16
Am nächsten Tag hatten Grace, Joanne und Cherry sich zu einem frühen Abendessen um fünf Uhr bei Nigthtingales verabredet.
Grace und Cherry, die beide Nachtschicht hatten, trugen bereits ihre blauen Uniformen. Sie kamen zuerst und setzten sich an den dunklen Holztisch beim Fenster. Es war die »Blaue Stunde«. Der Captain spielte mit Ed dem Fischer an der Theke Schach. Neben Ed saß Connie Wilberson, eine pensionierte Bibliothekarin, die dem Captain zum zigsten Mal mit ihrer Lehrerinnenstimme einen Vortrag darüber hielt, dass man die vom Aussterben bedrohte Lederschildkröte wieder in Turtle Island einführen müsse. Als die englischen Siedler Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hier ankamen (Connie erzählte diese Geschichte jedem Fremden, der in ihrer Nähe strandete), fielen ihnen als Erstes die zahlreichen Riesenschildkröten auf, die sich auf den Felsen sonnten. Es waren die größten Schildkröten der Welt. Sie wogen mehr als eine Tonne und wurden wegen ihres weichen Panzers Lederschildkröten genannt. Die Eingeborenen der Insel, die Siwanoy, lebten vorwiegend von Rehwild und Fisch, aber für die Engländer war das Schildkrötenfleisch eine Delikatesse. Daher betrachteten sie die zahlreichen Riesenreptilien als ein Geschenk des Himmels. Innerhalb von dreißig Jahren waren die Schildkröten völlig ausgerottet.
»Das ist unser Erbe«, sagte Connie, wenn sie vor Mores Lebensmittelladen Flugblätter verteilte, in denen die Stadt aufgerufen wurde, Gelder für ein Projekt zur Wiederansiedlung der Schildkröten zur Verfügung zu stellen. »Bringt die Schildkröten zurück!«
Die Nichte des Captains, Katie, eine stämmige, fleißige blonde Siebzehnjährige aus Westchester, brachte ihnen die Speisekarte und Wasser. Da Cherry und Grace arbeiten mussten, bestellten sie keinen Alkohol. Cherry schlug ihre Speisekarte nicht auf.
»Willst du denn nichts essen?«, fragte Grace.
»Weiß nicht«, erwiderte Cherry. Sie gähnte und bedeckte dabei geziert den Mund. »Ich glaube, ich bin eher müde als hungrig.«
»Du musst aber etwas essen«, meinte Grace. »Der Chowder hier ist doch köstlich. Auch der Fisch mit Pommes.«
»Oh, na gut«, meinte Cherry fröhlich und schlug die Speisekarte auf. »Vielleicht eine Kleinigkeit …«
Grace betrachtete ihre junge Wohngenossin und bemerkte etwas Neues in ihrem Gesicht - einen warmen, schimmernden Glanz, den Grace wahrnahm, aber nicht benennen konnte. Es war, als würde Cherry etwas verbergen, ein starkes Gefühl, etwas, was sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte und sie zum Strahlen brachte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Grace sie.
»Gut«, lächelte Cherry zurück. »Warum?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Grace, weil sie die andere nicht in Verlegenheit bringen wollte. Aber sie war neugierig. »Du siehst dieser Tage so hübsch aus. Gibt es etwas Neues in deinem Leben?«
Cherry wandte den Blick ab. »Ja, da ist etwas, was ich euch sagen wollte, aber es ist irgendwie … albern.« Sie wünschte sich Grace’ Unterstützung. Außerdem wollte sie ihr Glück mit jemandem teilen.
Grace erkannte, dass etwas Wichtiges in Cherry vorging, und konnte nur annehmen, dass ein Mann im Spiel war. »Du brauchst meinetwegen nicht verlegen zu sein«, sagte sie. »Mir kannst du alles sagen.«
Cherry zögerte und sagte dann leise: »Ich treffe mich mit jemandem.«
»Das ist doch großartig!«, rief Grace und hoffte, dass ihre Begeisterung echt klang, doch sie spürte ehrlich gesagt auch einen Stich Neid. »Wer ist es denn?«
»Es ist«, zögerte Cherry, »jemand, den du kennst.«
»Wirklich?« Grace ging blitzschnell in Gedanken die Männer durch, die sie beide kannten, aber ihr fiel niemand ein. »Wer ist es, Cherry?«
Schuldbewusst hob Cherry den Blick und sah Grace an, als erwartete sie deren Verurteilung. »Es ist Rick«, sagte sie schließlich.
»Wer?«, fragte Grace verwirrt. Dann fiel es ihr ein. »Du meinst … Nash?«
»Weißt du noch, als ich sagte, ich würde mich mit meiner Tante treffen?«, sagte Cherry rasch. »Das war gelogen, denn ich schämte mich zu sehr, es dir zu sagen.« Mit flehendem Blick warb sie um Grace’ Verständnis. »Ich weiß, dass du es nicht gut findest, wenn man mit Ärzten ausgeht, und ich weiß auch, was du über Rick denkst …«
»Cherry, sag das bitte nicht. Ich kenne Rick nicht einmal. Und du solltest dich nicht schämen, mir etwas zu erzählen.«
»Also, wir haben uns erst ein paarmal getroffen«, sagte Cherry und mied wieder Grace’ Blick, »und ich habe keine Ahnung, ob es hält oder ob ich ihn überhaupt mag, aber er hat mich um eine Verabredung gebeten, und ich wollte es nicht geheim halten.«
»Das brauchst du auch nicht«, erwiderte Grace mit einer Großzügigkeit, die sie nicht völlig so empfand. In Wirklichkeit war sie ein wenig schockiert. Sie hatte professionelle Einwände gegen Rick, aber abgesehen davon war sie erstaunt, dass er sich mit einem so jungen und unerfahrenen Ding verabredete, wo ihm doch alle Frauen zu Füßen lagen. Doch warum überraschte sie das? Rick war ein Typ, der immer in Kontrolle sein musste. Das verlangte sein Selbstbewusstsein.
Grace entschloss sich, Cherry nicht zu entmutigen. Die Verantwortung wollte sie nicht auf sich nehmen. Und vielleicht passten Rick und Cherry ja sogar ausgesprochen gut zusammen. Wer konnte das schon beurteilen? Sie mischte sich schon genug in Joannes Beziehungen ein und versuchte dauernd, ihr Donny auszureden. Ihr war klar, dass man sie als Spielverderberin betrachtete, die es nicht zuließ, dass irgendjemand in ihrer Nähe eine gute Beziehung hatte.
»Er hat wirklich gute Eigenschaften«, sagte Cherry. »Jedenfalls ist er bisher sehr nett zu mir gewesen.« Nachdem sie ihr Geständnis einmal abgelegt hatte, konnte sie mit ihren Gefühlen kaum hinterm Berg halten, aber auch nicht mit ihren Ängsten. »Ich mag ihn sehr, Grace, ich glaube nicht, dass ich jemals solche Gefühle für einen Mann hatte.«
»Das ist doch großartig«, antwortete Grace zärtlich. »Ich will ja nur, dass du glücklich wirst. Das solltest du wissen.«
»Das weiß ich.«
Aber Grace war irgenwie unbehaglich zumute. Hoffentlich war es keine Eifersucht, doch das glaubte sie nicht. Sie hatte noch nie jemandem sein Glück geneidet, auch wenn sie selbst unglücklich war, nein, es lag wohl an Rick. Er war zu alt für Cherry, zu ehrgeizig, zu egoistisch. Sie traute ihm nicht. Auch glaubte sie nicht, dass Cherry bei ihm jemals gleichberechtigt sein würde.
Da wurde die Tür geöffnet, und Joanne trat ein.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte sie. Sie trug immer noch die hellblaue Uniform. »Bin momentan ohne Räder.«
»Meinst du dein Motorrad?«, fragte Grace.
Joanne zuckte die Achseln. »Donny hat es sich ausgeliehen. « Natürlich konnte sie ihnen nicht die ganze Geschichte erzählen - dass sie Donny versprochen hatte, für ihn aus dem Krankenhaus Morphium zu stehlen, wie sie in letzter Minute gekniffen und, um es wiedergutzumachen, ihm ihre geliebte Suzi geliehen hatte. Als sie ihn heute anrief, um das Motorrad abzuholen, hatte er gesagt, sie bekäme es nur zurück, wenn sie ihm die Drogen besorgte. Er hatte Suzi als Geisel genommen.
»Donny, eh?«, meinte Grace sarkastisch und drückte damit ihre Ablehnung aus, die sie bei Cherry unterdrückt hatte.
Doch Joanne war dazu nicht in der Stimmung. »Eine Vorhaltung ist jetzt das Letzte, was ich brauche«, sagte sie. »Okay?«
»Ich mache dir keine Vorhaltungen«, erwiderte Grace und spürte, wie ihr innerlich heiß wurde. »Glaub mir.« Dann schaltete sie rasch um. »Wie war die Schicht heute? Geht es immer noch wild her?«
»Du meinst wegen Matt?«, fragte Joanne und versuchte lässig zu klingen, weil sie eigentlich Grace immer auf ihrer Seite haben wollte. »So schlecht war es nicht. Aber mit Kathy und diesem Freak Lavender konnte ich nicht einmal vorbeischauen und einen Blick auf ihn werfen. Was bedeutet, dass ich für die letzten Neuigkeiten auf dich angewiesen bin.«
»Es gibt nichts Neues«, sagte Grace, fühlte sich aber, als müsste sie statt einer Entschuldigung mehr sagen. »Ich versuche mir die Zeit zu vertreiben, indem ich mit ihm rede. Wenn er aus dem Koma kommt, kennt er meine gesamte Lebensgeschichte. Falls er sie irgendwie mitbekommt.«
»Hast du ihm schon gesagt, was für ein guter Zuhörer er ist?«, fragte Joanne. Cherry lachte.
»Nein«, erwiderte Grace, »aber ich habe ihm gesagt, was für ein Idiot er ist, Stunts ohne Sturzhelm zu machen.«
»Du trampelst also auf Leuten herum, die schon auf dem Boden liegen?«
»Weiß ich«, antwortete Grace. »Das hätte ich vielleicht besser gelassen.«
Joanne winkte ab. »Ich mache bloß Spaß.«
»Der kann froh sein, dich zu haben«, sagte Cherry. »Du bist die beste Schwester der ganzen Station. Daher haben sie dich dafür ausgesucht.«
»Bitte …!«, sagte Grace, der Lob immer peinlich war. »Joanne ist genauso gut wie ich.«
»Und hat noch ein bisschen mehr zu bieten«, meinte Joanne und wackelte mit ihrem Busen. Alle lachten.
Dann kam Katie, um ihre Bestellung aufzunehmen. Cherry wollte Fisch und Pommes, Grace den Salat und Joanne den Chowder und ein Glas Guinness.
Als Katie gegangen war, legte Grace Cherry einen Arm um die Schultern und sah Joanne an. »Kurz bevor du kamst«, sagte sie, »hat Cherry mir etwas sehr Aufregendes gebeichtet.«
»Schieß los!«, meinte Joanne und rückte näher zu ihnen.
Cherry lächelte Grace dankbar an, nicht nur, weil sie am liebsten der ganzen Welt von Rick erzählen wollte, sondern auch, weil Grace trotz ihrer Zweifel auf ihrer Seite stand.
»Okay«, meinte sie, »ich verrate es euch, aber bitte niemandem weitersagen, okay?«
»Ich klatsche nie«, versprach Joanne.
»Ich habe mit Rick Nash geschlafen.«
»Was?«, riefen Grace und Joanne wie aus einem Mund. Grace war nicht klar gewesen, dass Cherry mit Nash geschlafen hatte. Es war ihr eigentlich nie in den Sinn gekommen, dass Cherry überhaupt mit jemandem schlafen würde.
»Du hast Rick Nash gefickt?«, flüsterte Joanne vernehmlich. »Wann? Wie? Wo?«
»Nur einmal«, meinte Cherry und errötete bis an die Ohren. Sie bedauerte bereits, es weitererzählt zu haben, auch wenn sie sich ziemlich erleichtert fühlte.
»Unser Pfirsich aus Georgia ist angebissen worden«, sagte Joanne. »Heiliger Scheißdreck!«
Zuerst dachte Cherry, dass Joanne das wörtlich meinte, denn Rick hatte in der Tat Bissspuren auf ihrem Bauch hinterlassen. Wieder errötete sie.
Grace sah, wie verlegen Cherry war, und sprang ihr bei. »Was ist denn sonst heute passiert?«, fragte sie Joanne. »Hatte Mr. Conner Besucher?«
»Nein, heute nicht«, antwortete Joanne. »Nur seinen Vater. Oh, ja, und Farren Thrush, die eine Sonnenbrille trug wie Jackie O. bei John F’s Beerdigung. Shit!«
»Hast du mit ihr geredet?«, fragte Cherry, die dieses intime Gespräch über Filmstars sehr genoss, weil es so gut zu ihrer Romanze mit Rick passte. Sie fühlte sich Spitze.
»Ich habe sie begrüßt«, antwortete Joanne. »Aber es war keine Zeit für eine richtige Unterhaltung. Sie war zwei Stunden in Matts Zimmer.«
»Ehrlich?«, fragte Grace.
Joanne wandte den Blick nicht von Cherry. »Du hast also tatsächlich mit dem tollsten Hengst des gesamten Krankenhauses geschlafen? Das ist aber was!«
»Äh …«, meinte Cherry bloß kichernd. »Ich habe schon viel zu viel erzählt.«
»Quatsch«, sagte Joanne. »Ist er groß oder klein? Ich habe ihn mir immer klein vorgestellt.«
»Joanne!«, ermahnte Grace.
»Was denn?«, gab Joanne zurück. »Wir sind doch befreundet. Neugier ist etwas Positives.«
»Sagen wir einfach«, meinte Cherry scheu, »dass ich mich über nichts zu beklagen habe.«
Dann kam Katie mit Joannes Bier, und die Unterhaltung wendete sich, gesteuert von Grace, anderen Dingen zu: die anstehenden Reparaturen im Haus, Lebensmittel, die ausgegangen waren, und das andauernde Lärmproblem vom Segelclub, wenn die Mitglieder jeden Abend bei Sonnenuntergang eine Kanone abfeuerten und die Nationalhymne spielten.
Diese Unterhaltung wurde unterbrochen, als das Essen gebracht wurde. Während der Mahlzeit dachte jede der Frauen an unterschiedliche Dinge. Cherry überlegte, wie sie heute Nacht in der Pause Rick in seiner Wohnung besuchen könnte. Joanne fragte sich, wie sie ihr Motorrad zurückbekommen konnte, ohne sich von Donny erpressen zu lassen.Vielleicht war es sogar einfacher, bei der Arbeit Morphium zu stehlen. Und Grace fragte sich unsicher, ob Matt Conner überleben oder sterben würde.
Schicksalspfad Roman
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