38
Schon lange hatte Grace vergessen, was sie früher an Silvester gemacht hatte. In den Zwanzigern hatte sie sich oft damit amüsiert, bis zum elften Lebensjahr zurückzuverfolgen, was sie an diesem Abend mit wem unternommen hatte. Es war ein lustiges Spiel, eine Gedächtnisprüfung, eine Art Lebenslinie. Mit elf hatte ihr Vater die Familie nach New York gebracht, damit sie die Zeremonie auf dem Times Square sehen konnten. Jetzt lag sie hier im Dunkeln in ihrem Flanellpyjama und hoffte, dass ihr Kopf aufhören würde, sich zu drehen. Von allen Silvesterabenden ihres Lebens war der beste und kostbarste mit Gary vor vier Jahren gewesen.
Sie hatten nichts Besonderes gemacht, und es war auch nicht sonderlich erinnerungswürdig, nur ein Essen mit anschließenden Drinks in der Stadt. Grace hatte ein Kleid, die Perlenohrringe und das Rubinhalsband getragen, das Gary ihr geschenkt hatte. Sie hatten Austern gegessen und Champagner getrunken und sich sogar etwas gestritten, aber an den Grund konnte sie sich nicht mehr erinnern. Wie gut es mit ihm gewesen war, wie schön sich mit ihm leben ließ. Jetzt erst begriff sie den Unterschied zwischen der Solidität ihres echten Lebens und dem flüchtigen Schatten, dem Katzengold, das Echo Falls gewesen war. Sie zog das echte Dasein vor, auch wenn sie es nur einmal in ihrem Leben erfahren hatte. Illusionen waren etwas für Narren.
Dann sah sie draußen bunte Blitze und hörte ein lautes Krachen vom Segelclub her. Anschließend tuteten sämtliche Boote. Die Farben tanzten auf Grace’ Fensterscheibe wie auf einer riesigen Kinoleinwand.
Ihre Freundinnen schienen begriffen zu haben, wie wichtig es an einem solchen Abend der Illusionen war, praktisch zu bleiben. Grace war besonders stolz auf Cherry, die die Illusion des Abends als solche erkannt hatte: den Traum, am Silvesterabend den Lebenspartner zu treffen. Stattdessen hatte sie sich für die unvergleichlich befriedigendere Aufgabe entschieden, sich um Kranke zu kümmern, genau wie Grace am Thanksgiving-Festtag und an Weihnachten. Denn was war letztendlich lohnender und sinnvoller, als weniger Begünstigte zu trösten? Cherry würde gerade Auld Lang Syne mit den Patienten singen, die wach und gesund genug waren, um in die Halle gerollt zu werden. Dort wurde ein bisschen gefeiert, und man sah auf dem Fernseher zu, wie die große Uhr auf dem Times Square Mitternacht schlug. All diese Patienten würden die strahlende Südstaatenschönheit Cherry in Erinnerung behalten.
Joanne wusste inzwischen auch, dass sie sich besser nicht in Träume verstrickte. Der Captain war ebenso echt und verlässlich wie ein Baum. Grace wusste noch nicht, dass Joanne entgegen ihrer Hoffnung keinen mitternächtlichen Kuss vom Captain bekam. Entweder war er unwillig oder unfähig - oder beides -, seine Zuneigung öffentlich zu zeigen, besonders vor Connie Wilberson, die ihm mitten in einem Vortrag über die Paarungsgewohnheiten der Seeschildkröten mitgeteilt hatte, dass sie, wenn sie dreißig Jahre jünger wäre, sicher ein Auge auf ihn geworfen hätte. Als Eddie dem Captain weitere Anträge von Connie ersparte, indem er sie auf die Tanzfläche führte, als Billie Holliday »These Foolish Things« sang, schlenderte der Captain zum Ende der Theke, wo Joanne vor einem schal gewordenen Guinness saß. Sie hatte dem Captain in der vergangenen Stunde mehrfach verstohlene Blicke zugeworfen. »Ich schließe um zwei«, sagte er zu ihr. »Aber du kannst gern noch bleiben. Ich habe eine Flasche Wein, die ich aufmachen möchte, ein 06er Kosta Browne Pinot Noir aus Kalifornien. Preisgekrönt.« Darauf erwiderte Joanne, ja, das würde sie gerne, und lange nachdem Grace in einen tiefen und seltsam beruhigenden Schlaf gefallen war, tanzten der Captain und Joanne allein in der Bar vor der Jukebox. Sie umarmten einander reglos, wie das letzte Paar nach einem Tanzmarathon. Geküsst hatten sie sich noch nicht, auch nicht, als Joanne um fünf Uhr morgens aus der Tür taumelte. Doch sie hatte das Gefühl, dass sie mit dem Captain viel Spaß zu erwarten hatte. Hoag, der nun alles sehr langsam anging, hatte sie für morgen zu einem Trip zum Leuchtturm eingeladen.
Kurz nachdem Joanne in ihr Zimmer gepoltert und unmittelbar darauf in einen alkoholgeschwängerten Tiefschlaf gefallen war, wurde Grace durch ein Geräusch geweckt. Vor ihrem Fenster breitete sich das erste Morgenlicht aus. Sie lauschte einen Moment lang und vernahm durch die offene Tür das Schnarchen und Keuchen von Joanne nebenan. Aber dann hörte sie wieder jenes andere Geräusch. Irgendein Betrunkener spielte im Segelclub so etwas wie ein Akkordeon, und zwar sehr schlecht.
Grace setzte sich auf und blickte aus dem Fenster, das aufs Wasser ging. Da unten im Schilf saß jemand in einem Ruderboot und hatte die Hände um eine Mundharmonika gelegt. Grace blinzelte, um besser sehen zu können, und erkannte, dass der Möchtegern-Troubadour in einem dunklen Mantel und Schal einen Cowboyhut trug. Aufkeuchend schlug Grace die Hand vor den Mund. Sie brachte kein Wort heraus, sondern schnappte sich nur ihre Decke und rannte hinaus auf die Veranda, um besser sehen zu können.
»Grace!«, rief die Gestalt zu ihr herauf und nahm mit einem ehrfürchtigen Schwung den Hut ab.
»Matt?«, fragte Grace mit einer Stimme, die vor Staunen erstickt klang. Wie war er hergekommen? Woher wusste er, wo sie wohnte?
»He«, rief er. »Hast du schon was zum Frühstück vor?«
»Was machst du hier?«
»Bin nicht sicher«, rief er zurück. »Aber ich wünsche dir ein glückliches neues Jahr.«
Grace musste lachen. Sie konnte es immer noch nicht glauben. »Was ist denn mit deiner … Verlobten? Woher hast du das Boot?«
»Ich habe letzte Woche die Leute vom Segelclub angerufen. Ich habe ihnen gesagt, ich wollte die Frau überraschen, die ich liebe, und mir ein Ruderboot ausleihen.«
»Die Frau, die du liebst?«, fragte Grace. Sie fühlte sich wie in einem Nebel. Wie Matt, als er an jenem Tag im Krankenhaus aufwachte und sah, wie sich ihre Gestalt aus dem Nebel herauslöste.
»Ich hatte das schon eine Weile vor«, sagte Matt. »Muss mir im Traum eingefallen sein. Die Wahrheit ist, seitdem du Echo Falls verlassen hast, bin ich so traurig gewesen wie ein zeckenkranker Hund.«
»Ein was?«
Matt ruderte das Boot dichter heran, bis er ans schlammige Ufer stieß, nur wenige Meter von den Pfosten der Veranda entfernt. Dann stieg er aus dem Boot und versank mit seinen Stiefeln im kalten Schlamm. Er zog Handschuhe über und betrachtete den Pfosten.
»Was hast du vor?«, fragte Grace. »Ist schon eine Weile her, dass ich auf einen Baum geklettert bin«, erwiderte er und umklammerte dann den Pfosten mit beiden Händen, grub die Absätze in eine Kerbe im Holz und kletterte mit der Geschmeidigkeit eines Zehnjährigen hoch. Oben umklammerte er den Holzboden der Veranda, zog sich hoch und hielt sich an den Sprossen der Balustrade fest wie ein Tier im Käfig. Mit einem weiteren Schwung kletterte er über die Balustrade und stand einen Moment später vor Grace. Schüchtern lächelte er sie von unter der Hutkrempe her an. »Howdy, Grace.«
»Howdy, Matt«, sagte Grace.
Dann nahm er den Hut mit dem Schwung eines Cowboys ab, der nach einem Tag harter Arbeit nach Hause kommt, und umfasste Grace’ Schultern.
»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, sagte er. »Ich hätte nie nach Kalifornien fahren sollen.«
»Doch, natürlich«, erwiderte Grace. »Wie sonst hättest du es gemerkt?«
Matt dachte darüber nach. »Vermutlich musstest du auch ein paar Dinge herausfinden, oder?«
Grace nickte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut. Ab und zu bekomme ich Kopfschmerzen, und manchmal vergesse ich ein paar Wörter.« Er zuckte mit den Achseln und lächelte tapfer. »Es gibt Schlimmeres.«
»Ja«, erwiderte Grace. »Genau.«
Dann starrten sie einander verwundert an, bis in die Tiefen ihrer Seele. Matt trat auf sie zu. Grace regte sich nicht, sondern schloss bloß die Augen. Als sie Matts Lippen sanft wie eine Blüte auf ihrem Mund spürte, ließ sie sich fallen und atmete tief seinen Duft ein. Sie drängte sich dichter an ihn. Ihre Decke fiel zu Boden. Doch als sie die Hände um seinen Körper legte, spürte sie die kalte Januarbrise nicht mehr. Nach einer vollen Minute lösten sie sich voneinander und öffneten langsam die Augen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Grace. Sie hakte die Finger in seine Gürtelschlaufen.
»Danke, dass du hier warst«, sagte Matt.
Grace zog leicht an der Gürtelschlaufe. »Sollen wir hineingehen und Kaffee machen?«
»Das wäre schön«, sagte Matt.
»Vergiss deinen Hut nicht.«
Matt grinste, hob seinen Hut auf und setzte ihn Grace auf.
Sie gingen ins Haus. Über dem Wasser dämmerte es, und es nahm einen perlmuttfarbenen Schimmer an. Aus dem Schilf flog ein Entenpaar auf. Weiter draußen bewegte sich ein Segelboot fast unmerklich über den Horizont, wie der Zeiger einer Uhr. Und noch weiter entfernt ragten die Wolkenkratzer von Manhattan wie eine große Kathedrale aus dem Meer auf.
Schicksalspfad Roman
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