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Als Grace an diesem Morgen nach Hause kam, war sie überrascht, weder Cherry noch Joanne anzutreffen. Vielleicht waren sie zusammen frühstücken gegangen, dachte Grace. Jedenfalls war sie froh, das Haus einmal für sich zu haben.
Sie zog Shorts und ein T-Shirt an, briet sich zwei Spiegeleier und nahm sie mit nach draußen auf die Veranda. Vom Meer her wehte eine frische Brise. Grace fragte sich, wie Joanne die Situation mit Matt Conner aufgenommen hatte, weil sie den Mann am Abend vor seinem Unfall noch gesehen hatte. Grace hatte im Krankenhaus keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen, weil es sehr hektisch zuging.Vermutlich würde sie später mit tausend Fragen bombardiert.
Grace blickte auf das ruhige, durchsichtige Wasser hinaus und fragte sich, ob Matt jemals wieder aufwachen würde. Sie hoffte auf eine Chance, sich mit ihm zu unterhalten. Sie war daran gewöhnt, mit ihren Patienten zu reden. Außerdem war sie neugierig. Wie war das auch zu verhindern? Die ganze Welt war neugierig auf ihn.
Grace aß ihre Eier und ging dann in Joannes Zimmer, um unter deren DVDs auf dem Regal über dem Fernseher nach einem von Matt Conners Filmen zu suchen. Wie konnte man den Mann sonst besser kennenlernen? Grace fand den einen Film, den Joanne erwähnt hatte, Miss Luzifer. Grace erinnerte sich, dass dieser Film vor ein paar Jahren ziemliches Aufsehen erregt hatte. Als sie die Diskette einlegte, redete sie sich ein, dass ihr Interesse an diesem Mann rein professioneller Natur war. Sie vertrat in der Medizin einen holistischen Ansatz, nach dem man die gesamte Person behandelte. Man musste seinen Patienten kennen.
Sie setzte sich vor den Fernseher auf den Boden und war in den nächsten neunzig Minuten völlig gebannt. In dem Film ging es um einen Typen, David Vincent, einen Frauenhelden, der viel trank und dessen Leben ihm langsam entglitt. Seine von ihm getrennt lebende Frau und die kleine Tochter redeten nicht mehr mit ihm; bei der Arbeit wurde er in dubiose Finanzgeschäfte verwickelt. Er betrank sich vor der Kirche und versuchte, die Pfarrerin zu schlagen. Und eines Abends, in einem Strip-Club, flirtete er mit einer schönen Frau am Nebentisch und geriet in einen Streit mit deren Freund, der David einen tödlichen Hieb auf die Nase versetzte. Dann wurde der Bildschirm dunkel, und David wachte an einem seltsamen Ort mit züngelnden Flammen und brodelnden Tümpeln wieder auf. Er war in der Hölle gelandet, ganz nackt. Im nächsten Augenblick begrüßte ihn der Teufel, aber zu seinem Glück war der Teufel eine Frau, eine sadistische alte Hexe - zum Glück von Julia Roberts gespielt. Sie hatte ein Herz aus Eis, das nicht einmal die Hölle zum Schmelzen bringen konnte, bis David ihr seine Geschichte erzählte - wie er einst glücklich verheiratet und ein anständiger Bürger gewesen war und sich eines Tages völlig unerklärlich in ein Ungeheuer verwandelte. Und die Teufelin verliebte sich in ihn und gestand nach ein paar harten Drinks in der Höllenbar, dass sie bei seinem moralischen Zusammenbruch ihre Finger im Spiel hatte. Sie erklärte ihm, dass sie ihre ganze Existenz lang immer schon Liebe hatte empfinden wollen. Liebe! Das einzige Gefühl, das der Allmächtige ihr verwehrt hatte. Daher hatte sie sämtliche Männer der Welt studiert und den sanften und lächerlich gut aussehenden Dave Vincent ausgesucht - ein Familienvater, ein Freiwilliger bei der Armenhilfe, ein beliebter Nachbar und Mitbürger -, um ihn als Liebhaber zu ergattern. Sie korrumpierte ihn mit Sex und Alkohol und sorgte für seinen frühen Tod. An diesem Punkt erkannte David, dass die Teufelin eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Frau in dem Strip-Club hatte. »Du hast mich umbringen lassen!«, brüllte er. Schockiert und wütend entkam David dem Teufelsnest und begann den langen Heimweg am Rand der Hölle entlang, wo er seinem Vater und seinem besten Freund von der Universität begegnete. Beide konnten es nicht fassen, dass der gute David tatsächlich in der Hölle gelandet war. Sie bemitleideten ihn aber nicht, als David erklärte, dass er seine Frau und seine Tochter vermisste. Doch die Teufelin hörte seine Klagen, suchte ihn und sah, wie unglücklich er war. Das machte sie sehr traurig, denn durch Davids Leiden erlebte sie die ersten Regungen eines Gewissens. Sie flehte ihn um sein Verständnis an und erzählte ihm die Geschichte, wie ungerecht sie selbst durch den Herrn behandelt worden sei. »Ich weigerte mich, mit ihm auszugehen«, erklärte sie unter Tränen, »da hat er mich aus dem Himmel geworfen.« David, der zutiefst empathisch war, hörte der Teufelin mitfühlend zu und versuchte sogar, die alte Hexe zu trösten. Die Teufelin staunte über die Fähigkeit dieses Mannes, mit anderen zu fühlen, und war von seiner Gutherzigkeit gerührt - von seinem perfekten Körper mal ganz zu schweigen -, dass sie zustimmte und ihn auf die Erde zurückschickte. Er wachte mit einer gebrochenen Nase auf dem Boden des Clubs auf. Alle standen um ihn herum. Er beharrte darauf, dass alles in Ordnung sei, und kämpfte sich durch die Menge zur Tür. Draußen wurde es langsam Morgen, die Nacht war zu Ende. Die Sonne ging auf, und jetzt blieb David nur noch eines: Er musste zu der Grundschule gehen, wo seine Frau als Englischlehrerin arbeitete. In der letzten Szene stürmte David mit blutigem Gesicht und heruntergekommenem Aussehen in den Klassenraum seiner Frau und verlangte, mit ihr zu reden. »Geh doch zum Teufel«, erwiderte sie. Die Kinder lachten über die beiden fluchenden Erwachsenen, doch dann hielt David die Rede seines Lebens. Er erklärte seine Liebe so echt und ehrlich, dass seine Frau wieder zu ihm zurückfand. Die Schulklasse applaudierte.
Trotz der absurden Geschichte fand Grace den Film unterhaltsam, wenn auch leicht sexistisch. Sie konnte sehen, warum Matt Conner so beliebt war. Er blieb in seiner Rolle im Grunde immer ein guter Mensch, auch wenn er sich wie ein völliges Arschloch benahm. Grace interessierte sich so sehr dafür, dass sie im Internet nach mehr Informationen über ihn suchte.
Es war eine sehr interessante Studie. Grace erfuhr vom Computer mehrere interessante Fakten über Matt Conner. Er trug nie Unterwäsche. Er aß gern in Fett ausgebackene Schokoriegel. Von einer Freundin hatte er sich durch seinen Pressesprecher getrennt. Er war gerne nackt. Er war in einen Streit in einer Bar um eine Countryand-Western-Sängerin namens Daisy May verwickelt. Er hatte beim Drehen von The Lives of Men einem Pferd an den Kopf getreten. Er hatte in seinem Heimatstaat Texas großzügig für die Tornado-Opfer gespendet. Er konnte unter Wasser sechs Minuten lang die Luft anhalten. Es gab Dutzende von Fan-Seiten voller Fotos, Filmclips, Fernsehauftritte und wilder sexueller Spekulationen. Grace verlor sich in diesem Gewirr aus Klatsch und versenkte sich so tief in die Einzelheiten von Matt Conners verwickeltem Privatleben - die Supermodels, die Sternchen, die Strafzettel für zu schnelles Fahren, die Verwüstungen von Hotelzimmern -, dass sie das wiederholte Klopfen an der Küchentür nicht wahrnahm. Sie wusste nicht, dass Donny gekommen war, um Joanne zu besuchen.
Schicksalspfad Roman
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