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Am nächsten Tag hatten
Grace, Joanne und Cherry sich zu einem frühen Abendessen um fünf
Uhr bei Nigthtingales verabredet.
Grace und Cherry, die beide Nachtschicht hatten,
trugen bereits ihre blauen Uniformen. Sie kamen zuerst und setzten
sich an den dunklen Holztisch beim Fenster. Es war die »Blaue
Stunde«. Der Captain spielte mit Ed dem Fischer an der Theke
Schach. Neben Ed saß Connie Wilberson, eine pensionierte
Bibliothekarin, die dem Captain zum zigsten Mal mit ihrer
Lehrerinnenstimme einen Vortrag darüber hielt, dass man die vom
Aussterben bedrohte
Lederschildkröte wieder in Turtle Island einführen müsse. Als die
englischen Siedler Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hier ankamen
(Connie erzählte diese Geschichte jedem Fremden, der in ihrer Nähe
strandete), fielen ihnen als Erstes die zahlreichen
Riesenschildkröten auf, die sich auf den Felsen sonnten. Es waren
die größten Schildkröten der Welt. Sie wogen mehr als eine Tonne
und wurden wegen ihres weichen Panzers Lederschildkröten genannt.
Die Eingeborenen der Insel, die Siwanoy, lebten vorwiegend von
Rehwild und Fisch, aber für die Engländer war das
Schildkrötenfleisch eine Delikatesse. Daher betrachteten sie die
zahlreichen Riesenreptilien als ein Geschenk des Himmels. Innerhalb
von dreißig Jahren waren die Schildkröten völlig ausgerottet.
»Das ist unser Erbe«, sagte Connie, wenn sie vor
Mores Lebensmittelladen Flugblätter verteilte, in denen die Stadt
aufgerufen wurde, Gelder für ein Projekt zur Wiederansiedlung der
Schildkröten zur Verfügung zu stellen. »Bringt die Schildkröten
zurück!«
Die Nichte des Captains, Katie, eine stämmige,
fleißige blonde Siebzehnjährige aus Westchester, brachte ihnen die
Speisekarte und Wasser. Da Cherry und Grace arbeiten mussten,
bestellten sie keinen Alkohol. Cherry schlug ihre Speisekarte nicht
auf.
»Willst du denn nichts essen?«, fragte
Grace.
»Weiß nicht«, erwiderte Cherry. Sie gähnte und
bedeckte dabei geziert den Mund. »Ich glaube, ich bin eher müde als
hungrig.«
»Du musst aber etwas essen«, meinte Grace. »Der
Chowder hier ist doch köstlich. Auch der Fisch mit Pommes.«
»Oh, na gut«, meinte Cherry fröhlich und schlug
die Speisekarte auf. »Vielleicht eine Kleinigkeit …«
Grace betrachtete ihre junge Wohngenossin und
bemerkte etwas Neues in ihrem Gesicht - einen warmen, schimmernden
Glanz, den Grace wahrnahm, aber nicht benennen konnte. Es war, als
würde Cherry etwas verbergen, ein starkes Gefühl, etwas, was sich
in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte und sie zum Strahlen
brachte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Grace sie.
»Gut«, lächelte Cherry zurück. »Warum?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Grace, weil sie die
andere nicht in Verlegenheit bringen wollte. Aber sie war
neugierig. »Du siehst dieser Tage so hübsch aus. Gibt es etwas
Neues in deinem Leben?«
Cherry wandte den Blick ab. »Ja, da ist etwas,
was ich euch sagen wollte, aber es ist irgendwie … albern.« Sie
wünschte sich Grace’ Unterstützung. Außerdem wollte sie ihr Glück
mit jemandem teilen.
Grace erkannte, dass etwas Wichtiges in Cherry
vorging, und konnte nur annehmen, dass ein Mann im Spiel war. »Du
brauchst meinetwegen nicht verlegen zu sein«, sagte sie. »Mir
kannst du alles sagen.«
Cherry zögerte und sagte dann leise: »Ich treffe
mich mit jemandem.«
»Das ist doch großartig!«, rief Grace und
hoffte, dass ihre Begeisterung echt klang, doch sie spürte ehrlich
gesagt auch einen Stich Neid. »Wer ist es denn?«
»Es ist«, zögerte Cherry, »jemand, den du
kennst.«
»Wirklich?« Grace ging blitzschnell in Gedanken
die Männer durch, die sie beide kannten, aber ihr fiel niemand ein.
»Wer ist es, Cherry?«
Schuldbewusst hob Cherry den Blick und sah Grace
an, als erwartete sie deren Verurteilung. »Es ist Rick«, sagte sie
schließlich.
»Wer?«, fragte Grace verwirrt. Dann fiel es ihr
ein. »Du meinst … Nash?«
»Weißt du noch, als ich sagte, ich würde mich
mit meiner Tante treffen?«, sagte Cherry rasch. »Das war gelogen,
denn ich schämte mich zu sehr, es dir zu sagen.« Mit flehendem
Blick warb sie um Grace’ Verständnis. »Ich weiß, dass du es nicht
gut findest, wenn man mit Ärzten ausgeht, und ich weiß auch, was du
über Rick denkst …«
»Cherry, sag das bitte nicht. Ich kenne Rick
nicht einmal. Und du solltest dich nicht schämen, mir etwas zu
erzählen.«
»Also, wir haben uns erst ein paarmal
getroffen«, sagte Cherry und mied wieder Grace’ Blick, »und ich
habe keine Ahnung, ob es hält oder ob ich ihn überhaupt mag, aber
er hat mich um eine Verabredung gebeten, und ich wollte es nicht
geheim halten.«
»Das brauchst du auch nicht«, erwiderte Grace
mit einer Großzügigkeit, die sie nicht völlig so empfand. In
Wirklichkeit war sie ein wenig schockiert. Sie hatte professionelle
Einwände gegen Rick, aber abgesehen davon war sie erstaunt, dass er
sich mit einem so jungen und unerfahrenen Ding verabredete, wo ihm
doch alle Frauen zu Füßen lagen. Doch warum überraschte sie das?
Rick war ein Typ, der immer in Kontrolle sein musste. Das verlangte
sein Selbstbewusstsein.
Grace entschloss sich, Cherry nicht zu
entmutigen. Die Verantwortung wollte sie nicht auf sich nehmen. Und
vielleicht passten Rick und Cherry ja sogar ausgesprochen gut
zusammen. Wer konnte das schon beurteilen? Sie mischte sich schon
genug in Joannes Beziehungen ein und versuchte dauernd, ihr Donny
auszureden. Ihr war klar, dass man sie als Spielverderberin
betrachtete, die es nicht zuließ, dass irgendjemand in ihrer Nähe
eine gute Beziehung hatte.
»Er hat wirklich gute Eigenschaften«, sagte
Cherry. »Jedenfalls ist er bisher sehr nett zu mir gewesen.«
Nachdem sie ihr Geständnis einmal abgelegt hatte, konnte sie mit
ihren Gefühlen kaum hinterm Berg halten, aber auch nicht mit ihren
Ängsten. »Ich mag ihn sehr, Grace, ich glaube nicht, dass ich
jemals solche Gefühle für einen Mann hatte.«
»Das ist doch großartig«, antwortete Grace
zärtlich. »Ich will ja nur, dass du glücklich wirst. Das solltest
du wissen.«
»Das weiß ich.«
Aber Grace war irgenwie unbehaglich zumute.
Hoffentlich war es keine Eifersucht, doch das glaubte sie nicht.
Sie hatte noch nie jemandem sein Glück geneidet, auch wenn sie
selbst unglücklich war, nein, es lag wohl an Rick. Er war zu alt
für Cherry, zu ehrgeizig, zu egoistisch. Sie traute ihm nicht. Auch
glaubte sie nicht, dass Cherry bei ihm jemals gleichberechtigt sein
würde.
Da wurde die Tür geöffnet, und Joanne trat
ein.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte sie.
Sie trug immer noch die hellblaue Uniform. »Bin momentan ohne
Räder.«
»Meinst du dein Motorrad?«, fragte Grace.
Joanne zuckte die Achseln. »Donny hat es sich
ausgeliehen.
« Natürlich konnte sie ihnen nicht die ganze Geschichte erzählen -
dass sie Donny versprochen hatte, für ihn aus dem Krankenhaus
Morphium zu stehlen, wie sie in letzter Minute gekniffen und, um es
wiedergutzumachen, ihm ihre geliebte Suzi geliehen hatte. Als sie
ihn heute anrief, um das Motorrad abzuholen, hatte er gesagt, sie
bekäme es nur zurück, wenn sie ihm die Drogen besorgte. Er hatte
Suzi als Geisel genommen.
»Donny, eh?«, meinte Grace sarkastisch und
drückte damit ihre Ablehnung aus, die sie bei Cherry unterdrückt
hatte.
Doch Joanne war dazu nicht in der Stimmung.
»Eine Vorhaltung ist jetzt das Letzte, was ich brauche«, sagte sie.
»Okay?«
»Ich mache dir keine Vorhaltungen«, erwiderte
Grace und spürte, wie ihr innerlich heiß wurde. »Glaub mir.« Dann
schaltete sie rasch um. »Wie war die Schicht heute? Geht es immer
noch wild her?«
»Du meinst wegen Matt?«, fragte Joanne und
versuchte lässig zu klingen, weil sie eigentlich Grace immer auf
ihrer Seite haben wollte. »So schlecht war es nicht. Aber mit Kathy
und diesem Freak Lavender konnte ich nicht einmal vorbeischauen und
einen Blick auf ihn werfen. Was bedeutet, dass ich für die letzten
Neuigkeiten auf dich angewiesen bin.«
»Es gibt nichts Neues«, sagte Grace, fühlte sich
aber, als müsste sie statt einer Entschuldigung mehr sagen. »Ich
versuche mir die Zeit zu vertreiben, indem ich mit ihm rede. Wenn
er aus dem Koma kommt, kennt er meine gesamte Lebensgeschichte.
Falls er sie irgendwie mitbekommt.«
»Hast du ihm schon gesagt, was für ein guter
Zuhörer er ist?«, fragte Joanne. Cherry lachte.
»Nein«, erwiderte Grace, »aber ich habe ihm
gesagt, was für ein Idiot er ist, Stunts ohne Sturzhelm zu
machen.«
»Du trampelst also auf Leuten herum, die schon
auf dem Boden liegen?«
»Weiß ich«, antwortete Grace. »Das hätte ich
vielleicht besser gelassen.«
Joanne winkte ab. »Ich mache bloß Spaß.«
»Der kann froh sein, dich zu haben«, sagte
Cherry. »Du bist die beste Schwester der ganzen Station. Daher
haben sie dich dafür ausgesucht.«
»Bitte …!«, sagte Grace, der Lob immer peinlich
war. »Joanne ist genauso gut wie ich.«
»Und hat noch ein bisschen mehr zu bieten«,
meinte Joanne und wackelte mit ihrem Busen. Alle lachten.
Dann kam Katie, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Cherry wollte Fisch und Pommes, Grace den Salat und Joanne den
Chowder und ein Glas Guinness.
Als Katie gegangen war, legte Grace Cherry einen
Arm um die Schultern und sah Joanne an. »Kurz bevor du kamst«,
sagte sie, »hat Cherry mir etwas sehr Aufregendes
gebeichtet.«
»Schieß los!«, meinte Joanne und rückte näher zu
ihnen.
Cherry lächelte Grace dankbar an, nicht nur,
weil sie am liebsten der ganzen Welt von Rick erzählen wollte,
sondern auch, weil Grace trotz ihrer Zweifel auf ihrer Seite
stand.
»Okay«, meinte sie, »ich verrate es euch, aber
bitte niemandem weitersagen, okay?«
»Ich klatsche nie«, versprach Joanne.
»Ich habe mit Rick Nash geschlafen.«
»Was?«, riefen Grace und
Joanne wie aus einem Mund. Grace war nicht klar gewesen, dass
Cherry mit Nash geschlafen hatte. Es war ihr eigentlich nie in den
Sinn gekommen, dass Cherry überhaupt mit jemandem schlafen
würde.
»Du hast Rick Nash gefickt?«, flüsterte Joanne
vernehmlich. »Wann? Wie? Wo?«
»Nur einmal«, meinte Cherry und errötete bis an
die Ohren. Sie bedauerte bereits, es weitererzählt zu haben, auch
wenn sie sich ziemlich erleichtert fühlte.
»Unser Pfirsich aus Georgia ist angebissen
worden«, sagte Joanne. »Heiliger Scheißdreck!«
Zuerst dachte Cherry, dass Joanne das wörtlich
meinte, denn Rick hatte in der Tat Bissspuren auf ihrem Bauch
hinterlassen. Wieder errötete sie.
Grace sah, wie verlegen Cherry war, und sprang
ihr bei. »Was ist denn sonst heute passiert?«, fragte sie Joanne.
»Hatte Mr. Conner Besucher?«
»Nein, heute nicht«, antwortete Joanne. »Nur
seinen Vater. Oh, ja, und Farren Thrush, die eine Sonnenbrille trug
wie Jackie O. bei John F’s Beerdigung. Shit!«
»Hast du mit ihr geredet?«, fragte Cherry, die
dieses intime Gespräch über Filmstars sehr genoss, weil es so gut
zu ihrer Romanze mit Rick passte. Sie fühlte sich Spitze.
»Ich habe sie begrüßt«, antwortete Joanne. »Aber
es war keine Zeit für eine richtige Unterhaltung. Sie war zwei
Stunden in Matts Zimmer.«
»Ehrlich?«, fragte Grace.
Joanne wandte den Blick nicht von Cherry. »Du
hast also tatsächlich mit dem tollsten Hengst des gesamten
Krankenhauses geschlafen? Das ist aber was!«
»Äh …«, meinte Cherry bloß kichernd. »Ich habe
schon viel zu viel erzählt.«
»Quatsch«, sagte Joanne. »Ist er groß oder
klein? Ich habe ihn mir immer klein vorgestellt.«
»Joanne!«, ermahnte Grace.
»Was denn?«, gab Joanne zurück. »Wir sind doch
befreundet. Neugier ist etwas Positives.«
»Sagen wir einfach«, meinte Cherry scheu, »dass
ich mich über nichts zu beklagen habe.«
Dann kam Katie mit Joannes Bier, und die
Unterhaltung wendete sich, gesteuert von Grace, anderen Dingen zu:
die anstehenden Reparaturen im Haus, Lebensmittel, die ausgegangen
waren, und das andauernde Lärmproblem vom Segelclub, wenn die
Mitglieder jeden Abend bei Sonnenuntergang eine Kanone abfeuerten
und die Nationalhymne spielten.
Diese Unterhaltung wurde unterbrochen, als das
Essen gebracht wurde. Während der Mahlzeit dachte jede der Frauen
an unterschiedliche Dinge. Cherry überlegte, wie sie heute Nacht in
der Pause Rick in seiner Wohnung besuchen könnte. Joanne fragte
sich, wie sie ihr Motorrad zurückbekommen konnte, ohne sich von
Donny erpressen zu lassen.Vielleicht war es sogar einfacher, bei
der Arbeit Morphium zu stehlen. Und Grace fragte sich unsicher, ob
Matt Conner überleben oder sterben würde.