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Tut mir leid, Sie zu wecken, aber bei Mr. Ho müssen die Katheter entfernt werden«, sagte Grace in den Hörer. Ihre Stimme klang betont fröhlich, weil sie versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. »Er sollte doch schon vor Stunden verlegt werden.«
»Die Katheter?«, entgegnete Rick schläfrig. »Ich dachte, die hätte schon jemand herausgenommen.«
Jemand? Dieser Jemand hätte Rick Nash selbst sein sollen - einen Herzkatheter zu entfernen war Sache der Ärzte. Das wusste er doch sicher.
»Nein«, antwortete Grace. »Niemand hat ihn entfernt. Er steckt immer noch fest in Mr. Ho.«
Rick seufzte. »Kann mir das niemand abnehmen? Es ist drei Uhr morgens.«
»Niemand sonst ist hier«, sagte Grace, was stimmte. Fred Hirsch, der diensthabende Arzt, war um elf gegangen, und er hätte Rick ohnehin nicht geholfen. Fred hatte Grace irgendwann anvertraut, dass er Rick Nash für den faulsten Arzt im Krankenhaus von Manhattan hielt, obwohl man Rick jetzt schon als Freds Nachfolger betrachtete, wenn dieser sich im nächsten Jahr zur Ruhe setzen würde. Rick hatte, seine Begabung mal außer Acht gelassen, einen Onkel im Vorstand.
»Das ist doch albern«, sagte Rick und lachte verblüfft auf. »Sie meinen, niemand ist da, der eine so einfache Sache erledigen kann wie einen Katheter entfernen?«
Grace glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Rick war erst neununddreißig, aber er benahm sich, als hätte er bereits eine Heilmethode für Krebs entdeckt und brauchte niemandem mehr etwas zu beweisen.
»Sie wohnen doch nur sechs Blocks entfernt«, erinnerte Grace ihn höflich.
»Es ist drei Uhr morgens«, brüllte Rick. »Muss ich denn für jede Kleinigkeit rüberkommen?«
Grace’ Herz pochte. Sie hasste Konflikte, besonders mit den Ärzten. Sie wollte bloß, dass Rick seine Arbeit tat, damit Mr. Ho auf die normale Station verlegt werden konnte und ein dringend benötigtes Bett auf der Intensivstation frei wurde.
Sie sagte: »Ich würde es ja selbst tun, Rick, verstehen Sie mich bitte richtig, aber ich glaube nicht …«
»Würden Sie das wirklich?«, fragte Rick erfreut. »Das wäre wirklich eine große Hilfe, Grace. Sie würden mir einen Riesengefallen tun.«
»Nein, ich wollte nur sagen, da Mr. Ho ein paar Komplikationen hatte, ist es vermutlich nicht angebracht, wenn ich es tue. Wenn nun etwas schiefgeht …«
»Nichts geht dabei schief«, unterbrach Rick sie und legte all sein ärztliches Selbstvertrauen in diese Worte. »Erstens sind Sie die beste Schwester auf der Station. Zweitens stecken die Katheter schon nicht mehr im Herzen. Man braucht sie bloß herauszuziehen.«
Grace öffnete den Mund zum Sprechen, aber ihr fiel darauf nichts ein. Fünf Minuten später stand sie neben Mr. Ho und rollte die Ärmel ihrer blauen Uniform hoch.
Die Katheter steckten tief in den langen Venen von Mr. Hos Lende. Man brauchte eine ruhige Hand, um sie herauszuziehen. Grace holte tief Luft, entschlossen, sich nicht von Ricks Komplimenten beeinflussen zu lassen. Es war schön, wenn man geschätzt wurde, aber zu einer guten Krankenschwester gehörte es nicht unbedingt, dass man die Aufgaben anderer übernahm. Sie hätte sich weigern sollen, aus dem einfachen Grund, dass es gegen alle Regeln verstieß. Natürlich wurden hundertfach und ständig größere oder kleinere Regeln gebrochen. Grace’ größter Fehler aber war, dass sie sich häufig von anderen überreden ließ.
Mr. Ho war wach und lag still da. Er stammte aus Taiwan und verstand kaum Englisch, aber man merkte, dass er auf das, was er wusste, sehr stolz war. Er war zweiundachtzig.
»Mr. Ho, Sie werden einen leichten Druck spüren«, sagte Grace. »Ich drücke hier auf Ihre Lende, okay?« Manche Patienten empfanden das als extrem schmerzhaft, so dass ihr Blutdruck abfiel, aber Mr. Ho war alt und hatte eine stoische, beherrschte Natur. Er schloss die Augen und nickte knapp.
Es gab wie überall gute und schlechte Patienten. Gary war ein guter Patient gewesen, dachte Grace, auch wenn er sich ständig über das Essen beschwert hatte. Er war nach der Krebsoperation am Magen auf die Intensivstation gekommen und hatte sofort begonnen, mit Grace zu flirten. Daran war sie gewöhnt, aber Gary war klüger und lustiger als die meisten anderen Patienten. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ließ sich Grace darauf ein, mit ihm auszugehen. Er lud sie ins Nobu ein, das er sich mit seinem Lehrergehalt kaum leisten konnte, und sie erzählten einander ihr Leben. Gary erwähnte seine Krankheit nur wenig, denn er hatte sich blendend davon erholt. Grace merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Er war für sie ein Held, ein Vorbild an Optimismus und Duldsamkeit. Im April, sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung, wurde er für geheilt erklärt und machte Grace einen Heiratsantrag. Im Mai heirateten sie im Standesamt der City Hall und zogen zusammen in Grace’ Haus auf Turtle Island. Aber im Juni begann Gary abzunehmen. Grace bestand darauf, dass er zum Arzt ging. Die Diagnose war schlimmer, als sie befürchtet hatten. Es war Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sich völlig überraschend entwickelt und mit dem ersten Krebs nichts zu tun hatte, meinten die Ärzte. Grace war wie vernichtet. Sie nahm es viel schlimmer auf als Gary. Während seines raschen, schrecklichen Verfalls wich sie nicht von seiner Seite. Sie fütterte ihn, wechselte sein Bettzeug, pflegte ihn. Anfang August war er gestorben.
»Oh, Gary«, mumelte Grace, während sie den zweiten Katheter aus Mr. Hos Venen zog. »Gary, Gary.«
Was für eine Verschwendung, was für eine Schande. Drei Jahre später weinte sie immer noch oft. Ein Jahr nach seinem Tod hatte sie sich ein paar Mal mit Männern verabredet, aber niemand war mit Gary zu vergleichen. Es gab erstaunlich viele Nieten. Entweder lag es daran, oder sie hatte einfach Pech. Sie hatte nicht aufgegeben (obwohl Joanne das behauptete), doch sie suchte nicht mehr aktiv nach einem neuen Mann. Es war alles zu deprimierend.
Sie warf den Katheter in den Abfall. Als sie den Blick senkte, sah sie unter ihrem Gummihandschuh hellrotes Blut aufquellen. Was war passiert? Mr. Ho schien es nicht zu bemerken, und Grace wollte ihn nicht darauf aufmerksam machen. Aus irgendeinem Grund gerann das Blut nicht. Grace drückte fester zu. Mr. Ho stöhnte leise auf. Das Blut floss nun an seinem haarlosen Bein entlang auf das weiße Laken. Grace ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten, aber sie war entsetzt. Überall war nun Blut und niemand in der Nähe. Sie hätte nach Hilfe klingeln können, entschied sich aber dagegen, denn sie wollte die Blutung selbst stoppen. Derweil schlief Rick Nash vermutlich wie ein Baby. Verdammte Scheiße, murmelte sie verhalten, wusste aber nicht genau, ob sie damit Rick meinte, Gary oder selbst Mr. Ho, dessen unkontrollierbares Blut wie ein Angriff auf sie wirkte. In ihrer Angst und Wut dachte sie einen Moment lang daran, aufzugeben und ihn verbluten zu lassen. Doch dann, genauso plötzlich, wie sie aufgekommen war, begann die Flut zu versiegen. Grace spürte, wie das gerinnende Blut an ihren Händen kleben blieb. Sie holte tief Luft und wischte sich mit der Schulter den Schweiß vom Gesicht.
Da hörte sie ein Geräusch. Erschrocken drehte sie sich um und sah Fred Hirsch, der in einem weißen Hemd und Jeans lässig am Türrahmen lehnte und sie angrinste. Dann klatschte er langsam ein paar Mal in die Hände.
»Gut gemacht, Cameron«, sagte er leise. Für einen Mann seines Alters wirkte er erstaunlich jugendlich.
»Wie lange stehen Sie da schon?«, fragte Grace. »Ich dachte, Sie wären schon vor Stunden gegangen.«
»Ich musste wegen einer kleinen Krise bei Mrs. Weinstock zurückkommen.«
Das war der Riesenunterschied zwischen Fred und Rick Nash!
»Sie hätten mir helfen können«, sagte Grace. Jetzt lächelte sie, weil sie erleichtert war, ihre eigene Krise überstanden zu haben.
»Ist das nicht Nashs Patient?«, fragte Fred listig.
Grace errötete. Es war peinlich, wenn Fred nun wusste, dass sie Ricks Aufgabe übernommen hatte. »Nun ja«, erwiderte sie resigniert, »irgendjemand musste es tun.« Sie zog die blutigen Handschuhe aus und warf sie zu dem anderen Abfall in den roten Eimer. Dann wandte sie sich dem Patienten zu. »Wir machen das sofort sauber, Mr. Ho, okay?« Mr. Ho nickte, immer noch mit geschlossenen Augen. Er hatte keine Ahnung, was passiert war.
»Ich hatte auch gerade einen fantastischen Abend«, sagte Fred nun. »Wir waren im Vanguard, wo gerade Lou Donaldson auftrat. Das Mädchen ist toll: achtundzwanzig, fantastisch aussehend, und sie macht gerade ihren Magister in Anthropologie an der Columbia Uni. Spricht vier Sprachen …«
»Wow«, erwiderte Grace. »Beeindruckend.«
»Und erst ihre Figur …«, fuhr Fred fort.
Grace verehrte Fred, aber sie wollte eigentlich nicht sämtliche Einzelheiten über seinen tollen Abend hören. Fred ging regelmäßig mit Frauen in Jazzclubs, Symphonieorchester, Ballettvorstellungen und die neuesten Restaurants. Das Ende der Geschichte bildete stets eine Knutscherei auf dem Rücksitz eines Taxis. Die Frauen waren ausnahmslos »fantastisch« und »supertoll« und in den Zwanzigern. Doch trotz seines Rufs als weltgewandter Mann fuhr Fred einen vierundachtziger Mercedes und telefonierte jeden Tag mit seiner neunzigjährigen Mutter in Florida.
Grace gelang es, in den Waschraum zu entkommen, wo sie sich erst einmal Mr. Hos Blut vom Arm schrubbte. Ich muss hier raus, dachte sie. Als sie vor fünf Jahren hier anfing, nach Jobs in Lenox Hill und Sloan-Kettering, war sie richtig aufgeregt gewesen. Manhattan Hospital galt als das Beste der Stadt, was etwas hieß, wenn ganz in der Nähe Sloane und Cornell lagen. Es hatte 652 Betten und ein entsetzlich schlechtes Zahlenverhältnis von Pflegepersonal zu Patienten. Doch es war für seine exzellenten Ergebnisse bei der Behandlung von Herzerkrankungen bekannt, in Gynäkologie und Ophtalmologie. Auch die Intensivstation hatte einen ausgezeichneten Ruf, obwohl der von den anderen Abteilungen noch übertroffen wurde. Alles war nach dem neuesten Stand ausgerüstet, aber was nützte einem schon der allermodernste Herzmonitor, wenn überarbeitete Schwestern die falschen Medikamente verabreichten und die Ärzte ihre Arbeit einfach nicht taten? Inkompetenz wurde nicht bloß toleriert, sie wurde belohnt, und nur wenige nahmen solche Vorfälle so ernst wie Grace. Sie erwartete von allen anderen ebenso viel wie von sich selbst. Mehr als einmal war ihr eine Position in der Verwaltung angeboten worden, aber so schmeichelnd das auch war - und sie misstraute dieser Art von Schmeichelei -, hatte sie nicht das Bedürfnis, sich mehr Stress und Verantwortung aufzuladen. Ihr Ziel war es eher, das Krankenhaus zu verlassen und ihre eigene private Schwesternagentur aufzubauen. Diese Idee war ihr in den ersten, aufregenden Wochen mit Gary gekommen, als alles noch möglich schien. Natürlich konnte sie ein solches Geschäft auch allein aufziehen. Aber dann wurde Gary krank, und als er starb, war jeglicher Ehrgeiz verschwunden, so, als wäre alles unaufhaltsam aus ihr herausgeflossen, bis nichts mehr übrig war.
Sie stellte den Wasserhahn ab und trocknete sich die Arme an einem Papierhandtuch. Blut hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Sie war bloß dankbar, dass Mr. Ho nicht gestorben war. Das war das Einzige, wovor sie als Schwester eine Riesenangst hatte - einen Patienten zu verlieren. Aber schließlich passierte das jedem irgendwann. Bisher hatte sie einfach Glück gehabt.
Doch wie auch immer, schwor sie sich, sie würde nie wieder Cherrys Schicht übernehmen.
Schicksalspfad Roman
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