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Die letzte Stunde ihrer
Schicht verbrachte Grace im Gespräch mit Anders, einem Pfleger aus
Schweden, über dessen Eheprobleme. Anders vermutete, dass seine
Frau eine Affäre hatte. Grace war zu müde, um sich weiter darauf
einzulassen, und riet ihm, nicht irgendwelche voreiligen Schlüsse
zu ziehen. Um acht holte sie ihre Tasche aus dem Schrank und ging
hinaus. Sie wollte im Deli an der Ecke noch einen Kaffee trinken,
ehe sie sich auf die lange U-Bahn-Fahrt nach Hause machte.
Als sie am Bordstein stand, um die Straße zu
überqueren, hörte sie hinter sich ein lautes Brummen. Sie drehte
sich um und sah zu ihrer Überraschung Joanne hinter
sich auf ihrem großen, dröhnenden Motorrad. Ihre dunklen Haare
quollen unter dem Helm hervor. Mit weit ausgebreiteten nackten
Armen umklammerte sie fest die Lenkstange.
»He, Sexy«, rief sie laut, um das Motorgeräusch
zu übertönen. »Willst du aufsteigen?«
»Was machst du denn hier?«, fragte Grace.
»Arbeitest du nicht?« Aber Joanne war nicht in Uniform. Sie trug
ihre engste Jeans und ein Top, das jede Menge von ihrem Busen
zeigte. Ehrlich gesagt hatte Grace Joanne immer ein wenig um deren
Busen beneidet. Zumindest hatte sie sich zuweilen gefragt, wie man
sich damit fühlte.
»Ich habe eine unglaubliche Nacht hinter mir«,
rief Joanne. »Komm schon, ich erzähle dir auf dem Heimweg
alles.«
Grace zögerte. »Hast du getrunken?«, fragte
sie.
»Ein Bier«, erwiderte Joanne, »und zwar schon
vor Stunden.«
Grace glaubte es - Joanne wirkte nüchtern -,
aber das beruhigte sie kaum.
»Ich habe keinen Helm«, sagte sie.
»Hier«, erwiderte Joanne, nahm den eigenen Helm
ab und reichte ihn Grace. »Komm schon. Es ist in Ordnung.«
Grace hielt den Helm in der Hand, als wüsste sie
nicht genau, was sie damit anfangen sollte. »Aber du kannst doch
nicht ohne Helm fahren«, sagte sie. »Das geht überhaupt
nicht.«
»Es sind doch bloß ein paar Meilen. Wie bin ich
denn wohl vor drei Jahren in Griechenland herumgekurvt? Oder davor
in Italien? Ich habe doch einen Beschützer.«
Grace warf ihr einen knappen Blick zu. »Wen
denn? Etwa den heiligen Antonius?«
»Mach mir Tony ja nicht schlecht. Er hat sich
immer schon gut um mich gekümmert.«
Grace war nicht sehr überzeugt, aber es hatte
etwas sehr Verführerisches, sich auf die Maschine zu setzen und die
Kontrolle abzugeben. Es verlockte sie, diese Chance, sich an eine
Grenze vorzuwagen. Doch wenn sie damit gerechnet hätte, einen
Unfall zu haben, wäre sie nie aufgestiegen. Die Erschöpfung nach
der langen Nachtschicht spielte allerdings bei ihrer Entscheidung,
das Risiko einzugehen, eine Rolle. Sie war einfach zu müde, um die
U-Bahn bis zur Endstation zu nehmen, um dann noch in einen Bus zu
steigen. Sie hatte auch ziemliches Vertrauen in Joannes Fahrkünste
- ob sie nun von einem Heiligen beschützt wurde oder nicht. Joanne
schien irgendwie unverletzlich. Sie war wie Mr. Magoo, der
tagtäglich nur um ein Haar irgendeiner Katastrophe auswich. Sie war
Mr. Magoo auf Speed.
»Okay«, sagte Grace, setzte den Helm auf und war
plötzlich nicht mehr müde. »Fahr nur nicht zu schnell.«
Dann stieg sie auf und schlang die Hände um
Joannes Taille. Mit einem lauten Aufbrummen fuhren sie an und
beschleunigten auf der First Avenue zu einem beängstigenden Tempo.
Joanne hatte die grüne Welle erwischt. Grace versuchte, sich zu
entspannen und die kühle Morgenluft zu genießen, während die Welt
an ihr vorbeiflog: Schaufenster, Menschen, die Hunde ausführten,
gelbe Taxis, offene Türen und gut gekleidete East-Side-Damen
unterwegs zu ihrem Schönheitsalon. Mit den großen Sonnenbrillen
wirkten sie wie Riesenkäfer.
»Du rätst nie, wer auf der Party war«, brüllte
Joanne gegen den Wind. »Rate mal.«
»Keine Ahnung.«
»Matt Conner und Farren Thrush.«
»Ehrlich?«, rief Grace. Der Wind pfiff in ihrem
Helm und peitschte ihre Haare. Sie kannte die Namen zwar, konnte
sich aber die Gesichter dazu nicht vorstellen.
»Alles nur wegen Donny«, fuhr Joanne fort. »Er
schneidet Farren die Haare. Sie ist eine richtige Zicke, falls dich
das interessiert.«
Hör auf zu reden und
konzentrier dich aufs Fahren, hätte Grace am liebsten gesagt,
doch sie wusste auch, dass Joannes Konzentration beim Reden immer
noch schärfer wurde. »War sie vielleicht unhöflich zu dir?«, wollte
sie wissen. »Ist das nicht die Schauspielerin?«
»Farren? Eine Schauspielerin?«, fragte Joanne.
»Nun, wenn deine Vorstellung von Schauspielerei ist, bloß mit
halboffenem Mund dazusitzen wie blöd und ab und zu die Haare
zurückzuwerfen.«
»Was hat sie dir denn angetan?«
»Also, Donny hat uns erst mal einander
vorgestellt, und sie hat mich völlig unecht angelächelt. Im
nächsten Moment blickt sie sich um, ob jemand Wichtiges in der Nähe
ist, mit dem sie ins Bett gehen kann. Jeder weiß doch, dass sie so
ihre Rollen bekommt. Und als Donny und ich gingen …«
»Du bist mit Donny gegangen?«, fragte Grace
entsetzt. Sie war Donny nur einmal begegnet, an dem Tag im letzten
Sommer, als Joanne einzog, aber sie hatte genug von seiner
Fremdgeherei und Schlaucherei gehört (Joanne hatte ihm das Geld
geliehen, um den Salon aufzumachen),
um eine ziemlich schlechte Meinung von ihm zu haben. Grace fand,
dass man Joanne die Beziehung zu Donny ausreden musste.
»Ich bin nicht mit ihm nach Hause gegangen«,
empörte Joanne sich, als wäre ihr das niemals in den Sinn gekommen.
»Wir haben bloß eine Pizza zusammen gegessen, und dann ist er
heimgegangen - er wollte nicht mal, dass ich ihn nach Hause bringe.
Jedenfalls, als wir beide die Party verließen, wollte Donny sich
von Farren verabschieden. Offensichtlich hatte sie inzwischen ein
paar gekippt, denn sie starrte mir bloß auf den Busen und sagte:
»Guter Job. Sieht ziemlich echt aus.« Weißt du, völlig sarkastisch,
so, als würde mein Busen nie im Leben echt wirken. Das ist wohl das
Blödeste, was mir jemals einer gesagt hat. Also habe ich
geantwortet: »Glaub mir, wenn du denkst, ich würde tatsächlich
jemanden dafür bezahlen, dass ich ständig dieses Gewicht mit mir
herumschleppe und Kreuzschmerzen kriege und damit Schlampen und
Pervis mich dauernd anstarren, dann bist du noch viel blöder, als
du aussiehst, mein Schatz.«
»Sie klingt ziemlich schwierig«, meinte Grace,
doch sie hatte ihre Zweifel, ob Joanne tatsächlich so reagiert
hatte. Joanne übertrieb gerne ein bisschen.
»Sie hat nicht einmal Talent«, fuhr Joanne fort.
»Sie verdient es nicht, auf derselben Leinwand mit Matt Conner
aufzutauchen. Der kann immerhin gut spielen, nicht, dass er es
nötig hätte. Der braucht einfach nur sein Hemd auszuziehen. Mann,
ist der heiß! Hast du jemals Miss Luzifer
gesehen?«
»Nein«, erwiderte Grace. »Ich habe noch keinen
seiner Filme gesehen.«
»Du hättest mal sehen sollen, wie eifersüchtig
Donny wurde, weil ich so auf Matt abfuhr. Er sagte ständig Dinge
wie: Der Junge ist doch eine Niete. Ich finde
Brando viel besser. Und de Niro, nicht so einen Homo mit
Cowboyhut.«
Grace lachte. Joanne konnte gut andere Leute
nachahmen.
»Und dann machte Matt einen Flip rückwärts von
der Tischkante - völlig verrückt. Dann kam Farren zu uns und
begann, mit Donny zu flirten: ›Oh, Donny, findest du, ich sollte
mir den Busen machen lassen?‹ Ich hab sie bloß böse angestarrt, da
hat sie sich verzogen.«
Auf dem Bruckner-Expressway in Richtung Norden
spürte Grace die ungeheure Schubkraft der Maschine, weil Joanne nun
voll aufdrehte. Mit einem leisen Aufschrei klammerte sie sich enger
an die Fahrerin. Hinter ihnen glitzerte und dampfte Manhattan wie
ein prächtiges Kriegsschiff: alle Kanonen gen Himmel
gerichtet.
Das Haus hatte ihren Großeltern väterlicherseits
gehört. Großpapa Jim war Feuerwehrhauptmann in New York gewesen und
hatte in seinen letzten Jahren gerne Enten gemalt. Er starb, als
Grace noch im College war. Großmama Alice hatte als
Krankenschwester am St. Vincent gearbeitet, als man dabei noch
weiße Häubchen und Kleider trug. Sie war vor sechs Jahren gestorben
und hatte das Haus und den meisten Inhalt ihrer unverheirateten
Enkelin vererbt, die nur eine Mietwohnung hatte. Das war ein fast
demütigend großzügiger Akt gewesen, den Grace nicht zu verdienen
glaubte, doch das hinderte sie nicht daran, ihre Schuhschachtel von
einem Apartment in Gramercy schleunigst zu verlassen. Sie hatte
sich immer
schon ihr eigenes Haus gewünscht, und das hier war besser, als sie
es sich jemals hätte leisten können. Es war mit Zedernholzschindeln
verkleidet und rechteckig, mit einem flachen, überhängenden Dach.
Es war hell und luftig und stand direkt am Ufer auf drei Meter
hohen Pfählen gegen Überschwemmungen. Es hatte auf allen Seiten
Fenster und eine Holzveranda über die gesamte Länge zum Wasser hin.
Grace hatte nur gute Erinnerungen an das Haus - an jene
sommerlichen Tage, wenn sie mit ihren Eltern von New Jersey
herübergekommen und mit Dad und Großpapa Boot gefahren war. Sie
hatte eine knappe Schwimmweste getragen, die Männer hatte sich über
Sport unterhalten und wo sie überall angeln wollten. An den Tagen,
an denen Pa und Großpapa nicht fischen gingen oder mit leeren
Eimern nach Hause kamen, schlemmte die Familie in einem der
Fischrestaurants gebratene Muscheln und Fisch. Großpapa trank dann
gerne ein Budweiser zu viel und erzählte seine alten
Feuerwehrwitze. »Hey, Gracie, weißt du, warum bei der Feuerwehr
immer ein Dalmatiner im Wagen mitfährt? Damit sie auch den
Hydranten finden.« »Oh, Jim«, sagte Großmama Alice dann, »wir
wollen doch beim Essen nicht an Hunde denken, die an einen
Hydranten pinkeln«, und alle lachten. Grace liebte ihre Großeltern,
aber immer wenn sie an diese Sommer dachte, erinnerte sie sich am
deutlichsten an das Haus - an die luftigen, hellen Räume mit dem
kühlen Holzboden, an die Veranda mit dem fernen Blick auf
Manhattan.
Als Grace und Joanne vor dem Haus vorfuhren, saß
Cherry mitten auf der breiten Holztreppe vor der Eingangstür.
Sie trug einen flauschigen weißen Bademantel und lackierte sich
die Zehennägel. Cherry blickte ihre Wohngenossinnen überrascht an,
weil sie zusammen ankamen. Joanne stellte den Motor ab.
»Scheint ja eine tolle Party gewesen zu sein«,
rief sie ihnen von der Treppe aus zu.
»Du wirst es kaum glauben«, erwiderte Joanne und
schwang sich vom Sattel. »Du hättest mitkommen sollen.«
Grace zerrte sich den Helm vom Kopf und stieg
langsam ab. Ihre Hüften schmerzten.
»Nochmal danke schön, Grace«, sagte Cherry. »Ich
hoffe, es war nicht allzu schlimm.«
Grace war nicht zu Nettigkeiten aufgelegt. Zum
einen hatte Joanne sie auf dem Bruckner Expressway fast umgebracht,
als sie immer wieder nach rechts und links blickte, um andere Wagen
zu betrachten. Ein zweiundachtziger BMW! Hast
du den gesehen? Mein Onkel Jimmy hatte mal so einen … Und dann
die Beinahe-Katastrophe mit Mr. Ho. Außerdem war sie
hundemüde.
»Ein Kinderspiel«, rief sie fröhlich. Ganz egal,
wie verärgert oder wütend Grace auch war, Cherry gegenüber klang
ihre Stimme stets fröhlich.
»Ich kann es kaum glauben, dass ich noch zwei
Monate Nachtschicht machen muss«, sagte Cherry. »Ich fühle mich,
als hätte ich die ganze Zeit Jetlag.«
»Ist das mein Nagellack?«, fragte Joanne, als
sie die Treppe hinaufstieg. »Bronzebaby?«
»Ja«, sagte Cherry und hob das Fläschchen auf,
um das Etikett zu lesen.
»Der hat fünfzig Dollar gekostet!«, stöhnte
Joanne und
schritt an ihr vorbei. »Habe ich von Douglas. Nein, ich mache Blödsinn, kommt von
Aldi, für zwei neunundneunzig.«
»Ich kaufe dir einen neuen«, erwiderte Cherry
besorgt. »Entschuldige.«
»Keine Sorge«, meint Joanne. »Er steht dir
sowieso viel besser. Möchte jemand Pfannkuchen?«
»Nein, danke«, sagte Grace.
»Kann nicht«, erwiderte Cherry. »Ich treffe mich
mit meiner Tante zum Frühstück. Danke jedenfalls.«
»Rat mal, wen ich gestern Abend getroffen habe«,
sagte Joanne kurz vor der Tür.
»Wen?«, fragt Cherry.
»Lass mich erst pinkeln gehen«, antwortet
Joanne. »Verrat es ihr nicht, Grace.« Joanne verschwand im
Haus.
»Wo triffst du denn deine Tante?«, fragte Grace
Cherry.
»In ihrem Hotel«, erwiderte Cherry und befasste
sich wieder mit ihren Zehennägeln. »Habe ich bei der Arbeit etwas
verpasst? Irgendwas Gutes?«
»Nein«, antwortete Grace, »außer dass Rick Nash
seinen Ruf als Superarschloch mal wieder bestätigt hat.«
Cherry blickte hoch. »Was ist denn
passiert?«
Grace betrachtete Cherry. Sie wirkte so frisch
und jung in ihrem weißen Frotteebademantel, so kühl, ausgeruht und
sehr jung.
»Erinnerst du dich an Mr. Ho?«, fagte Grace. Sie
trat auf die erste Stufe.
»Oh, der Süße«, meinte Cherry besorgt. »Ist er
in Ordnung?«
Grace blieb auf der zweiten Stufe stehen und sah
Cherry mit ihrem ernstesten Blick professioneller Enttäuschung
an, wie sehr die Maßstäbe in der Medizin gesunken seien. »Ja, er
ist okay, aber der Ärmste ist fast gestorben, und warum? Weil Nash
nicht rüberkommen und seinen Herzkatheter herausnehmen wollte, was
ja, wie wir alle wissen, seine Aufgabe gewesen wäre. Stattdessen
hat er es mir überlassen, und ich hatte das noch nie vorher
gemacht. Natürlich war es ein totales Fiasko. Er hat furchtbar
geblutet. Ich dachte, es würde nie wieder aufhören.
Glücklicherweise stoppte es dann.«
»Wie furchtbar«, sagte Cherry. »Man sollte nie
gezwungen werden, die Arbeit von anderen zu tun.«
»Gewöhn dich besser daran«, meinte Grace
erschöpft und ging weiter die Stufen hoch. »Da wir ja keine
Gewerkschaft haben.« Sie seufzte tief, um sich zu erleichtern. »Ich
glaube, ich dusche jetzt und lege mich hin.«
Als sie ins Bett schlüpfte, hörte sie Cherry und
Joanne in der Küche reden. Besser gesagt, man hörte Joanne reden,
die Cherry die Geschichte von Matt Conner berichtete. Nur stürzte
in dieser Version Joanne mit Matt Conner und Farren auf einem Sofa
Tequilas hinunter. Matt Connor schlug einen Dreier vor, während er
in der Geschichte, die sie Grace erzählt hatte, lediglich vom Tisch
gesprungen war. Das Seltsame war, dass Joanne dieser Unterschied
überhaupt nicht bewusst war, auch nicht, dass Cherry sich
anschließend mit Grace darüber unterhalten könnte. Grace hatte
etwas dagegen, möglicherweise Joannes wilde Fantasien bestätigen zu
müssen. Doch Cherry war echt neugierig auf Joannes Geschichten, so,
als wäre ihr die Wahrheit eigentlich egal, wenn sie nur vom Leben
der Promis hörte. Diese Abmachung schien beiden gut zu
passen.