch, es auch wert zu
sein. Sie würde nichts tun, was ihn enttäuschen mochte. Das hier
war eine erwachsene Beziehung. Das hatte sie begriffen.
Wie leicht es nun war, sich vorzustellen, mit
Rick verheiratet zu sein, für ihn zu kochen und auf sein Heimkommen
zu warten.
Das war es - warum kochte sie ihm nicht etwas?
Sie konnte ihn mit einer richtigen Mahlzeit überraschen, etwas
aus den Südstaaten: gebratener Wels, Gemüse, Kartoffelpüree,
Buttermilchkekse … Vielleicht rief sie ihre Mutter an und bat um
ein paar Rezepte. Dann hatte sie eine weitere Idee. Sie würde Ricks
Wohnung gründlich putzen. Das war sicher nötig. Denn was war
schöner, als in eine frisch geputzte Wohnung heimzukommen? Und dann
das Essen! Rick würde in ihren Händen weich wie Butter.
Aber dann fiel ihr ein, dass sie keinen
Schlüssel hatte, was hieß, sie konnte weder Putzmittel noch
Lebensmittel einkaufen gehen. Dann musste sie eben mit dem
auskommen, was sie hier fand. Und zum Essen konnte sie einfach
etwas aus diesem schönen französischen Restaurant bestellen - oder
von sonst woher. Sie konnte sich diese Extravaganz leisten.
Aber zuerst würde sie putzen. Sie stand auf,
ging ins Bad und überlegte, wo sie am besten anfing. Am besten in
der Dusche. Sie beschloss, ihr T-Shirt als Lappen zu benutzen. Dann
ging sie in die Küche und fand weitere Putzmittel unter der Spüle.
Doch zuerst machte sie sich einen Espresso in Ricks Maschine auf
der Anrichte. Sie brauchte jetzt Koffein. Das hier würde die
sauberste Wohnung in ganz New York.