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Schon lange hatte Grace
vergessen, was sie früher an Silvester gemacht hatte. In den
Zwanzigern hatte sie sich oft damit amüsiert, bis zum elften
Lebensjahr zurückzuverfolgen, was sie an diesem Abend mit wem
unternommen hatte. Es war ein lustiges Spiel, eine
Gedächtnisprüfung, eine Art Lebenslinie. Mit elf hatte ihr Vater
die Familie nach New York gebracht, damit sie die Zeremonie auf dem
Times Square sehen konnten. Jetzt lag sie hier im Dunkeln in ihrem
Flanellpyjama und hoffte, dass ihr Kopf aufhören würde, sich zu
drehen. Von allen Silvesterabenden ihres Lebens war der beste und
kostbarste mit Gary vor vier Jahren gewesen.
Sie hatten nichts Besonderes gemacht, und es war
auch nicht sonderlich erinnerungswürdig, nur ein Essen mit
anschließenden Drinks in der Stadt. Grace hatte ein Kleid, die
Perlenohrringe und das Rubinhalsband getragen,
das Gary ihr geschenkt hatte. Sie hatten Austern gegessen und
Champagner getrunken und sich sogar etwas gestritten, aber an den
Grund konnte sie sich nicht mehr erinnern. Wie gut es mit ihm
gewesen war, wie schön sich mit ihm leben ließ. Jetzt erst begriff
sie den Unterschied zwischen der Solidität ihres echten Lebens und
dem flüchtigen Schatten, dem Katzengold, das Echo Falls gewesen
war. Sie zog das echte Dasein vor, auch wenn sie es nur einmal in
ihrem Leben erfahren hatte. Illusionen waren etwas für
Narren.
Dann sah sie draußen bunte Blitze und hörte ein
lautes Krachen vom Segelclub her. Anschließend tuteten sämtliche
Boote. Die Farben tanzten auf Grace’ Fensterscheibe wie auf einer
riesigen Kinoleinwand.
Ihre Freundinnen schienen begriffen zu haben,
wie wichtig es an einem solchen Abend der Illusionen war, praktisch
zu bleiben. Grace war besonders stolz auf Cherry, die die Illusion
des Abends als solche erkannt hatte: den Traum, am Silvesterabend
den Lebenspartner zu treffen. Stattdessen hatte sie sich für die
unvergleichlich befriedigendere Aufgabe entschieden, sich um Kranke
zu kümmern, genau wie Grace am Thanksgiving-Festtag und an
Weihnachten. Denn was war letztendlich lohnender und sinnvoller,
als weniger Begünstigte zu trösten? Cherry würde gerade Auld Lang Syne mit den Patienten singen, die wach
und gesund genug waren, um in die Halle gerollt zu werden. Dort
wurde ein bisschen gefeiert, und man sah auf dem Fernseher zu, wie
die große Uhr auf dem Times Square Mitternacht schlug. All diese
Patienten würden die strahlende Südstaatenschönheit Cherry in
Erinnerung behalten.
Joanne wusste inzwischen auch, dass sie sich
besser nicht in Träume verstrickte. Der Captain war ebenso echt und
verlässlich wie ein Baum. Grace wusste noch nicht, dass Joanne
entgegen ihrer Hoffnung keinen mitternächtlichen Kuss vom Captain
bekam. Entweder war er unwillig oder unfähig - oder beides -, seine
Zuneigung öffentlich zu zeigen, besonders vor Connie Wilberson, die
ihm mitten in einem Vortrag über die Paarungsgewohnheiten der
Seeschildkröten mitgeteilt hatte, dass sie, wenn sie dreißig Jahre
jünger wäre, sicher ein Auge auf ihn geworfen hätte. Als Eddie dem
Captain weitere Anträge von Connie ersparte, indem er sie auf die
Tanzfläche führte, als Billie Holliday »These Foolish Things« sang,
schlenderte der Captain zum Ende der Theke, wo Joanne vor einem
schal gewordenen Guinness saß. Sie hatte dem Captain in der
vergangenen Stunde mehrfach verstohlene Blicke zugeworfen. »Ich
schließe um zwei«, sagte er zu ihr. »Aber du kannst gern noch
bleiben. Ich habe eine Flasche Wein, die ich aufmachen möchte, ein
06er Kosta Browne Pinot Noir aus Kalifornien. Preisgekrönt.« Darauf
erwiderte Joanne, ja, das würde sie gerne, und lange nachdem Grace
in einen tiefen und seltsam beruhigenden Schlaf gefallen war,
tanzten der Captain und Joanne allein in der Bar vor der Jukebox.
Sie umarmten einander reglos, wie das letzte Paar nach einem
Tanzmarathon. Geküsst hatten sie sich noch nicht, auch nicht, als
Joanne um fünf Uhr morgens aus der Tür taumelte. Doch sie hatte das
Gefühl, dass sie mit dem Captain viel Spaß zu erwarten hatte. Hoag,
der nun alles sehr langsam anging, hatte sie für morgen zu einem
Trip zum Leuchtturm eingeladen.
Kurz nachdem Joanne in ihr Zimmer gepoltert und
unmittelbar darauf in einen alkoholgeschwängerten Tiefschlaf
gefallen war, wurde Grace durch ein Geräusch geweckt. Vor ihrem
Fenster breitete sich das erste Morgenlicht aus. Sie lauschte einen
Moment lang und vernahm durch die offene Tür das Schnarchen und
Keuchen von Joanne nebenan. Aber dann hörte sie wieder jenes andere
Geräusch. Irgendein Betrunkener spielte im Segelclub so etwas wie
ein Akkordeon, und zwar sehr schlecht.
Grace setzte sich auf und blickte aus dem
Fenster, das aufs Wasser ging. Da unten im Schilf saß jemand in
einem Ruderboot und hatte die Hände um eine Mundharmonika gelegt.
Grace blinzelte, um besser sehen zu können, und erkannte, dass der
Möchtegern-Troubadour in einem dunklen Mantel und Schal einen
Cowboyhut trug. Aufkeuchend schlug Grace die Hand vor den Mund. Sie
brachte kein Wort heraus, sondern schnappte sich nur ihre Decke und
rannte hinaus auf die Veranda, um besser sehen zu können.
»Grace!«, rief die Gestalt zu ihr herauf und
nahm mit einem ehrfürchtigen Schwung den Hut ab.
»Matt?«, fragte Grace mit einer Stimme, die vor
Staunen erstickt klang. Wie war er hergekommen? Woher wusste er, wo
sie wohnte?
»He«, rief er. »Hast du schon was zum Frühstück
vor?«
»Was machst du hier?«
»Bin nicht sicher«, rief er zurück. »Aber ich
wünsche dir ein glückliches neues Jahr.«
Grace musste lachen. Sie konnte es immer noch
nicht glauben. »Was ist denn mit deiner … Verlobten? Woher hast du
das Boot?«
»Ich habe letzte Woche die Leute vom Segelclub
angerufen. Ich habe ihnen gesagt, ich wollte die Frau überraschen,
die ich liebe, und mir ein Ruderboot ausleihen.«
»Die Frau, die du liebst?«, fragte Grace. Sie
fühlte sich wie in einem Nebel. Wie Matt, als er an jenem Tag im
Krankenhaus aufwachte und sah, wie sich ihre Gestalt aus dem Nebel
herauslöste.
»Ich hatte das schon eine Weile vor«, sagte
Matt. »Muss mir im Traum eingefallen sein. Die Wahrheit ist,
seitdem du Echo Falls verlassen hast, bin ich so traurig gewesen
wie ein zeckenkranker Hund.«
»Ein was?«
Matt ruderte das Boot dichter heran, bis er ans
schlammige Ufer stieß, nur wenige Meter von den Pfosten der Veranda
entfernt. Dann stieg er aus dem Boot und versank mit seinen
Stiefeln im kalten Schlamm. Er zog Handschuhe über und betrachtete
den Pfosten.
»Was hast du vor?«, fragte Grace. »Ist schon
eine Weile her, dass ich auf einen Baum geklettert bin«, erwiderte
er und umklammerte dann den Pfosten mit beiden Händen, grub die
Absätze in eine Kerbe im Holz und kletterte mit der Geschmeidigkeit
eines Zehnjährigen hoch. Oben umklammerte er den Holzboden der
Veranda, zog sich hoch und hielt sich an den Sprossen der
Balustrade fest wie ein Tier im Käfig. Mit einem weiteren Schwung
kletterte er über die Balustrade und stand einen Moment später vor
Grace. Schüchtern lächelte er sie von unter der Hutkrempe her an.
»Howdy, Grace.«
»Howdy, Matt«, sagte
Grace.
Dann nahm er den Hut mit dem Schwung eines
Cowboys
ab, der nach einem Tag harter Arbeit nach Hause kommt, und
umfasste Grace’ Schultern.
»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, sagte er.
»Ich hätte nie nach Kalifornien fahren sollen.«
»Doch, natürlich«, erwiderte Grace. »Wie sonst
hättest du es gemerkt?«
Matt dachte darüber nach. »Vermutlich musstest
du auch ein paar Dinge herausfinden, oder?«
Grace nickte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut. Ab und zu bekomme ich Kopfschmerzen, und
manchmal vergesse ich ein paar Wörter.« Er zuckte mit den Achseln
und lächelte tapfer. »Es gibt Schlimmeres.«
»Ja«, erwiderte Grace. »Genau.«
Dann starrten sie einander verwundert an, bis in
die Tiefen ihrer Seele. Matt trat auf sie zu. Grace regte sich
nicht, sondern schloss bloß die Augen. Als sie Matts Lippen sanft
wie eine Blüte auf ihrem Mund spürte, ließ sie sich fallen und
atmete tief seinen Duft ein. Sie drängte sich dichter an ihn. Ihre
Decke fiel zu Boden. Doch als sie die Hände um seinen Körper legte,
spürte sie die kalte Januarbrise nicht mehr. Nach einer vollen
Minute lösten sie sich voneinander und öffneten langsam die
Augen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Grace. Sie
hakte die Finger in seine Gürtelschlaufen.
»Danke, dass du hier warst«, sagte Matt.
Grace zog leicht an der Gürtelschlaufe. »Sollen
wir hineingehen und Kaffee machen?«
»Das wäre schön«, sagte Matt.
»Vergiss deinen Hut nicht.«
Matt grinste, hob seinen Hut auf und setzte ihn
Grace auf.
Sie gingen ins Haus. Über dem Wasser dämmerte
es, und es nahm einen perlmuttfarbenen Schimmer an. Aus dem Schilf
flog ein Entenpaar auf. Weiter draußen bewegte sich ein Segelboot
fast unmerklich über den Horizont, wie der Zeiger einer Uhr. Und
noch weiter entfernt ragten die Wolkenkratzer von Manhattan wie
eine große Kathedrale aus dem Meer auf.