3
Tut mir leid, Sie zu
wecken, aber bei Mr. Ho müssen die Katheter entfernt werden«, sagte
Grace in den Hörer. Ihre Stimme klang betont fröhlich, weil sie
versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. »Er sollte doch
schon vor Stunden verlegt werden.«
»Die Katheter?«, entgegnete Rick schläfrig. »Ich
dachte, die hätte schon jemand herausgenommen.«
Jemand? Dieser Jemand hätte Rick Nash selbst
sein sollen - einen Herzkatheter zu entfernen war Sache der Ärzte.
Das wusste er doch sicher.
»Nein«, antwortete Grace. »Niemand hat ihn
entfernt. Er steckt immer noch fest in Mr. Ho.«
Rick seufzte. »Kann mir das niemand abnehmen? Es
ist drei Uhr morgens.«
»Niemand sonst ist hier«, sagte Grace, was
stimmte. Fred Hirsch, der diensthabende Arzt, war um elf gegangen,
und er hätte Rick ohnehin nicht geholfen. Fred hatte Grace
irgendwann anvertraut, dass er Rick Nash für
den faulsten Arzt im Krankenhaus von Manhattan hielt, obwohl man
Rick jetzt schon als Freds Nachfolger betrachtete, wenn dieser sich
im nächsten Jahr zur Ruhe setzen würde. Rick hatte, seine Begabung
mal außer Acht gelassen, einen Onkel im Vorstand.
»Das ist doch albern«, sagte Rick und lachte
verblüfft auf. »Sie meinen, niemand ist da, der eine so einfache
Sache erledigen kann wie einen Katheter entfernen?«
Grace glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Rick
war erst neununddreißig, aber er benahm sich, als hätte er bereits
eine Heilmethode für Krebs entdeckt und brauchte niemandem mehr
etwas zu beweisen.
»Sie wohnen doch nur sechs Blocks entfernt«,
erinnerte Grace ihn höflich.
»Es ist drei Uhr morgens«, brüllte Rick. »Muss
ich denn für jede Kleinigkeit rüberkommen?«
Grace’ Herz pochte. Sie hasste Konflikte,
besonders mit den Ärzten. Sie wollte bloß, dass Rick seine Arbeit
tat, damit Mr. Ho auf die normale Station verlegt werden konnte und
ein dringend benötigtes Bett auf der Intensivstation frei
wurde.
Sie sagte: »Ich würde es ja selbst tun, Rick,
verstehen Sie mich bitte richtig, aber ich glaube nicht …«
»Würden Sie das wirklich?«, fragte Rick erfreut.
»Das wäre wirklich eine große Hilfe, Grace. Sie würden mir einen
Riesengefallen tun.«
»Nein, ich wollte nur sagen, da Mr. Ho ein paar
Komplikationen hatte, ist es vermutlich nicht angebracht, wenn ich
es tue. Wenn nun etwas schiefgeht …«
»Nichts geht dabei schief«, unterbrach Rick sie
und legte all sein ärztliches Selbstvertrauen in diese Worte.
»Erstens sind Sie die beste Schwester auf der Station. Zweitens
stecken die Katheter schon nicht mehr im Herzen. Man braucht sie
bloß herauszuziehen.«
Grace öffnete den Mund zum Sprechen, aber ihr
fiel darauf nichts ein. Fünf Minuten später stand sie neben Mr. Ho
und rollte die Ärmel ihrer blauen Uniform hoch.
Die Katheter steckten tief in den langen Venen
von Mr. Hos Lende. Man brauchte eine ruhige Hand, um sie
herauszuziehen. Grace holte tief Luft, entschlossen, sich nicht von
Ricks Komplimenten beeinflussen zu lassen. Es war schön, wenn man
geschätzt wurde, aber zu einer guten Krankenschwester gehörte es
nicht unbedingt, dass man die Aufgaben anderer übernahm. Sie hätte
sich weigern sollen, aus dem einfachen Grund, dass es gegen alle
Regeln verstieß. Natürlich wurden hundertfach und ständig größere
oder kleinere Regeln gebrochen. Grace’ größter Fehler aber war,
dass sie sich häufig von anderen überreden ließ.
Mr. Ho war wach und lag still da. Er stammte aus
Taiwan und verstand kaum Englisch, aber man merkte, dass er auf
das, was er wusste, sehr stolz war. Er war zweiundachtzig.
»Mr. Ho, Sie werden einen leichten Druck
spüren«, sagte Grace. »Ich drücke hier auf Ihre Lende, okay?«
Manche Patienten empfanden das als extrem schmerzhaft, so dass ihr
Blutdruck abfiel, aber Mr. Ho war alt und hatte eine stoische,
beherrschte Natur. Er schloss die Augen und nickte knapp.
Es gab wie überall gute und schlechte Patienten.
Gary war ein guter Patient gewesen, dachte Grace, auch wenn er sich
ständig über das Essen beschwert hatte. Er war
nach der Krebsoperation am Magen auf die Intensivstation gekommen
und hatte sofort begonnen, mit Grace zu flirten. Daran war sie
gewöhnt, aber Gary war klüger und lustiger als die meisten anderen
Patienten. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ließ sich
Grace darauf ein, mit ihm auszugehen. Er lud sie ins Nobu ein, das er sich mit seinem Lehrergehalt kaum
leisten konnte, und sie erzählten einander ihr Leben. Gary erwähnte
seine Krankheit nur wenig, denn er hatte sich blendend davon
erholt. Grace merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Er war
für sie ein Held, ein Vorbild an Optimismus und Duldsamkeit. Im
April, sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung, wurde er für
geheilt erklärt und machte Grace einen Heiratsantrag. Im Mai
heirateten sie im Standesamt der City Hall und zogen zusammen in
Grace’ Haus auf Turtle Island. Aber im Juni begann Gary abzunehmen.
Grace bestand darauf, dass er zum Arzt ging. Die Diagnose war
schlimmer, als sie befürchtet hatten. Es war
Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sich völlig überraschend entwickelt
und mit dem ersten Krebs nichts zu tun hatte, meinten die Ärzte.
Grace war wie vernichtet. Sie nahm es viel schlimmer auf als Gary.
Während seines raschen, schrecklichen Verfalls wich sie nicht von
seiner Seite. Sie fütterte ihn, wechselte sein Bettzeug, pflegte
ihn. Anfang August war er gestorben.
»Oh, Gary«, mumelte Grace, während sie den
zweiten Katheter aus Mr. Hos Venen zog. »Gary, Gary.«
Was für eine Verschwendung, was für eine
Schande. Drei Jahre später weinte sie immer noch oft. Ein Jahr nach
seinem Tod hatte sie sich ein paar Mal mit Männern verabredet, aber
niemand war mit Gary zu vergleichen.
Es gab erstaunlich viele Nieten. Entweder lag es daran, oder sie
hatte einfach Pech. Sie hatte nicht aufgegeben (obwohl Joanne das
behauptete), doch sie suchte nicht mehr aktiv nach einem neuen
Mann. Es war alles zu deprimierend.
Sie warf den Katheter in den Abfall. Als sie den
Blick senkte, sah sie unter ihrem Gummihandschuh hellrotes Blut
aufquellen. Was war passiert? Mr. Ho schien es nicht zu bemerken,
und Grace wollte ihn nicht darauf aufmerksam machen. Aus
irgendeinem Grund gerann das Blut nicht. Grace drückte fester zu.
Mr. Ho stöhnte leise auf. Das Blut floss nun an seinem haarlosen
Bein entlang auf das weiße Laken. Grace ermahnte sich, nicht in
Panik zu geraten, aber sie war entsetzt. Überall war nun Blut und
niemand in der Nähe. Sie hätte nach Hilfe klingeln können,
entschied sich aber dagegen, denn sie wollte die Blutung selbst
stoppen. Derweil schlief Rick Nash vermutlich wie ein Baby.
Verdammte Scheiße, murmelte sie verhalten,
wusste aber nicht genau, ob sie damit Rick meinte, Gary oder selbst
Mr. Ho, dessen unkontrollierbares Blut wie ein Angriff auf sie
wirkte. In ihrer Angst und Wut dachte sie einen Moment lang daran,
aufzugeben und ihn verbluten zu lassen. Doch dann, genauso
plötzlich, wie sie aufgekommen war, begann die Flut zu versiegen.
Grace spürte, wie das gerinnende Blut an ihren Händen kleben blieb.
Sie holte tief Luft und wischte sich mit der Schulter den Schweiß
vom Gesicht.
Da hörte sie ein Geräusch. Erschrocken drehte
sie sich um und sah Fred Hirsch, der in einem weißen Hemd und Jeans
lässig am Türrahmen lehnte und sie angrinste. Dann klatschte er
langsam ein paar Mal in die Hände.
»Gut gemacht, Cameron«, sagte er leise. Für
einen Mann seines Alters wirkte er erstaunlich jugendlich.
»Wie lange stehen Sie da schon?«, fragte Grace.
»Ich dachte, Sie wären schon vor Stunden gegangen.«
»Ich musste wegen einer kleinen Krise bei Mrs.
Weinstock zurückkommen.«
Das war der Riesenunterschied zwischen Fred und
Rick Nash!
»Sie hätten mir helfen können«, sagte Grace.
Jetzt lächelte sie, weil sie erleichtert war, ihre eigene Krise
überstanden zu haben.
»Ist das nicht Nashs Patient?«, fragte Fred
listig.
Grace errötete. Es war peinlich, wenn Fred nun
wusste, dass sie Ricks Aufgabe übernommen hatte. »Nun ja«,
erwiderte sie resigniert, »irgendjemand musste es tun.« Sie zog die
blutigen Handschuhe aus und warf sie zu dem anderen Abfall in den
roten Eimer. Dann wandte sie sich dem Patienten zu. »Wir machen das
sofort sauber, Mr. Ho, okay?« Mr. Ho nickte, immer noch mit
geschlossenen Augen. Er hatte keine Ahnung, was passiert war.
»Ich hatte auch gerade einen fantastischen
Abend«, sagte Fred nun. »Wir waren im Vanguard, wo gerade Lou Donaldson auftrat. Das
Mädchen ist toll: achtundzwanzig, fantastisch aussehend, und sie
macht gerade ihren Magister in Anthropologie an der Columbia Uni.
Spricht vier Sprachen …«
»Wow«, erwiderte Grace. »Beeindruckend.«
»Und erst ihre Figur …«, fuhr Fred fort.
Grace verehrte Fred, aber sie wollte eigentlich
nicht sämtliche Einzelheiten über seinen tollen Abend hören.
Fred ging regelmäßig mit Frauen in Jazzclubs, Symphonieorchester,
Ballettvorstellungen und die neuesten Restaurants. Das Ende der
Geschichte bildete stets eine Knutscherei auf dem Rücksitz eines
Taxis. Die Frauen waren ausnahmslos »fantastisch« und »supertoll«
und in den Zwanzigern. Doch trotz seines Rufs als weltgewandter
Mann fuhr Fred einen vierundachtziger Mercedes und telefonierte
jeden Tag mit seiner neunzigjährigen Mutter in Florida.
Grace gelang es, in den Waschraum zu entkommen,
wo sie sich erst einmal Mr. Hos Blut vom Arm schrubbte. Ich muss
hier raus, dachte sie. Als sie vor fünf Jahren hier anfing, nach
Jobs in Lenox Hill und Sloan-Kettering, war sie richtig aufgeregt
gewesen. Manhattan Hospital galt als das Beste der Stadt, was etwas
hieß, wenn ganz in der Nähe Sloane und Cornell lagen. Es hatte 652
Betten und ein entsetzlich schlechtes Zahlenverhältnis von
Pflegepersonal zu Patienten. Doch es war für seine exzellenten
Ergebnisse bei der Behandlung von Herzerkrankungen bekannt, in
Gynäkologie und Ophtalmologie. Auch die Intensivstation hatte einen
ausgezeichneten Ruf, obwohl der von den anderen Abteilungen noch
übertroffen wurde. Alles war nach dem neuesten Stand ausgerüstet,
aber was nützte einem schon der allermodernste Herzmonitor, wenn
überarbeitete Schwestern die falschen Medikamente verabreichten und
die Ärzte ihre Arbeit einfach nicht taten? Inkompetenz wurde nicht
bloß toleriert, sie wurde belohnt, und nur wenige nahmen solche
Vorfälle so ernst wie Grace. Sie erwartete von allen anderen ebenso
viel wie von sich selbst. Mehr als einmal war ihr eine Position in
der Verwaltung angeboten worden, aber
so schmeichelnd das auch war - und sie misstraute dieser Art von
Schmeichelei -, hatte sie nicht das Bedürfnis, sich mehr Stress und
Verantwortung aufzuladen. Ihr Ziel war es eher, das Krankenhaus zu
verlassen und ihre eigene private Schwesternagentur aufzubauen.
Diese Idee war ihr in den ersten, aufregenden Wochen mit Gary
gekommen, als alles noch möglich schien. Natürlich konnte sie ein
solches Geschäft auch allein aufziehen. Aber dann wurde Gary krank,
und als er starb, war jeglicher Ehrgeiz verschwunden, so, als wäre
alles unaufhaltsam aus ihr herausgeflossen, bis nichts mehr übrig
war.
Sie stellte den Wasserhahn ab und trocknete sich
die Arme an einem Papierhandtuch. Blut hatte ihr noch nie etwas
ausgemacht. Sie war bloß dankbar, dass Mr. Ho nicht gestorben war.
Das war das Einzige, wovor sie als Schwester eine Riesenangst hatte
- einen Patienten zu verlieren. Aber schließlich passierte das
jedem irgendwann. Bisher hatte sie einfach Glück gehabt.
Doch wie auch immer, schwor sie sich, sie würde
nie wieder Cherrys Schicht übernehmen.