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Grace Cameron saß am
Küchentisch vor einer halben rosa Grapefruit und einer Scheibe
Vollkorntoast. Sie sollte joggen gehen, dachte sie, denn sie hatte
sich schon sollte joggen gehen, dachte sie, denn sie hatte sich
schon seit einer Woche nicht mehr richtig bewegt. Normalerweise
lief sie früh am Morgen und überquerte die Insel auf den noch
leeren Straßen, bis sie den offenen, silbrigen Long Island Sound
vor sich sah, der in der aufgehende Sonne glitzerte. Aber
vielleicht verschob sie ihren Morgenlauf um einen weiteren Tag und
fuhr in die Stadt zum Mittagessen. Für Grace bedeutete ein langes
Mittagsmahl unter der Woche, bei schönem Wetter am liebsten im
Freien, das Höchste an Urlaubslaune. Es gab ihr ein Gefühl, sich
auf bescheidene, aber höchst zivilisierte Art zu verwöhnen. Ein
Salat, ein Glas Wein, ein Teller Penne arrabiata - dem natürlich
ein Gang zum Zeitungskiosk vorausgegangen war, wo sie ein
Fitnessmagazin erstand, oder, wenn sie sich besonders kultiviert
fühlte, den New York Observer, da sie bei
rosa Zeitungen immer an Italien dachte oder an die Wall Street,
zwei Orte, die ihr gleichermaßen fremd waren.
In den guten alten Tagen hatte sie oft ihren
Mann Gary zum Mittagessen bei Bruno in der
Sullivan Street getroffen. Sie hatte ihm zugehört, wenn er über
Universitätspolitik oder je nach Laune über die Brillanz oder die
Dummheit seiner Studenten redete. Gary unterrichtete
Englisch und Essayistik an der University of New York und glaubte
mit seinem ganzen vierzigjährigen Herzen, dass für den
Zusammenbruch der westlichen Zivilisation die Unfähigkeit der
Studenten verantwortlich sei, grammatikalisch eindeutige Sätze zu
konstruieren. Nach dem Lunch kehrte Gary dann auf den Campus
zurück, um die Nachmittagsvorlesungen zu halten, während Grace
durch das Viertel schlenderte, die Auslagen in den Modegeschäften
betrachtete und sich wünschte, mehr Geld zu haben.
»Morgen«, rief Cherry, die in einem übergroßen
Universitäts-T-Shirt in die Küche stürmte. »Du findest es sicher
toll, dass ich zum ersten Mal von der Arbeit geträumt habe.«
»Habe ich dir doch gleich gesagt«, erwiderte
Grace und bestrich ihren Toast mit kalorienarmem Frischkäse.
Cherry Bordeaux war eine niedliche, sportliche
Blondine, ein Typ, der von anderen Leuten immer aufgezogen wird,
weil sie blond und niedlich sind. Sie stammte aus einer Stadt
hunderte Meilen von Atlanta entfernt und sah immer noch landfrisch
aus, auch wenn sie schon fünf Monate lang in New York lebte. Sie
strahlte eine rosige Frische aus, die die Stadt noch nicht hatte
welken lassen. Es schien sogar durchaus möglich, dass Cherry
niemals vom Stadtleben abgestumpft würde. Sie war ein richtiger
Sonnenschein.
»Hunger?«, zwitscherte Cherry, während sie eine
Bratpfanne vom Haken nahm.
Grace hatte eine Schwäche für Cherrys
Frühstücks-Extravaganzen: Eier, Brot, Champignons, Maisgrütze,
Süßkartoffelpuffer. »Eigentlich sollte ich ja nicht …«,
meinte sie mit einem belustigten Stirnrunzeln. Mit Cherry im Haus
war es nicht so einfach, fünf bis sieben Pfund abzunehmen. »Was
machst du denn?«
»Avocado-Pilz-Omeletts«, sagte Cherry, die vor
dem Kühlschrank hockte. »Du kannst es dir ja noch überlegen.«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, wie du dabei so
dünn bleiben kannst.«
»Oh, in meiner Familie werden die Frauen immer
erst nach der Hochzeit fett.«
Grace lachte. Sie wusste, dass Cherry ihre
Kochkünste ganz bewusst entwickelte. Sie las Kochbücher, sah
Kochshows im Fernsehen. Das diente alles einem einzigen Ziel: einen
Mann zu angeln und ihn zu heiraten. Und nicht bloß irgendeinen,
sondern einen faszinierenden, gut aussehenden, lustigen,
einfühlsamen, erfolgreichen, kultivierten Mann, dessen Liebe durch
den Magen ging. Grace hatte an dem Plan keinerlei Zweifel. Sie
wusste, wie hart Cherry arbeitete, da sie im Krankenhaus ihre
Mentorin gewesen war. Cherry war immer sehr zielstrebig.
»Oh, Grace«, begann Cherry und schlug ein Ei am
Rand der gelben Schüssel auf. »Ich wollte dich fragen … könntest du
vielleicht heute Abend für mich einspringen? Ich übernehme dann
Ende der Woche eine Schicht für dich.« Cherry drehte sich dabei zu
Grace um und sah sie mit ihren himmelblauen Augen an. »Ist in
Ordnung, wenn es nicht geht. Es ist bloß, dass meine verrückte
Tante Mimi morgen in die Stadt kommt und den Tag mit mir verbringen
will.«
Grace zögerte. Cherry hatte Nachtschicht. Alle
neuen
Krankenschwestern mussten die ersten sechs Monate lang nachts
arbeiten. Grace hasste Nachtschichten. Es störte ihren natürlichen
Rhythmus, machte ihren Stoffwechsel träge, so dass sie sich
aufgedunsen fühlte, es machte sie gereizt und ein Privatleben so
gut wie unmöglich. Es sei denn, man traf sich gerne mit Vampiren.
Die Nachtschicht war etwas für Neulinge - eigentlich ein langes,
trübes Ritual unter funzeligem Neonlicht. Wenn man zur Tagesschicht
aufstieg, war es, als würde man neu zu leben beginnen. Man wollte
nie wieder dorthin zurück.
Aber Cherry befand sich genau in dieser Phase,
und wie alle anderen Menschen brauchte sie die Sonne. Sie eine
Nacht lang zu entlasten wäre ein echter Gefallen, das wusste Grace
genau.
»Klar«, sagte sie und rief sich in Erinnerung,
dass die Nachtschicht schließlich viel ruhiger war als die Schicht
am Tag und weniger stressig. Es gab keine Besucher, die Patienten
schliefen gewöhnlich durch bis zum Morgen. Eine Nacht lang würde
sie das schaffen.
»Oh, danke!«, rief Cherry mit der ihr eigenen
überschwänglichen Herzlichkeit. »Ich bin dir so dankbar, Grace,
ehrlich!«
»Keine Ursache«, erwiderte Grace. »So was macht
man einfach füreinander.« Das meinte sie ehrlich.
Da wurde die Hintertür geöffnet. Joanne trat
ein. Ihre Arme und das weiße Hemd waren von Motoröl tiefschwarz
gestreift. Sie hatte den ganzen Morgen an ihrem Lieblingsbesitz
gearbeitet, einer glänzenden neuen Suzuki GSX, die am Fuß der
hölzernen Treppe auf dem Rasen geparkt war. Grace hatte keine
Ahnung, was Joanne
eigentlich an dem Ding machte, das sie sich vor Kurzem selbst zum
dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Sie nannte es »Suzi«, wie
einen niedlichen kleinen Terrier, und nicht wie eine Todesmaschine
mit hundertachtzig PS.
»Die Schmiere steht dir gut«, meinte Grace. Das
stimmte. Die Flecken in Joannes Gesicht passten ausgezeichnet zu
ihrem schwarzen, dicken sizilianischen Haar. Mit ihren kräftigen
Armen und dem geschlungenen Kopftuch sah sie aus wie eine Kreuzung
aus einem Mechaniker und einer Figur aus Cats.
»Habe ich einen Hunger!«, sagte Joanne. »Was
gibt’s zum Frühstück?« Sie blieb dicht hinter Cherry stehen. »Mmmm,
Miss Scarletts Delikatessen«, murmelte sie, ein Zitat aus »Vom
Winde verweht« wie so oft in Cherrys Gegenwart. »Das wird der Lady
gut schmecken!«
»Ich werde dich daran erinnern«, gab Cherry
zurück. Joanne ging zum Kühlschrank. »Vielleicht machen wir später
eine Spritztour«, sagte sie zu Grace. Sie nahm eine Diät-Cola
heraus, riss den Deckel auf, schluckte die halbe Dose hinunter und
stieß einen befriedigten Rülpser aus. »Mir schwebt ein Tag am
Strand vor.«
»Heute kann ich nicht«, sagte Grace, die ohnehin
nicht gerne an den Strand ging. »Ich übernehme Cherrys Schicht
heute Abend. Ich muss vorher schlafen.«
»Schlaf doch am Strand.«
»Vielleicht nächstes Wochenende.«
»Yeah, okay.«
»Nochmal Danke schön«, mischte Cherry sich ein.
»Ich kann doch Tante Mimi nicht enttäuschen.«
»Eigentlich freue ich mich darauf«, meinte
Grace.
»Man braucht sich dann nicht mit den Ärzten
herumzuschlagen.«
»Genau«, meinte Joanne. »Wisst ihr, was neulich
passiert ist? Nashs Patient hatte einen Kollaps, und er hat mir die
Schuld gegeben, weil ich das nicht vorher gemerkt hatte. War nicht
mal mein Patient.«
Cherry, die die Eier verschlug, hielt inne.
»Rick Nash?«, fragte sie. Rick Nash war der bestaussehende Arzt der
Intensivstation und ständiges Gesprächsthema unter den
Krankenschwestern. Ob er gut im Bett war? Mit was für Frauen ging
er aus?
»Jemand muss ihm mal die Meinung sagen«, warf
Grace ein. »Aber das traut sich keiner, weil wir wissen, dass die
Ärzte immer Recht haben.«
»So schlecht ist er nicht«, meinte Cherry vom
Herd her. »Er ist ein guter Arzt.«
»Fred ist ein guter
Arzt«, entgegnete Joanne. »Nash war vielleicht ein hohes Tier im
Cornell, aber er ist nicht in derselben Liga wie Freddie.«
Fred Hirsch war der Oberarzt der
Intensivstation.
»Fred ist wirklich ein Genie«, sagte Grace. »Das
muss man ihm lassen.«
»Yeah, und in dich verliebt«, antwortete Joanne.
»Wie alle anderen auf der Station.«
»Fred ist mir zu alt«, meinte Grace und
ignorierte den letzten Teil von Joannes Bemerkung. Niemand war in
sie verliebt. Joanne redete immer wieder davon.
»Fred ist doch erst zweiundsechzig«, meinte
Joanne. »Das ist heute so wie fünfundvierzig. Natürlich willst du
mit ihm keine Kinder haben. Altes Sperma. Nicht immer das
beste.«
»Glaub mir«, meinte Grace, »wenn ich keine
Kinder bekomme, was immer wahrscheinlicher wird, dann ist das nicht
das Ende der Welt.«
Diese Bemerkung stand jetzt so mitten im Raum,
weil sie irgendwie nicht glaubwürdig klang. Natürlich wäre es
wirklich nicht das Ende der Welt - da war sie schon mit Gary
angelangt -, aber manchmal spürte sie eine tiefe Sehnsucht nach
Mütterlichkeit. Wie das tiefe Dröhnen einer großen Trommel.
»Vermutlich meine ich damit«, fuhr Grace fort,
»dass, falls ich ein Baby haben sollte, ich es vermutlich allein
großziehen müsste.«
»Quatsch«, warf Joanne ein. »Geh doch ins
Internet, verdammt. Es gibt jede Menge Männer, die gerne eine
Familie gründen wollen. Und denk daran, dass Perfektion der Feind
von allem Guten ist. Wenn du auf den Richtigen warten willst, ist
es vielleicht zu spät.«
»Frühstück!«, zwitscherte Cherry betont
fröhlich. Sie hob ein Omelett aus der Pfanne und ließ es dampfend
auf einen Teller gleiten.
Grace setzte sich. »Ich glaube, dazu bin ich
noch nicht bereit«, sagte sie. Sie wünschte sich oft, dass Gary
seinen Samen hätte einfrieren lassen. Sie hatten das diskutiert,
aber dann war immer etwas anderes dazwischengekommen. Manchmal sah
sie ein Kind im Zug oder im Krankenhaus und dachte: So hätte unser Kind vielleicht ausgesehen.
Joanne setzte sich Grace gegenüber. »Ich sage ja
bloß, sei nicht überrascht, wenn Rick Nash sich mit dir verabreden
will. Mir ist aufgefallen, wie er dich immer ansieht.«
Cherry warf einen Blick zu Joanne. »Willst du
Käse auf deinem Omelett?«, fragte sie.
»Ja, reichlich«, antwortete Joanne. Dann fuhr
sie an Grace gewandt fort: »Denk an meine Worte.«
»Mach ja kein Theater«, sagte Grace mit gespielt
warnender Stimme zu Joanne.
»Ich und Theater?«, gab Joanne neckisch zurück.
»Wie meinst du das denn?«
Grace lachte. Joanne war eine berüchtigte
Schwatztante und Anstifterin, aber auch einer der warmherzigsten
Menschen, die sie kannte.
»Bitte schön«, sagte Cherry und stellte das
Omelett mit Messer und Gabel vor Joanne hin wie eine Ehefrau, die
zärtlich ihren Gatten umsorgt. »Guten Appetit!«
»Danke«, erwiderte Joanne und zog gierig den
Teller zu sich herüber. »Riecht wie ein Sonntag in Mayberry.« Mit
Schwung nahm sie das Besteck in die Hand.
Grace stand auf. »Okay, Mädels«, sagte sie. »Ich
glaube, ich gehe jetzt laufen. Habe es viel zu lange
hinausgezögert. Dann gehe ich wieder ins Bett. Ich kann mich kaum
an meine letzte Nachtschicht erinnern.«